Die Begriffe Digitalisierung und Digitalität sind viel diskutiert. Zentral in der gesellschaftlichen Bedeutung ist nicht die Technisierung verschiedenster Lebensbereiche, sondern es geht vielmehr um eine Kultur der Digitalität, in der wir leben. Felix Stalder, der diese Begrifflichkeit 2016 geprägt hat, unterscheidet beide Begriffe voneinander. Durch die Digitalisierung, also die Ausweitung digitaler Technologien, entstehen eine neue Infrastruktur und Ansprüche an gesellschaftliches Handeln, die weitreichende Veränderungen auslösen. Diese lassen sich als Digitalität beschreiben. Er beschreibt Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität als charakteristischen Formen der Kultur der Digitalität in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft.

Vergleichbar dazu hat sich durch heutige Technisierungsprozesse, die den Einsatz immer mehr und komplexerer digitaler Technologien beschreiben, auch eine neue Kultur in einer von diesen Digitalisierungsprozessen geprägten Gesellschaft, also eine Kultur der Digitalität, entwickelt. Tradierte, bestehende Kulturtechniken sind hiervon nahezu gänzlich durchdrungen.

Insbesondere für Schulen bedeutet diese Begegnung mit den Herausforderungen dieser Kultur der Digitalität nun ein notwendiges, zukunftsorientiertes Neu- und Umdenken. Es muss eine neue Art des Lehrens und Lernens entstehen, eine neue Lernkultur muss wachsen und sich entwickeln. In vielen Schulen allerdings stehen nicht die Ansprüche einer neuen Kultur, sondern leider eben jene Technisierungsprozesse im Vordergrund.
Im Grunde wird versucht, analoge Prozesse digital abzubilden: Statt einer Tafel wird ein Whiteboard an die Wand gehängt, Schüler:innen schreiben statt im Heft auf einem Tablet, Sitzordnung und strukturelle Abläufe des Unterrichts aber ändern sich nicht. Die sich notwendigerweise weiterzuentwickelnde Lernkultur bleibt unverändert.

Ein zentrales Merkmal der Kultur der Digitalität ist Gemeinschaftlichkeit. Unsere Welt wird in allen gesellschaftlichen und soziokulturellen Dimensionen zunehmend komplexer. Man schafft es als einzelne Person nicht mehr, dieser Komplexität Herr zu werden und diese Herausforderungen allein zu lösen. Stattdessen ist es vonnöten, kollaborativ in co-kreativen Prozessen zu arbeiten, um Lösungen gemeinschaftlich zu entwickeln. Die 21st-Century Skills bestehen daher nicht nur aus Allgemeinbildung und Kulturtechniken, die im Alltag Anwendung finden sollten, sondern fokussieren in den geforderten Kompetenzen insbesondere auch die sog. 4Ks und Charaktereigenschaften, die es zukünftig braucht, um sich in einer sich wandelnden Welt behaupten zu können. Kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation und Kollaboration müssen im Mittelpunkt zeitgemäßer Lehr- und Lernprozesse stehen. Insbesondere aber müssen wir als Lehrende verstehen, dass Charakterbildung wichtiger ist, denn je. Lernende, die neugierig sind, Initiative und Beharrlichkeit, aber auch Rückgrat zeigen, die anpassungsfähig sind und ein soziales Bewusstsein haben, werden mit der o. g. Komplexität der Herausforderungen zukünftig souverän umgehen können und vor allem Wege und Antworten auf diese Herausforderungen finden. In der Schule legen wir hierfür den Grundstein.

