Interview mit Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV)

Wie weit sind unsere Schulen von der Form individueller Förderung entfernt, wie wir sie uns heute wünschen?
Ich sehe uns da ziemlich weit entfernt. Das ist nicht nur eine Aufgabe für die nächsten Jahre, sondern für die nächsten Jahrzehnte. Die Entwicklung dahin muss zunächst einmal in unseren Köpfen passieren. Sie beginnt mit einem veränderten Denken und sie endet mit einer veränderten Gesellschaft. Der erste Schritt muss der sein, dass wir Heterogenität als Bereicherung und Anderssein als Chance begreifen. Vielfalt bringt mehr Leben in unsere Gesellschaft.
Dieses Denken ist aber nun leider überhaupt nicht weit verbreitet. Wir kommen gerade erst einmal dahin, anzuerkennen, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Wir brauchen  eine andere Willkommenskultur für Menschen aus anderen Ländern. Dann wird sich auch die Schule ändern und dann wird das Ganze ein positiver Kreislauf.
Hat es auch etwas damit zu tun, dass wir schulisch bisher eine Separationsgesellschaft sind?
Ja, die Skepsis gegenüber dem Anderen und Fremden hat viel damit zu tun, dass unsere Kinder schon früh erleben: Wer anders ist, muss raus. Wer schneller lernt, darf eine Klasse überspringen. Wer zu langsam ist, muss  wiederholen und am Ende der vierten Klasse kommt es dann ganz hart, da werden die Schüler in drei Begabungstypen aufgeteilt.
An dem Punkt fehlt mir dann jegliches Verständnis. Wer eine solche Unterteilung vornimmt, der hat einfach keine Ahnung und der hat auch nicht mitbekommen, was sich in den letzten fünf Jahren in der Hirnforschung getan hat.
Sie sprachen gerade die Hirnforschung an. Was meinen Sie damit?
Das Problem der bestehenden Schule mit ihrem vorhandenen Lehrpersonal liegt darin, dass alle mit dem Ziel groß geworden sind, möglichst homogene Gruppen zu bilden, um so vermeintlich optimal zu fördern. Das ist aber nicht mehr aktueller Stand der Erkenntnis, was Lernpsychologie und Hirnforschung betrifft. Zum einen ist es überhaupt nicht möglich, homogene Gruppen zu bilden, und zum anderen ist es auch nicht wünschenswert.
Selbst in der kleinsten Gruppe – und das sind zwei Personen – herrscht Heterogenität. Wenn nun die Schüler eines Jahrgangs auf drei Schularten verteilt werden, dann hat vor diesem Hintergrund jede einzelne dieser Schularten die höchstmögliche Heterogenität, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Wir tun aber so, als sei das homogen und als sei damit der Prozess der individuellen Förderung bereits vollbracht.
Individuelle Förderung bekomme ich nicht dadurch, dass ich – wie es bei uns im Schulsystem deutschlandweit passiert – den Paul mit der Sophie vergleiche und die Sophie mit der Emma. Individuelle Förderung heißt, dass ich den Paul mit dem Paul, die Sophie mit der Sophie und die Emma mit der Emma vergleiche: Und dann stelle ich fest, dass der Paul am 31. Januar 2011 einiges mehr kann als am 15. September 2010. Einige Dinge kann er aber noch nicht so richtig und genau da fängt jetzt die individuelle Förderung an.

 

 

Klaus Wenzel

Wie lässt sich individuelle Förderung im Schulalltag praktisch gestalten?
 
