Wie kann man Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen nachhaltig verbessern? Eine zentrale Antwort liegt in der Lesekompetenz, die die Grundlage für schulischen und gesellschaftlichen Erfolg bildet. Oliver Vorndran von der Reinhard Mohn Stiftung und Anika Krumhöfner, Mitarbeiterin beim Zentrum für Bildung und Chancen, geben Einblicke in das Projekt „Lies mit“. Sie berichten von der Entstehung des Konzepts, den ersten Erfolgen im Kreis Gütersloh und den Herausforderungen bei der Implementierung. Ein inspirierender Blick auf ein Projekt, das Schulen, Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler gleichermaßen bewegt.

Lieber Herr Vorndran, wann und wieso hat die Reinhard Mohn Stiftung sich dazu entschieden zum Thema Leseband zu arbeiten?

Oliver Vorndran (OV): Die Reinhard Mohn Stiftung setzt sich in OWL für die Chancengerechtigkeit von Kindern und Jugendlichen ein. Keine schulische Kompetenz ist dafür zentraler als die Lesekompetenz. Mit einem anderen Projekt waren wir an der Aufgabe, Lesekompetenz zu verbessern, allerdings schon einmal gescheitert. Insofern habe ich mich auf die Suche gemacht, welche praktisch erprobten und wissenschaftlich positiv evaluierten Projekte es 2020 in Deutschland gab. Im Kontext von BiSS sind wir dann auf das Leseband in Hamburg gestoßen.

In Hamburg gab es auch schon einen Einführungsfilm zum Leseband. Diese Idee wollten wir aufgreifen, um zu den fünf Lautleseverfahren Kurzfilme anzubieten. Eric Vaccaro, ehemaliger Kollege aus der Bertelsmann Stiftung, hat dann die Kontakte zu Dr. Juliane Dube und dem tollen Filmteam von Ben Lobgesang vermittelt. Damit hatten wir die Chance, die Idee auch umzusetzen. Inzwischen werden die Filme in Berlin, Bremen, Schleswig-Holstein und sogar auch in Luxemburg genutzt. Das ist eine echte Erfolgsstory.

Und ebenfalls in 2020 hatte Angela Müncher, Mitarbeiterin bei der Bertelsmann Stiftung, einen neuen Leitfaden zu wirksamer Lehrerfortbildung in Zusammenarbeit mit Prof. Frank Lipowsky und Daniela Rzejak veröffentlicht. Daher war uns schnell klar, dass wir diese Prinzipien anwenden wollten auf die Form der Lehrkräftefortbildung, die wir in „Lies mit“ nutzen wollten.

Wie ist „Lies mit“ in Gütersloh gestartet?

OV: Gestartet ist das Projekt Lies mit im Februar 2022 mit fünf Pilotschulen. Seitdem haben fünfzehn weitere Schulen in zwei Durchgängen teilgenommen bzw. sind noch im Prozess.

Das Projekt Lies mit soll zu einer kontinuierlichen Verbesserung von Bildungsgerechtigkeit und dem Ausbau von Bildungschancen beitragen. Es unterstützt Schülerinnen und Schülern, am schulischen und gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und es mitzugestalten.

Frau Krumhöfner, wie kommt das Leseband an die Schulen? Sprechen Sie gezielt Schulen an oder arbeiten Sie mit einer höheren Steuerungsebene?

Anika Krumhöfner (AK): Bei der Ansprache der Schulen arbeiten wir gemeinsam mit der Schulaufsicht, die neben dem Bildungsbüro des Kreises Gütersloh auch ein Teil der Steuergruppe in Lies mit ist. Über das Schulamt gehen die ersten Informationen zum Projekt schriftlich an die Schulen heraus. In einigen Fällen gibt es auch eine direkte Ansprache. Jeder Durchgang des Projektes startet mit einer sogenannten Informations- und Prüfveranstaltung, die wir als Zentrum für Bildung und Chancen gGmbH (eine gemeinnützige Tochter der Bertelsmann Stiftung und der Reinhard Mohn Stiftung) auch gemeinsam mit den Projektpartnern Schulaufsicht, Bildungsbüro und Reinhard Mohn Stiftung planen und durchführen. Natürlich passiert auch viel über „Mund-zu-Mund-Propaganda“ und die Schulen bekommen Informationen von Schulen, die bereits am Projekt teilgenommen haben.

Und dann? Welche Schritte müssen von der Ansprache bis zur Umsetzung des Lesebands gegangen werden?

