Bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts war in Deutschland die klassische Halbtagsschule der Normalfall, Ganztagsschulen bildeten unter Deutschlands Schulen eine ganz kleine Minderheit – dazu habe ich in meinem Beitrag vom 23. Februar Genaueres berichtet. Erst das wachsende Interesse junger Familien und alleinerziehender Mütter führte zu einer verstärkten Nachfrage nach Ganztagsschulplätzen. Gestützt wurde diese Nachfrage insbesondere nach der 2001 erfolgten Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studie noch durch Hinweise darauf, dass Kinder und Jugendliche in Ganztagsschulen besser gefördert werden könnten. Auf den so entstandenen Nachfragedruck reagierten alle sechzehn Bundesländer in den beiden ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts mit einem Ausbau ihrer Ganztagsschulangebote. Treiber dieses Ausbaus war das 2003 von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte ‚Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung‘ (IZBB). Dieses Programm leitete eine Entwicklung ein, in deren Verlauf sich die Ganztagsschulbeteiligung von 2002 erst 9,8 Prozent bis 2020 auf 47,2 Prozent steigerte. Nachfolgend schaue ich diese Entwicklung genauer an und zeige, dass sich erstmalig seit 2003 eine Stagnation bzw. ein leichter Rückgang in der Ausbaugeschwindigkeit beobachten lässt, wenn man die jährlichen Veröffentlichungen der KMK zu ‚Allgemeinbildenden Schulen in Ganztagsform in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland‘ (zuletzt 2021a) in den Blick nimmt.

Ganztagsschulen in Deutschland: Zum Ausbaustand 2020/21

Den KMK-Statistiken zu den Ganztagsschulen in Deutschland ist eine Definition vorangestellt, der zu Folge Ganztagsschulen Schulen sind, bei denen im Primar- und Sekundarbereich I

  • mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot für die Schülerinnen und Schüler bereitgestellt wird, das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst;
  • an allen Tagen des Ganztagsschulbetriebs den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ein Mittagessen bereitgestellt wird;
  • die Ganztagsangebote unter der Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert und in enger Kooperation mit der Schulleitung durchgeführt werden sowie in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem Unterricht stehen.“ (KMK 2021a, S. 4).

Aktuell – also im Schuljahr 2020/21 – machen deutschlandweit mehr als zwei Drittel (71,5 Prozent) der allgemeinbildenden Schulen des Primar- und des Sekundarbereichs in diesem Sinne Ganztagsangebote: 72,9 Prozent aller öffentlichen Schulen und 58,7 Prozent der privaten Schulen. In Baden-Württemberg findet sich mit nur 43,3 Prozent aller allgemeinbildenden Schulen der geringste, in Sachsen mit 98,5 Prozent der höchste Anteil ganztägiger Schulen. Allerdings nehmen nicht alle Schülerinnen und Schüler der einzelnen Ganztagsschulen am Ganztagsunterricht teil, so erklärt sich, warum der Anteil der Ganztagsschülerinnen und -schüler an allen Schülerinnen und Schülern deutlich niedriger als der Anteil der Ganztagsschulen an allen Schulen ist: Knapp jeder zweite Schüler aus Primarstufe und Sekundarstufe I nimmt im Schuljahr 2020/21 am Ganztagsunterricht teil (genauer: 47,2 Prozent). Dabei sehen wir eine Spannweite von 17,3 Prozent in Bayern bis zu 93,9 Prozent in Hamburg. 21,2 Prozent aller Schüler der Primar- und Sekundarstufe I lernen dabei in gebundenen Ganztagsschulen (also in Schulen, in denen alle Schüler am Ganztag teilnehmen) und 26,0 Prozent in offenen Ganztagsschulen, in denen nur ein Teil der Schüler am Ganztagsbetrieb teilnimmt. Eine getrennte Betrachtung nach Schulstufen und Schulformen macht deutlich, dass der höchste Anteil von ganztägig lernenden Schüler:innen eine Gesamtschule besucht. (78,9 Prozent), in den Realschulen findet sich mit 22,8 Prozent der deutlich niedrigste Anteil.