Intensive und individuelle Förderung ist zunächst einmal sehr kostspielig. Die Alternative dazu ist, dass wir die Kinder nicht individuell fördern und dass dann – wie es in unserem Schulsystem der Fall ist – jährlich 40.000 bis 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen. Und das wird dann richtig teuer. Das sind Beträge, die würde ich lieber ins Fundament unseres Bildungssystems stecken.
Zur Frage, wie individuelle Förderung aussieht: Wir müssen hier nichts neu erfinden. Es ist in der Pädagogik alles schon mal ausprobiert worden. Wenn wir wieder Paul, Sophie und Emma nehmen, so wird es für jeden der drei zunächst eine Eingangsdiagnose geben. Sie wird aber nicht von einem Lehrer, sondern von einem Schulpsychologen vorgenommen. Eine solche Diagnose ist dann die Basis für individuelle Lern- und Förderpläne, nach denen jedes einzelne Kind für sich arbeitet.
Im günstigsten Fall habe ich im Klassenzimmer auch noch eine zweite pädagogische Kraft, die die individuellen Entwicklungs- und Arbeitsprozesse beobachtet. Das ist  genau das, was die ganze Sache teuer macht. Aber ich habe ja nicht nur Paul, Sophie und Emma in der Klasse, sondern noch 15 oder 20 andere Kinder.
Wie verändert sich innerhalb dieses Prozesses die Rolle der Lehrkräfte?
Das ist im Rahmen der individuellen Förderung eine ganz entscheidende Frage. Wir brauchen hier dringend einen Paradigmen- und Perspektivenwechsel. Die einzelne Lehrperson muss aus der Rolle des Aktiven, des „Belehrers“ zurücktreten und muss mehr und mehr zum Beobachter, Begleiter und im Bedarfsfall zum Berater werden. Lernen ist ein aktiver Prozess. Ich kann als Lehrer nicht für meine Schüler und Schülerinnen lernen. Ich war selbst 34 Jahre Lehrer und habe lange Zeit erlebt, um wie viel erfolgreicher die Schüler sind, wenn ich IHNEN das Lernen überlasse.
Lehrer müssen sich von dieser immer noch weit verbreiteten Verkündigungskultur verabschieden. Sich selbst zum Beobachter, Begleiter und Berater zu machen, fällt den meisten Lehrern noch schwer – insbesondere vielen Gymnasiallehrern. Ich muss aber einräumen, dass es für einen Gymnasiallehrer auch wirklich schwer ist. Solche Prozesse brauchen nämlich Zeit. Und solange es gängige Praxis ist, dass ein Gymnasiallehrer nach 45 oder maximal 90 Minuten das Klassenzimmer wechselt, wird das schwerlich gelingen.
Für eine individuelle Förderung brauchen wir eine innere Reform des Gymnasiums. Das wird jedoch nicht so einfach werden, da wir uns lange mit der äußeren Reform zum Thema G8 rumgeschlagen haben. Darüber haben wir vergessen, dass wir auch die innere Struktur des Gymnasiums verändern müssen.
Positives Beispiel sind aber die Grundschulen in Deutschland. Grundschulen sind die eigentlichen Reformschulen. Hier wird zunehmend mit individuellem Blick gefördert – in der Regel aber leider weiterhin nur mit einer Fachkraft.
Was muss innerhalb der Lehrerausbildung geschehen? Müssen hier neue Kompetenzen erworben werden oder braucht es eine grundlegende Haltungsänderung?
Da gibt es kein Entweder-Oder. Beides ist wichtig. Die Fachwissenschaften dürfen hier nicht gegen die Erziehungswissenschaften oder umgekehrt ausgespielt werden. Beides muss sich ergänzen. Lehramtsanwärter brauchen in jedem Fall eine gut reflektierte Praxis bzw. Berufsfeldorientierung. Das kann ich mir im Laufe des Studiums aneignen. Die innere Haltung, die Art und Weise, wie ich zu Kindern in Beziehung trete, die muss ich allerdings schon in einem gewissen Umfang mitbringen. Da stehen besonders Kandidaten auf dem Prüfstand, die sich eher aus Verlegenheit für das Lehramtsstudium entschieden haben – weil für Medizin der NC nicht gepasst hat, weil Jura zu trocken schien oder weil Ingenieurwissenschaften schon vom Bruder studiert werden.
Muss vor dem Lehramtsstudium also die pädagogische Eignungsprüfung stehen?
Der Begriff Prüfung ist mir in diesem Kontext nicht treffend genug. Wir müssen die jungen Menschen in pädagogischen Kontexten beobachten. Ein gutes Beispiel dafür ist Finnland. Die Finnen haben im Lehramtsbereich einen sehr hohen Zulauf, was nicht zuletzt mit der viel höheren Wertschätzung zusammenhängt, die die Lehrer dort erfahren.
