Die Medien berichten regelmäßig über ungleiche Bildungschancen – das Thema ist ein Dauerbrenner. In der öffentlichen Wahrnehmung scheint Deutschland an dieser Baustelle kaum voranzukommen – die ungleiche Verteilung von Bildungschancen ist und bleibt ein ungelöstes Problem im Bildungssystem. Gerade deshalb ist es wichtig, begriffliche Klarheit zu schaffen: Was bedeutet es, wenn Bildungschancen ungleich verteilt sind? Und es ist relevant zu verstehen, wo Veränderungen ansetzen müssen. Im Gespräch mit den Bildungsforschern Kai Maaz und Markus Lörz, die beide in der Ungleichheitsforschung im Bildungserwerb tätig sind, haben wir um Antworten auf wichtige Fragen zum Thema Bildungsungleichheit gebeten. 

Was wird grundsätzlich unter Bildungschancen verstanden? Wann sind Bildungschancen ungleich verteilt?

Die zentrale Aufgabe des Bildungssystems besteht darin, alle Schüler:innen in ihrer Entwicklung zu fördern und sie bei der Entfaltung ihrer Talente, Fähigkeiten und Persönlichkeit zu unterstützen. Von gleichen Bildungschancen spricht man dann, wenn allen Schüler*innen die gleichen Chancen auf den Lern- und Bildungserfolg geboten werden – unabhängig von Merkmalen wie Geschlecht, Herkunft, Glaube, Behinderung oder politischer Einstellung. Dieser Gedanke von Chancengleichheit ist bereits im Grundgesetz verankert. Ungleiche Bildungschancen liegen beispielsweise vor, wenn Kinder aus weniger privilegierten Familien trotz überdurchschnittlicher Leistungen seltener an die Gymnasien gelangen als Kinder aus privilegierten Familien mit demselben Leistungsvermögen. So liegt beispielsweise der Anteil von Akademikerkindern, die im Erwachsenenalter einen Hochschulabschluss erworben haben, mit 56 Prozent mehr als dreimal so hoch wie bei Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien (vgl. Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2024)

Welche Rolle spielt die soziale Herkunft für Bildungserfolg? Und wie sind Bildungschancen aktuell in Deutschland verteilt?

In Deutschland sind die Ungleichheiten nach sozialer Herkunft in der Bildungsbeteiligung und im Kompetenzerwerb nicht nur aktuell, sondern leider bereits seit vielen Jahren traditionell stark ausgeprägt. Kinder aus weniger privilegierten Familien gelangen deutlich seltener in die gymnasialen Bildungsgänge und wie die letzte PISA-Studie zeigt, bestehen auch in den Kompetenzbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften weiterhin gravierende Kompetenzunterschiede. Wie zuletzt auch der jüngst erschienene Bildungsbericht 2024 zeigt, ist beispielsweise die Entwicklung der Lesekompetenz sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich I anhaltend stark vom sozioökonomischen Hintergrund des Elternhauses abhängig (vgl. Autor:innengruppe Bildungsbericht 2024). Und auch in Mathematik und Naturwissenschaften bestehen gravierende Kompetenzunterschiede. Außerdem erhalten deutlich weniger Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien (ca. 32 %) eine Gymnasialempfehlung als jene aus privilegierten Elternhäusern (78 %). Unter Berücksichtigung von Noten und Leistungen verringert sich dieser Unterschied – gleichwohl sind auch diese beiden Faktoren von sozialer Ungleichheit bestimmt. Und auch die Entscheidungen zum Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen ist sozialen Differenzen unterworfen: Fast ein Fünftel aller Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien wechselt trotz Gymnasialempfehlung nicht an ein Gymnasium. In der Gruppe der „privilegierten“ Kinder liegt der Anteil mit 7 Prozent deutlich niedriger. Und schließlich werden schulbezogene Aktivitäten zu Hause und Freizeitaktivitäten mit einem Bildungsbezug häufiger von Jugendlichen aus akademischen Elternhäusern ausgeübt.

Welche Gründe gibt es für ungleiche Bildungschancen, zum Beispiel beim Übergang in das Gymnasium?

Die Ursachen für soziale Ungleichheiten beim Übergang ins Gymnasium sind vielfältig und reichen von leistungs- und motivationsbezogenen Unterschieden auf Schüler:innenebene, unterschiedlichen Lerngelegenheiten, Erwartungshaltungen und Unterstützungsmöglichkeiten auf Elternebene bis hin zu kleineren Bewertungsunterschieden auf Lehrer:innenebene. Auch der Zeitpunkt des Übergangs und die Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen im Sekundarschulbereich sind dabei entscheidend.
Bei der Frage, wer auf ein Gymnasium gelangt und wer nicht, sind aber am Ende die Leistungen der Kinder entscheidend. Und in diesem Punkt kann die Forschung sehr eindrücklich zeigen, dass die herkunftsspezifischen Leistungsunterschiede nicht erst im Schulsystem entstehen, sondern bereits vor Schulbeginn erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Herkunftsgruppen vorliegen. Die Kinder stehen demnach je nach sozialem Familienhintergrund bereits zu Schulbeginn vor höchst unterschiedlichen Eingangsbedingungen.

Welche Folgen haben diese Befunde für den weiteren Bildungs- und Berufsverlauf?

Für den weiteren Bildungs- und Berufsverlauf sind Bildungs- und daraus resultierende Kompetenzunterschiede in zweierlei Hinsicht relevant. Zum einen spielen Kompetenzunterschiede insbesondere beim Zugang zu besonders häufig nachgefragten und damit zulassungsbeschränkten Ausbildungs- und Studiengängen eine entscheidende Rolle. Dort erhält man nur einen Ausbildungsplatz bzw. Studienplatz, wenn die entsprechenden Kompetenzen und Zertifikate vorliegen. Zum anderen sind Kompetenzen für das erfolgreiche Absolvieren einer Ausbildung bzw. eines Studiums erforderlich. Wenn demnach soziale Ungleichheiten im Kompetenzerwerb bestehen und die Kinder unterschiedliche Bildungswege bestreiten, dann wirkt sich dies unmittelbar auf die beruflichen Karrierechancen aus. Und dies ist insbesondere in Deutschland ein Problem, da zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem eine enge Verknüpfung besteht und ungleiche Bildungschancen unmittelbar mit ungleichen Arbeits-, Lebens-, und Partizipationschancen verbunden sind.

Kleiner Teaser: Der Blogbeitrag der nächsten Woche von Prof. Kai Maaz und Markus Lörz beschäftigt sich mit der Frage, wie sich die soziale Ungleichheit im Bildungssystem seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 entwickelt hat. 


Literatur:

Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2024). Bildung in Deutschland 2024. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu beruflicher Bildung. wbv Publikation. 

Zur Studie „20 Jahre PISA: Soziale Ungleichheiten im Fokus“

 

Ähnliche Beiträge auf diesem Blog:

Entwicklung sozialer Bildungsungleichheit: Verbesserte oder verschlechterte Chancen?

Bildungsungleichheiten abbauen: Wie lassen sich Bildungschancen langfristig verbessern?