Der Rückblick: Die Entwicklung von 2002/03 bis 2020/21

2002, im letzten Jahr vor Inkrafttreten des bereits erwähnten ‚Investitionsprogramms Bildung und Erziehung‘ (IZBB), besuchten erst 9,8 Prozent aller Schülerinnen und Schüler allgemein bildender Schulen Ganztagsschulen. Die ersten drei Jahre danach brachten bis 2005 eine Erhöhung auf 15,2 Prozent. In diesen Jahren stieg die Zahl der ganztägig unterrichteten und betreuten Kinder und Jugendlichen um 434.000, im Jahresdurchschnitt also um knapp 145.000. In den folgenden fünf Jahren steigerte sich das Ausbautempo: Von 2005 bis 2010 wuchs der Anteil von 15,2 auf 28,0 Prozent, um insgesamt 834.000, im Jahresdurchschnitt also um 167.000. In den darauf folgenden Jahren von 2010 bis 2015 verlangsamte sich das Wachstum von 28,0 auf 39,3 Prozent, mit einem Zuwachs der Zahl der Schülerinnen und Schüler um 679.000, im Jahresdurchschnitt also um 136.000. Die fünf Jahre danach brachten von 2016 bis 2020 einen weiteren Anstieg von 39,3 auf 47,2 Prozent. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler im Ganztagsunterricht wuchs in diesen vier Jahren um etwa 626.000, im Jahresdurchschnitt um 125.000. An der Entwicklung in diesem Zeitraum ist bemerkenswert, dass sich das jahresdurchschnittliche Wachstum deutlich verlangsamte: Von in der ersten der drei hier beobachteten Perioden 1,8 Prozent über jährlich 2,6 Prozent in der zweiten Periode über 2,3 Prozent in der dritten Periode bis zu nur noch 1,6 Prozent in der letzten Periode.

Von besonderem Interesse ist eine aktuelle Entwicklung: Während die Beteiligung am Ganztagsunterricht von Jahr zu Jahr kontinuierlich angestiegen ist – von 2002 erst 9,8 Prozent bis 2019 auf dann 47,9 Prozent – wurde im Schuljahr 2020/21 erstmals ein, wenn auch geringfügiger Rückgang beobachtet: bundesweit von 2019 noch 47,9 auf 2020 nur noch 47,2 Prozent. Dieser bundesdurchschnittliche Rückgang findet sich in der Hälfte aller Bundesländer. Eine genauere Betrachtung dieser Entwicklung zeigt, dass dieser bundesdurchschnittliche Rückgang nicht in den gebundenen Ganztagsschulen (2019/20 – 21,1 Prozent, 2020/21 – 21,2 Prozent), sondern in den offenen Ganztagsschulen stattgefunden hat: von 2019 im Bundesdurchschnitt 26,8 auf 2020 deutschlandweit 26,0 Prozent.

 

Der Ausblick: Stark steigende Schülerzahlen bis 2030/31

Der starke Geburtenanstieg der vergangenen Jahre in Verbindung mit einer hohen positiven Wanderungsbilanz in der Mitte der zehner Jahre hat dazu geführt, dass die Schülerzahlen in den zwanziger Jahren deutlich ansteigen werden (KMK 2021b). In den für die Ganztagsschulplanung relevanten Schulstufen der Primar- und der Sekundarstufe I sowie in den Förderschulen wird es vom Schuljahr 2020/21 bis zum Schuljahr 2030/31 zu einem Anstieg der Schülerzahlen um 904.000 kommen. Wenn im Schuljahr 2030/31 für 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Primar- und der Sekundarstufe I Ganztagsschulplätze zur Verfügung stehen sollen, muss bis dahin in der Primarstufe das Angebot an Ganztagsschulplätzen um knapp 1,2 Mio., das in den Schulen der Sekundarstufe I um gut 1,9 Mio. und das in den Förderschulen um etwa 106.000, insgesamt also um knapp 3,2 Mio. gesteigert werden. Bei Fortsetzung des Ausbautempos der vergangenen fünf Jahre von jährlich etwa 125.000 neuen Ganztagsschulplätzen würde die Zielmarke ‚80 Prozent‘ nach 26 Jahren erreicht!

Der Umsetzung einer an der 80-Prozent-Marke orientierten Ausweitung der Ganztagsschule steht neben dem starken Anstieg der Schülerzahlen während der zwanziger Jahre ein weiteres Hindernis im Wege: Ausweislich einer aktuellen Vorausberechnung der Kultusministerkonferenz (KMK 2020b) werden in den Jahren bis 2030 in den Bereichen der Primarstufe, der Sekundarstufe I und der Förderschulen bis 2030 insgesamt etwa 27.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen – gemessen an dem Lehrkräftebedarf, der auch schon ohne einen weiteren Ausbau der Ganztagsschulen seitens der KMK erwartet wird (KMK 2020 – eigene Berechnungen).

 

Literatur/Quellen

KMK (Kultusministerkonferenz) (2022): Schüler-/innen, Klassen, Lehrkräfte und Absolvierende der Schulen 2011 bis 2020. Berlin

KMK (2021a): Allgemeinbildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland – Statistik 2016 bis 2020. Berlin (und frühere Jahrgänge).

KMK (2021b): Vorausberechnung der Zahl der Schüler/-innen und Absolvierenden 2020 – 2035. Berlin

 

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