AK: Nach der Informations- und Prüfveranstaltung überlegen die Verantwortlichen der Schulen noch einmal gezielt, ob sie zum jetzigen Zeitpunkt an dem Projekt Lies mit teilnehmen wollen. Hierzu gehört auch eine klare Entscheidung in der Lehrerkonferenz und eine Benennung einer/eines Projektverantwortlichen, die/der neben der Schulleitung Verantwortung für die Umsetzung des Projektes übernimmt. In einem Planungstreffen mit den Schulleitungen und den Projektverantwortlichen der teilnehmenden Schulen werden die vorbereitenden Schritte wie Terminplanung, Zusammensetzung der Fortbildungsteams, Vorbereitung zur Nutzung des Salzburger Lesescreenings in der Online-Variante (nachfolgend „Online-SLS“ genannt) und sonstige Planungs- und Organisationsfragen gemeinsam besprochen. Wichtig ist uns dabei, dass die Schulen durch die konkrete Terminierung aller im Projekt anfallenden Veranstaltungen und Maßnahmen für die nächsten 18 Monate Planungssicherheit haben und wir durch die Begleitung Fragen und Herausforderungen zeitnah begegnen können. In einer Kooperationsvereinbarung zwischen der Einzelschule und der Steuergruppe werden die Rollen und Aufgaben der Partner festgehalten und geben allen Beteiligten ein hohes Maß an Verbindlichkeit. Vor dem Start der Umsetzung von Lies mit mit den Schülerinnen und Schülern werden die Kollegien in einer Schulung für den Umgang mit dem Online-SLS geschult und der erste Fortbildungszyklus startet mit einem Blick auf die Leseflüssigkeit und der Methode des chorischen Lesens. Nach der Fortbildung, die in der Regel in der letzten Woche der Ferien stattfindet, können die Lehrkräfte direkt mit ihren Lerngruppen starten, da die Fortbildungsmodule so angelegt sind, dass die Kollegien Zeit haben, sowohl über die Organisation auf Schulebene zu sprechen als auch im Jahrgang zu überlegen, mit welchen Texten und wie sie die Umsetzung starten.

Wie reagieren Schulkollegien darauf, dass ein Leseband eingeführt wird? Gibt es Tipps, um das Kollegium von der Maßnahme zu überzeugen?

OV: Die Schulkollegien haben eindeutig positiv auf die Einführung des Lesebandes reagiert. Eine Grundbedingung für die Teilnahme an Lies mit ist, dass die Schulen in der Lehrerkonferenz einen Mehrheitsbeschluss herbeiführen. In den Kollegien gab es allenfalls vereinzelte Skeptiker, die häufig argumentierten, dass ihnen durch die Einführung eines verbindlichen Lesebandes Zeit in den Hauptfächern fehlen würde. Diese konnten jedoch schnell überzeugt werden. Ich vermute und das sind auch meine Tipps für die Überzeugungsarbeit in Schulkollegien, dass zum einen die schnell sichtbaren positiven Ergebnisse des Online-SLS sie überzeugt haben. Daneben waren aber sicher auch die direkten Rückmeldungen der Kinder, die sehr viel Spaß mit den Lesemethoden in der Lesezeit haben und die Lesezeit einfordern für die Lehrkräfte gute Argumente. Auch die Tatsache, dass die positive Entwicklung der Lesefähigkeit der Schülerinnen und Schüler schnell Auswirkungen auf den gesamten Schulalltag und alle Fächer hatte, trugen zur Akzeptanz bei den Lehrkräften bei.

Seitdem das Schulministerium im Oktober 2023 verfügt hat, dass an Schulen verbindlich drei Mal pro Woche eine Lesezeit eingeführt wird, hat das Projekt Lies mit zudem ministeriellen Rückenwind erhalten.

Liebe Frau Krumhöfner, welche Rolle nimmt das Zentrum für Bildung und Chancen nach der Einführung ein? In welcher Form begleiten Sie die Schulen?

AK: Die Schulen werden über die gesamten 18 Monate der Projektlaufzeit begleitet. Die Fortbildungs- und Reflexionsmodule sind das Herzstück des Projekts. Hier nehmen alle Lehrkräfte und zum Teil auch pädagogische Mitarbeitende aus dem Ganztag teil. Daneben gibt es Austauschtreffen für die Schulleitungen und Projektverantwortlichen. Dort besprechen wir konkrete Themen, die bei der nachhaltigen Umsetzung an den Schulen helfen. Dazu zählen der Umgang mit den Online-SLS-Daten, die Schaffung von Strukturen und die Beschaffung von Lesematerialien.

Neben diesen Formaten führen wir mit den Schulen zwei Schulgespräche während des Projektzeitraums durch. Das Halbzeitgespräch dient dazu, eine erste Bilanz zu ziehen und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Das Gespräch zum Projektende bietet uns die Möglichkeit, die Laufzeit Revue passieren zu lassen und gleichzeitig den Blick nach vorne zu richten: Wie wird das Leseband in der Schule implementiert? Hier bekommt die Steuergruppe wesentliche Rückmeldungen aus der Praxis für die Weiterentwicklung des Projekts.

Und wie sehen die Evaluationsergebnisse für den Kreis Gütersloh aus? Gibt es ein besonderes Erfolgserlebnis oder eine inspirierende Geschichte aus Ihrer Arbeit mit den Gütersloher Schulen, Herr Vorndran?

OV: Die Evaluationsergebnisse haben uns gezeigt, dass die Schülerinnen und Schüler sich innerhalb von 14 Monaten einen zusätzlichen Lerngewinn von ca. 8 Monaten „erlesen“. Bei den fünfzehn Schulen im ersten und zweiten Projektdurchgang erreichten die Kinder im Durchschnitt schon nach vier bis sechs Monaten Teilnahme am Leseband die Norm im Online-SLS.

Besonders erfreulich ist, dass alle Schülerinnen und Schüler von der Maßnahme profitieren und ihre Leseflüssigkeit verbessern.

 

Liebe Frau Krumhöfner, lieber Herr Vorndran, vielen Dank für das Interview!

 


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