Am Ende der Grundschulzeit blicken Schulkinder auf vielfältige Erfahrungen, Freundschaften, Erlebnisse, aber auch auf Gelerntes zurück. Dazu gehört, wichtige Schritte in der Persönlichkeits- und Lernentwicklung gemacht zu haben. Über ihre gesamte Schulzeit hinweg lernen Grundschulkinder wesentliche fachliche und überfachliche Kompetenzen, die sie als Grundstein für ihr weiteres Leben und Lernen gut gebrauchen können. Bei dieser Art von Fähigkeiten, die eine Schlüsselfunktion für erfolgreiches Lernen und gesellschaftliche Teilhabe besitzen, ist die Rede von sogenannten Basiskompetenzen. Basiskompetenzen beschränken sich dabei nicht ausschließlich auf fachliche Kompetenzen, sondern können beispielsweise auch sozio-emotionale Fähigkeiten umfassen (z.B. SWK, 2022). Auch wenn die Debatte weiterhin darüber aussteht, was Schulpraxis, -forschung und -politik eigentlich unter „den Basiskompetenzen“ verstehen, gilt eine Kompetenz als wenig umstritten: Das Lesen.  

Das „Lesen lernen“ ist für viele Kinder zu Beginn der Schulzeit ein wichtiges Ziel, das bei einigen sogar Vorfreude und Neugier auslöst. Gute Lesefertigkeiten sind grundlegend, um geschriebene Informationen zu entschlüsseln, Texte zu verstehen und mit geschriebenen Informationen (z. B. Busfahrplänen oder Nachrichten) innerhalb und außerhalb der Schule kompetent umgehen zu können. Nicht ohne Grund steht das „Lesen lernen“ und das Erlernen wichtiger Vorläuferfähigkeiten, wie das Entziffern von Buchstaben und Wörtern, daher gleich zu Beginn der Schulzeit auf dem Stundenplan. Lesen bildet somit auch ein wichtiges Fundament für das weitere, zunehmend eigenständige Lernen. Im Idealfall sollten alle Kinder am Ende der Grundschulzeit erfolgreich Lesen gelernt haben, denn rudimentäre Lesefähigkeiten reichen am Ende der Grundschulzeit nicht mehr aus. Dazu gehört nicht nur flüssig lesen zu können, sondern auch selbstständig mit Textinformationen umgehen zu können. Deutlich wird, dass ein gewisses Mindestmaß an Lesekompetenz erforderlich ist, das von allen Grundschulkindern erreicht werden sollte.  

Zwei Fragen zur Basiskompetenz Lesen verlieren somit nicht an Relevanz oder Aktualität: 

  • Welche Lesefähigkeiten sollten alle Kinder am Ende der Grundschulzeit beherrschen? 
  • Wie gut schneiden die Kinder am Ende der Grundschulzeit im Lesen ab? 

Diese Fragen werden im Folgenden anhand von zwei prominenten Schulleistungsvergleichsstudien, der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung 2021 (kurz IGLU) und dem IQB-Bildungstrend 2021 beantwortet, an denen sich Deutschland im Rahmen des Bildungsmonitorings seit Jahrzehnten beteiligt.  

Mindeststandards im Lesen 

Um besser verstehen zu können, welche Lesekompetenzen Grundschulkinder in der vierten Jahrgangsstufe unbedingt erreichen sollten, lohnt sich ein Blick in bereits entwickelte Kompetenzstufenmodelle aus IGLU und dem IQB-Bildungstrend. Dort werden jeweils fünf Kompetenzstufen für Grundschulkinder in der vierten Klasse unterschieden. Die aufeinander aufbauenden Kompetenzstufen reichen von niedrigen Kompetenzstufen (rudimentäres Leseverständnis, z. B. Einzelinformationen im Text finden und wiedergeben) bis hin zu elaborierten Lesefähigkeiten (z. B. Textinformationen ordnen und textbezogene Aussagen begründen). Je mehr Punkte ein Kind im Lesekompetenztest erzielt, desto höher dessen Lesekompetenz bzw. die erreichte Kompetenzstufe.  