Die Ernst-Reuter-Schule in Karlsruhe ist eine Gemeinschaftsschule, die in ihrer Entwicklung auf die skizzierten Herausforderungen in allen Bereichen der Schulentwicklung reagiert. Dabei steht das individuelle Potenzial eines jeden Kindes im Vordergrund und soll entsprechend der eigenen Neigungen und Voraussetzungen gefördert und gefordert werden. Durch die Möglichkeit, selbstverantwortlich in variablen Gruppen zu lernen, werden die Schüler:innen insbesondere im kooperativen und kreativen Arbeiten gefördert, das täglich durch Lehrkräfte, die als beratende und unterstützende Mentor:innen und Lernbegleiter:innen fungieren, unterstützt wird. Im Mittelpunkt des Profils und der Philosophie der Ernst-Reuter-Schule steht somit die Erziehung zu selbstbewussten, verantwortungsvollen, fröhlichen und selbstwirksamen jungen Menschen.

Insbesondere vier Säulen des Schul- und Unterrichtslebens zeichnen die ERS in der täglichen Arbeit aus und unterscheidet sie von vielen anderen Schulen im Sekundarbereich.

L.E.B.E.N

Um Kindern die Möglichkeit zu eröffnen, zu eben jenen verantwortungsvollen und selbstbewussten Persönlichkeiten heranzuwachsen, braucht es Erfahrungen und zu lösende Herausforderungen im Bereich der sozialen und emotionalen Intelligenzförderung. Sozialkompetenzen müssen trainiert und aufgebaut werden. Dies geschieht am wirksamsten im Erproben dieser Kompetenzen in realen Lebenssituationen, in denen sich eine positive, innere Einstellung und Haltung aufbauen kann. Zwei Schulstunden pro  Woche nehmen daher alle Schüler:innen der ERS am Projektfach L.E.B.E.N. verpflichtend teil. Diese Projekte, wie die Übernahme eines Verantwortungsjobs (z. B. Unterstützungsarbeit in einem Seniorenheim), Arbeit an Themen innerhalb der Schulgemeinschaft oder der Gemeinde, können dabei innerhalb der Schule, aber auch außerhalb in der Gemeinde, bzw. im Quartier stattfinden.

TheA

Das Lernen der Zukunft muss mehrdimensional angelegt sein, um der Komplexität der Themen und Sachverhalte unserer Gesellschaft gerecht werden zu können. Ökonomische, ökologische, soziale und technische Zusammenhänge müssen also in den Vordergrund gerückt werden. Durch TheA (Themenorientiertes Arbeiten) haben die Kinder der ERS die Möglichkeit, zu diesen Themen gemeinsame Ideen und Lösungsstrategien zu entwickeln. Hierfür werden tradierte Fachstrukturen aufgebrochen. An einem Vormittag in der Woche beschäftigen sich die Schüler:innen mit acht Projekten, die sie mit ihren Gruppen aus nicht mehr als 14 Kindern nacheinander durchlaufen. Die Grundlage für die Konzeption der Inhalte von TheA sind dabei einerseits die Inhalte unterschiedlicher Fächer, die so entfrachtet und in die Projektarbeit überführt werden, andererseits die SDGs, also die 17 Nachhaltigkeitsziele, wie z. B. Klimawandel, Flucht und Migration, Armut und Hunger, etc. Die gemeinsame, gesellschaftliche Verantwortung wird durch TheA in den Mittelpunkt gerückt und gestärkt. Für die Kinder werden Momente der Selbstwirksamkeit eröffnet und die notwendige Übernahme von Verantwortung für ein gemeinsames Anliegen bestärkt.

Der Rote Salon

Kooperation, co-kreatives und partizipatives Arbeiten, gemeinsame Übernahme von Verantwortung und das Schließen von Kompromissen gehören zu wichtigen Kompetenzen für das 21. Jahrhundert. Der Rote Salon der ERS ist dabei ein Ort, an dem genau diese gemeinsamen Denk- und Entwicklungsprozesse ermöglicht werden sollen. Schüler:innen, Lehrkräfte, Eltern und Menschen aus dem eigenen Quartier, aber auch neugierige Menschen aus unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen kommen im Roten Salon zusammen und überlegen beispielsweise, wie die Schule positiv weiterentwickelt und gestaltet werden soll. Im Vorfeld können dafür Themenvorschläge eingereicht werden, die dann diskutiert werden sollen. Gemeinschaftlichkeit aller Gremien und das Auferlegen einer Selbstverpflichtung zur Durchsetzung der ausgehandelten Verabredungen und Ziele bilden dabei die Basis der Kultur des Roten Salons, der in regelmäßigen Abständen als Abendveranstaltung analog oder virtuell durchgeführt wird.

