Bildungsstudien wie der Nationale Bildungsbericht, PISA, IGLU, TIMSS und co. zeigen immer wieder auf, dass die soziale Herkunft von Schüler:innen einen erheblichen Einfluss auf deren Bildungserfolg hat. Das Ergebnis: Junge Menschen aus sozial benachteiligten Familien schneiden in Leistungstests in Mathematik oder Lesen im Durchschnitt schlechter ab und besuchen seltener ein Gymnasium als Kinder und Jugendliche aus privilegierten Verhältnissen. Diese Kluft zeigt sich trotz verschiedener Bildungsreformen für die vergangenen Jahrzehnte. Uneinigkeit besteht allerdings hinsichtlich der Frage, wie sich die sozialen Ungleichheiten in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Was lässt sich anhand von Daten sagen: Haben soziale Ungleichheiten im Schulsystem zu- oder abgenommen? Im Gespräch mit den Bildungsforschern Kai Maaz und Markus Lörz, die beide im Bereich der Ungleichheitsforschung tätig sind, haben wir um Antworten auf wichtige Fragen zum Thema Bildungsungleichheit gebeten.  

Was weiß man darüber, wie sich die sozialen Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung in den letzten 20 Jahren verändert haben?

Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass sich im Zuge der Bildungsexpansion der Zugang zu den gymnasialen Bildungsgängen deutlich verbessert hat, aber die sozialen Unterschiede keineswegs ausgeräumt wurden. Während in den 1950er Jahren die Aufnahme eines Studiums lediglich einem kleinen Teil der Bevölkerung vorbehalten war, erhält mittlerweile etwa jeder Zweite mit der Studienberechtigung die Möglichkeit zu studieren. Im Bereich der gymnasialen Bildung ist demnach in den vergangenen Jahrzehnten eine massive Bildungsexpansion zu verzeichnen. Die Ungleichheiten nach sozialer Herkunft sind in dieser Zeit zwar nicht verschwunden, aber sie haben sich beim Zugang zu den Gymnasien tendenziell reduziert. Die Ungleichheitsforschung macht in diesem Zusammenhang aber auf zwei weitere Entwicklungen aufmerksam: Erstens geht mit der Abnahme sozialer Ungleichheiten in den frühen Bildungspassagen eine Zunahme sozialer Ungleichheiten in den späteren Bildungspassagen einher. Zweitens zeigen sich die sozialen Ungleichheiten mittlerweile auch in der Art der Bildungsbeteiligung, wie der Reputation des Bildungsortes, des angestrebten Berufsfeldes oder der im Rahmen des Bildungsweges gemachten internationalen Erfahrungen. Die Ungleichheitsmechanismen passen sich also über die Zeit an die veränderten Bedingungen an und nehmen mitunter neue Formen an.

Haben die sozialen Ungleichheiten im Kompetenzerwerb im Laufe der Zeit eher zu- oder abgenommen?

Die Forschung ist in diesem Punkt nicht ganz eindeutig – wenn man die sozialen Ungleichheiten in den Lese- und Mathematikkompetenzen von 2000 und 2018 vergleicht, dann könnte man zu dem Ergebnis gelangen, dass im Zuge der Bildungsexpansion auch die Kompetenzunterschiede zwischen den verschiedenen Herkunftsgruppen kleiner geworden sind. Genauer hingeschaut zeigt sich aber eine gegenläufige Entwicklung. So hat sich zu Beginn der 2000er Jahre die soziale Ungleichheit im Kompetenzerwerb zwar zunächst verringert, in den vergangenen zehn Jahren sind die Unterschiede allerdings wieder größer geworden. Dieser Befund gibt Anlass zur Sorge.

Unterschiedliche Bildungschancen trotz Bildungsexpansion: Welche Erklärung haben Sie für dieses auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Ergebnis?

So widersprüchlich ist das Bild von verbesserten Zugangswegen zu höherer Bildung bei gleichzeitig bestehenden Kompetenzunterschieden zwischen den verschiedenen Herkunftsgruppen nicht. Eine Verbesserung der Zugänge zu den gymnasialen Bildungsgängen reicht allein schlicht nicht aus, um soziale Ungleichheiten grundlegend auszuräumen. Vielmehr bedarf es auch innerhalb der Bildungsgänge gezielter Förderprogramme, um Kompetenzunterschiede frühzeitig erkennen und ausräumen zu können. Hierbei werden auch die Familien und die Kompetenzförderung vor Schulbeginn stärker in den Fokus rücken.

Darüber hinaus hat sich auch die Sozialstruktur in den vergangenen zwanzig Jahren massiv verändert. Wenn wir heute an einer Lösung herkunftsspezifischer Unterschiede arbeiten, dann müssen wir gleichzeitig die Unterschiede nach Migrationshintergrund der Schüler:innen im Blick behalten. Diese beiden Dimensionen sind eng miteinander verbunden.

Warum ist es überhaupt wichtig, sich die Entwicklung der sozialen Ungleichheit im Zeitverlauf anzuschauen?

Internationalisierung, Exzellenzinitiative, Digitalisierung, Corona-Pandemie und Finanzkrise: Die Bedingungen unter denen wir leben ändern sich ständig. Diese Veränderungen haben Auswirkungen für den gesamten Bildungsbereich. Sie bringen auch direkte Konsequenzen für den Lern- und Bildungserfolg der Schüler:innen mit sich. Um Antworten auf die Fragen geben zu können, wie gut das Bildungssystem mit den veränderten Bedingungen umgeht, und welche (un)intendierten Folgen die veränderten Bedingungen haben und welche Schüler:innen in welcher Weise von den Veränderungen betroffen sind, brauchen wir eine längerfristige Beobachtung. So lässt sich aus unserer Analyse sozialer Ungleichheit im Zeitverlauf aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen. Zum einen mit Blick auf ein spezifisches Ereignis und die Frage, welche Konsequenzen dieses für die soziale Ungleichheit hatte und zum anderen mit Blick auf die grundlegende Frage, ob wir uns hinsichtlich der gesellschaftlich gesteckten Ziele in die gewünschte Richtung entwickeln. Was wir also brauchen, ist eine Art kontinuierlicher Gradmesser zur sozialen Ungleichheit, um sicherzustellen, ob wir in Deutschland auf dem Weg zu einem chancengerechteren oder chancenungerechterem Bildungssystem befinden.

Kleiner Teaser: Nächste Woche geht es in einem weiteren Blogbeitrag von Prof. Kai Maaz und Markus Lörz um den Abbau von Bildungsungleichheiten und Möglichkeiten, Bildungschancen langfristig zu verbessern.  


Literatur:

Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2024). Bildung in Deutschland 2024. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu beruflicher Bildung. wbv Publikation. 

Zur Studie „20 Jahre PISA: Soziale Bildungsungleichheiten im Fokus“ 

 

Ähnliche Beiträge auf diesem Blog:

Ungleiche Bildungschancen – Blick auf das deutsche Schulsystem mit Kai Maaz und Markus Lörz

Bildungsungleichheiten abbauen: Wie lassen sich Bildungschancen langfristig verbessern?