Wo liegt also der Mindeststandard im Lesen? In IGLU 2021 werden Kinder, die maximal Kompetenzstufe II erreichen, als schwache Leser:innen beschrieben. Diese Schüler:innen weisen niedrige Lesekompetenzen auf und verfehlen damit den international festgelegten Lese-Mindeststandard (Kompetenzstufe III „Verstreute Informationen miteinander verknüpfen“). Dieser Standard gilt als eine wichtige Voraussetzung, um erfolgreich vom „Lesen lernen“ in das „Lesen um zu lernen“ übergehen zu können (McElvany et al., 2023). Auch der IQB-Bildungstrend setzt einen vergleichbaren Mindeststandard im Lesen: Angelehnt an die KMK-Bildungsstandards sollten alle Grundschulkinder am Ende der Grundschulzeit mindestens dazu in der Lage sein, benachbarte Textinformationen eigenständig miteinander verknüpfen und einfache Schlussfolgerungen ziehen zu können (entspricht Kompetenzstufe II). Die Schlussfolgerung: Der Anteil der Schüler:innen, die die Mindeststandards im Lesen verfehlen, sollte so gering wie möglich sein. Wie gut schneiden Kinder am Ende ihrer Grundschulzeit also tatsächlich im Lesen ab?    

Lesekompetenzen von Grundschulkindern sinken 

Bereits im Herbst des vergangenen Jahres hatte der IQB-Bildungstrend 2021 auf zwei bundesweite Entwicklungen aufmerksam gemacht: 1. Die Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland haben sich im Zeitverlauf verschlechtert – die Lernrückstände entsprachen fast einem Drittel Schuljahr. 2. Die Zahl der leseschwachen Grundschulkinder, die nicht einmal Mindeststandards im Lesen erreichen (Kompetenzstufe II), ist gewachsen. Zu dieser Gruppe der leseschwachen Kinder gehörten in Deutschland knapp 20 % der Grundschulkinder. Damit war jedes fünfte Kind am Ende der Grundschulzeit nicht fähig, verstreute Textinformationen sinnvoll miteinander zu verknüpfen und mit Textinformationen eigenständig umzugehen. Im Vergleich zu 2016 waren es nochmals mehr Kinder, die die Mindeststandards im Lesen verfehlten. Darunter waren Kinder aus sozial benachteiligter Lage und Kinder mit Migrationshintergrund besonders stark vertreten. Die Entwicklung der sinkenden Lesekompetenzen zeichnete sich bereits vor der Coronapandemie ab. 

Auch die aktuell erschienene IGLU-Studie 2021 bestätigt den Abwärtstrend im Lesen: Rund 25 % der Viertklässler:innen in Deutschland sind schwach im Lesen – jedes vierte Kind verfehlt den internationalen Mindeststandard. Dieser Anteil ist im Vergleich zu vor noch 20 Jahren deutlich angestiegen (2001: 17.0 %). Im Zeitverlauf zeichnet sich allerdings ab, dass sich dieser negative Trend seit 2016 besonders deutlich zeigt. Grundschulkinder aus Familien mit geringem sozio-ökonomischen Status und aus Familien, die selten zuhause Deutsch sprechen, sind unter den leseschwachen Schüler:innen häufig vertreten. An der engen Kopplung des Bildungserfolgs an die soziale Herkunft der Kinder in Deutschland hat sich in den letzten 20 Jahren kaum etwas verändert.  

Das „Lesen lernen“ führt einen immer noch zu hohen Anteil an Kindern in eine Sackgasse. Die Ergebnisse der Schulleistungsvergleichsstudien machen betroffen, sowohl Eltern, Schulpraxis, Politik und Öffentlichkeit. Sie seien „alarmierend“ – es brauche eine Trendwende. Blickt man in der Bildungsbiografie leseschwacher Grundschulkinder nach vorne, so lässt sich zumindest annehmen, dass die Kompetenzrückstände in der vierten Klasse für fast jedes vierte Grundschulkind in Deutschland auch schlechte Vorzeichen für den Besuch der weiterführenden Schule bedeuten. Das Ende der Grundschulzeit kennzeichnet einen besonders kritischen Zeitpunkt, an dem erste Weichen für den weiteren Bildungsverlauf gestellt werden. Diese Weichen können beeinflusst werden, aber wohl kaum ohne ausreichende Ressourcen. 