Lerninseln

Die Idee, Schule zu öffnen und außerschulische Lernorte zu erschließen, ist mit Sicherheit nicht neu, wurde aber durch die Pandemie beflügelt und verstärkt.
Die Schließung der Schule (besser der Schulgebäude) musste automatisch bedeuten, Schule endgültig nicht mehr als einen scheinbar statischen Ort, sondern als agilen Prozess zu verstehen, der eben auch an außerschulischen Lernorten stattfinden kann.
In vielen Elternhäusern gelang es, Homeoffice und Fernunterricht miteinander zu koordinieren. Gleichzeitig gab es aber auch viele Kinder, die keine ausreichenden Arbeitsbedingungen zuhause vorfanden. Mit dem Bekenntnis, den Schwächsten helfen zu müssen, entstand in der Ernst-Reuter-Schule daher das „Lerninsel“-Konzept mit der Idee, außerschulische Lernorte zu erschließen, in einer interaktiven Karte der Stadt zu verorten und via App buchbar zu machen. Dabei sollen schulische sowie außerschulische „Lerninseln“ sichtbar gemacht werden, um mit ihren vielfältigen Angeboten das Lernen in der „realen Welt“ zu ermöglichen.

Im Konzept unterschieden werden dabei fünf verschiedene Lerninsel-Typen:

Lerninsel – Typ 1:
„Orte der digitalen Teilhabe“
Lerninsel – Typ 2:
„MINT-Spaces
Lerninsel – Typ 3:
„Digitale Dritte Orte“
Lerninsel – Typ 4:
„Beteiligungsorte + MINT-Ausstellungsräume“
Lerninsel – Typ 5:
„Digitale Wissensräume“

Alle Lerninsel-Typen haben zum Ziel, Teilhabeprozesse in einer Kultur der Digitalität in einer guten infrastrukturellen Ausstattung und mit den Möglichkeiten zu gemeinschaftlichem, partizipativem und co-kreativem Arbeiten sowie einen Austausch zu ermöglichen. Dabei können sowohl leerstehende Cafés, Büro- und Gewerberäume, Räume in Jugendhäusern oder Sportvereinen, aber auch virtual spaces zu Lerninseln werden.
Auch hinsichtlich BNE bietet das Lerninselkonzept viele Ansätze. Alle Lerninseln basieren bspw. auf dem Ziel 4 „Hochwertige Bildung“ (weitere Informationen unter: www.lerninseln.com)

Schule muss in unserer heutigen, dynamisch-komplexen Zeit zusammenfassend mehr denn je als Ort verstanden werden, an dem Gemeinschaft gelebt und erfahren wird und Demokratieerziehung stattfindet. Wichtigstes Ziel dabei ist es, dass Schüler:innen sich selbst als Teil eines Veränderungsprozesses wahrnehmen und begreifen, um diesen aktiv mitzugestalten.


Zu diesem Beitrag liegen uns Kommentare einer Person aus Februar 2024 vor. Wir veröffentlichen diese Kommentare nicht, weil sie nicht zu einer weiterführenden Diskussion darüber beitragen, welche Wege Schulen einschlagen können, um Schüler:innen die Aneignung von Kompetenzen zu ermöglichen, die sie für das Lernen in einer Kultur der Digitalität benötigen. Bei unserer Entscheidung zur Nichtveröffentlichung beziehen wir uns auf die Netiquette der Bertelsmann Stiftung. Zugleich haben wir den Autor dieses Beitrags informiert.