Bei einem so großen Andrang von Studierenden muss man sich in Sachen Zugangsmöglichkeit und Eignung etwas einfallen lassen. In Finnland gibt es dafür eine Art Beobachtungsprozess. Die Studierenden müssen zunächst auf einem Blatt Papier die Essenz eines pädagogischen Buches zusammenfassen. Dann gilt es, in fünf Minuten – und nicht mehr – überzeugend darzulegen, warum man unbedingt Lehrer werden möchte und nicht etwas anderes. In einem dritten Teil muss jeder Lehramtskandidat eine Gruppe von 6- bis 16-Jährigen über 48 Stunden betreuen. Dabei ist ihm die Art und Weise bzw. die „Programmgestaltung“ völlig selbst überlassen.
Damit habe ich noch keine klassische Eingangsprüfung absolviert. Ich werde aber als junger Mensch sowohl intellektuell wie auch persönlich in der Selbstpräsentation und im pädagogischen Praxiskontext so gefordert, dass sich ein schlüssiger erster Eindruck hinsichtlich meiner persönlichen Eignung für den Lehrerberuf ergibt. Ich kann nur allen Lehrerbildungseinrichtungen bei uns empfehlen, zumindest Teile eines solchen Konzeptes zu übernehmen.
Was muss ein Lehrer nun konkret können, um individuell zu fördern? Welche Kernkompetenzen braucht er?
Zum einen brauchen Lehrkräfte eine grundlegende Diagnosekompetenz. Die ist nicht in dem Maße vorhanden, als dass Lehrer beispielsweise zuverlässige und treffende Aussagen über die Lernentwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler machen könnten.
Die zweite zentrale Fähigkeit ist Lernkompetenz. Ich muss wissen, wie ich Lernprozesse so arrangiere, dass junge Leute nicht nur Lust darauf bekommen, sondern im Laufe des Prozesses zu nachhaltigen Ergebnissen kommen.
Schließlich brauche ich als Lehrer auch in hohem Maße Reflexionskompetenz. Aus totem Vorrats- und Faktenwissen wird bei den Schülern nur dann ein lebendiges und intelligentes Handlungswissen, wenn ich Reflexionsphasen zulasse. Dafür muss ich aber selbst wissen, wie gute Reflexion zu organisieren ist. Und ich muss wissen, wie weit die Fähigkeit zur Reflexion bei Kindern unterschiedlichen Alters sowie unterschiedlicher individueller Entwicklungsstufen vorhanden  ist.
Wie können diese Kompetenzen an einer Schule verankert werden? Reicht es aus, nur einige ausgewählte Lehrkräfte eines Kollegiums für die individuelle Förderung fortzubilden?
Nein, es muss eine schulhausinterne Fortbildung geben, an der das gesamte Kollegium beteiligt ist. Das ist vor allem mit Blick auf die eingangs erwähnte Veränderung im Denken wichtig. Alle pädagogisch wirksamen Kräfte im Schulhaus brauchen in gleichem Maße das Bewusstsein dafür, was individuelle Förderung bedeutet und was individuelle Förderung leistet.
Individuelle Förderung ist eben keine pädagogische Spezialdisziplin. Sie ist vielmehr die Grundlage eines Schul- und Bildungssystems, das wir als BLLV gerade ganz neu denken und gestalten. Das bedeutet dann insgesamt, dass wir mit der Ausgrenzung aufhören, dass wir uns um alle kümmern, dass keiner verloren geht und dass wir den Ehrgeiz haben, alle Schülerinnen und Schüler zu einem Abschluss zu führen. Genau das muss das Ziel sein. Nur so kommen wir zu einem Schulsystem, in dem Heterogenität als normal empfunden wird.
In der BLLV-Lehrerbefragung 2011 geben 98 Prozent der Befragten an, ihre Schüler individuell fördern zu wollen. Aber nur 26 Prozent halten die Realisierungsmöglichkeit für „gut“ bzw. „sehr gut“. Was steckt dahinter? Sind Pädagogen Pessimisten oder Realisten?
Dass hier eine so große Lücke klafft zwischen dem, was Lehrer wollen und dem, was sie für umsetzbar halten, hat auch damit zu tun, dass unsere Bildungspolitiker viel zu wenig wissen, wie Lernen funktioniert. In den Bildungsausschüssen sitzen Leute unterschiedlichster beruflicher Herkunft. Diese Form der Heterogenität ist zwar auch schön. Aber ich bräuchte wenigstens eine Handvoll Experten, die sich mit kindlichen Entwicklungsprozessen auskennen, die die aktuellen Befunde aus der Hirnforschung kennen und denen klar ist, wie individuelle Förderung aussehen kann – und dass die Verteilung auf parallele Schularten das Gegenteil von  individueller Förderung ist.