Was folgt für Schule und Gesellschaft?  

Die Zahlen der Studien sprechen für sich: Zu viele Schüler:innen erreichen die Mindestanforderungen nicht. Das gilt aber nicht nur für das Lesen in der Grundschule, sondern auch für weitere lebensrelevanten Basiskompetenzen und für den weiterführenden Schulkontext (IQB-Bildungstrend 2018; PISA 2018). Zwar kann aufgrund mangelnder Bildungsverlaufsdaten nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob es sich bei den leistungsschwachen Schüler:innen in der Sekundarstufe tatsächlich um dieselben Individuen handelt, die bereits in der Grundschule Mindeststandards verfehlten, trotzdem gelingt es voraussichtlich nur den allerwenigsten Kindern und Jugendlichen Kompetenzrückstände ohne weitere Förderung erfolgreich im weiteren Bildungsverlauf auszugleichen. Auch die zuletzt veröffentlichten Zahlen zu den rund 47.500 Jugendlichen, die die Schule ganz ohne Schulabschluss trotz erfüllter Pflichtschulzeit verlassen und zu weiten Teilen wichtige Mindeststandards verfehlen, sind ein weiteres Indiz dafür, dass zu viele Schüler:innen ohne ein Mindestmaß an Basiskompetenzen die Schulzeit beenden (Klemm, 2023).  

Was bedeutet das für Schule, Politik und Gesellschaft? Erkennbar wird, dass es im Vergleich zu den vergangenen Jahren immer weniger gelingt, allen Kindern und Jugendlichen zentrale Fähigkeiten zu vermitteln. „Bei Mindeststandards handelt es sich um Anforderungen, die von allen Schüler:innen erreicht werden sollten – hierfür haben alle Akteursgruppen im Bildungssystem gemeinsam Sorge zu tragen.“ (IQB-Bildungstrend, 2022). Die Verantwortung liegt also nicht allein bei den Schulen. Wie kann sichergestellt werden, dass alle Kinder bestmöglich auf ihre Zukunft in der Gesellschaft vorbereitet werden? Was muss passieren, damit alle Kinder auch über die Grundschulzeit hinaus zentrale Basiskompetenzen erwerben und dabei ein Mindestniveau erreichen? Um insbesondere für leistungsschwache Kinder eine angemessene Förderung und Unterstützung innerhalb und außerhalb des Unterrichts zur Stärkung der Basiskompetenzen gewährleisten zu können, bedarf es guter schulischer Rahmenbedingungen und Priorisierung. Denn vielleicht gehört dabei auch dazu, grundlegende Fragen der schulischen Bildung erneut Gewicht zu verleihen: Auf welche fachlichen und überfachlichen Kompetenzen kommt es im Kern an, damit Kinder in der Schule und im späteren Leben gut lernen und leben können? Hier sollte der Fokus liegen. 

Um heute und in Zukunft an der Gesellschaft teilhaben und sie aktiv mitgestalten zu können, brauchen Kinder und Jugendliche Kompetenzen, die es ihnen ermöglichen, komplexe Sachverhalte zu verstehen, kritisch zu hinterfragen und verantwortungsbewusst durchs Leben zu gehen. Gerade in unserer sich rasant verändernden Welt, in der auch der Alltag von Kindern und Jugendlichen von einer Fülle an Informationen, zunehmender Digitalisierung und Technologisierung geprägt ist, kommt es immer weniger auf gelernte Inhalte oder reproduzierbares Wissen an, das nach Tests und Klassenarbeiten ohnehin oft schnell vergessen scheint. Um alle Kinder und Jugendlichen bestmöglich für ihr Leben zu wappnen, braucht es mehr als das: Ein gelungenes Zusammenspiel verschiedener fachlicher und überfachlicher Kompetenzen, um immer wieder flexibel auf neue Situationen reagieren und souverän mit ihnen umgehen zu können. Dabei darf keine Gruppe systematisch vernachlässigt werden, denn das hätte nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen. Der Erwerb von Basiskompetenzen ist dabei die zentrale Weichenstellung, der eben nicht dem Zufall oder dem Engagement einzelner Schulen und Lehrkräfte überlassen werden darf, sondern systematisch für alle Schüler:innen garantiert sein muss.  


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