Interview mit Prof. Christian Fischer, wissenschaftlicher Leiter des Landeskompetenzzentrums für Individuelle Förderung in Münster         

Konnten Eltern eigentlich bisher nicht davon ausgehen, dass ihr Kind als „lernendes Individuum“ gesehen wurde? Was ist so „neu“ an der individuellen Förderung?
Im Rahmen der schulischen Qualitätsanalyse ist z. B. in Nordrhein-Westfalen festgestellt worden, dass die Unterrichtsentwicklung mit dem Ziel, individuell zu fördern, eine der größten Baustellen ist. Besonders in der Sekundarstufe I überwiegen immer noch Formen der direkten Unterweisung – Stichwort Frontalunterricht. Wir wissen heute einfach besser, wie wichtig es ist, das Unterrichtsangebot auf die individuellen Bedürfnisse und Leistungsstufen des einzelnen Schüles auszurichten.
Das erfordert natürlich eine gründliche Veränderung der Lehrerausbildung. Diagnostische Kompetenzen sind jetzt viel stärker gefragt. Lehrer müssen wissen, wie sie den individuellen Förderbedarf erkennen beziehungsweise feststellen. Daran schließt sich aber auch eine Erweiterung der didaktischen Kompetenzen an; also inwieweit der Unterricht den Förderbedarfen entspricht.
Welche Schulform hat im Bereich der individuellen Entwicklung den größten Nachholbedarf?

Prof. Christian Fischer
Prof. Christian Fischer

Grundschulen sind im Bereich der individuellen Förderung sehr viel moderner und fortgeschrittener als die weiterführenden Schulen. Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) hat aber gezeigt, dass in den Grundschulen zwar eine ausgeprägte Förderkultur existiert, was Kinder mit Lernschwierigkeiten betrifft. Es fehlt aber oftmals eine hinreichende Forderkultur mit Blick auf Kinder mit besonderen Begabungen oder besonderen Interessen. Tendenziell schaut man sich häufig nur die Randgruppen an, weil dort die Förder- und Forderbedarfe einfach klar erkennbar sind. In diesem Punkt müssen wir ganz klar umschwenken und dahin kommen, dass jedes einzelne Kind mit seinen Potenzialen und Bedarfen gesehen wird. Das gelingt über eine Eingangsdiagnose für Erstklässler, bei der bestenfalls auch die individuellen Interessen mit erfasst werden. Erst dann sind wir in der Lage, Unterricht auch inklusiv zu gestalten.
 

Wie lang ist der Weg, der hier noch vor uns liegt?
Es ist ein sehr weiter Weg. Der Begriff der individuellen Förderung wurde ja nicht durch die Wissenschaft geprägt, sondern 2001 durch das Forum Bildung. Ich bin nicht nur Pädagoge, sondern auch Psychologe, und habe zehn Jahre in der Einzelfallberatung gearbeitet. In der Psychologie gilt die Einzelfallhilfe als ideale Form der individuellen Förderung. Ein Mentor kann direkt auf die Anforderungen und Bedürfnisse eines Menschen eingehen. Genau das macht die Eins-zu-eins-Förderform so erfolgreich.
Ich weiß, dass es eine große Herausforderung ist, und es führt mitunter auch zu Frustration. Umso wichtiger ist es aber, darauf zu achten, wie wir die Entwicklung hin zur individuellen Förderung in der Praxis gestalten. Wir dürfen unsere Lehrkräfte nicht dadurch belasten und frustrieren, dass wir hehre pädagogische Ideale vor uns hertreiben, die aber in der schulischen Praxis mit den vorhandenen Ressourcen kaum umsetzbar sind.
Braucht der Weg vom Unterricht hinter verschlossener Klassentür bis hin zu Team-Teaching nur neue Kompetenzen?
Es braucht hier natürlich auch eine Haltungsänderung. Obwohl die Notwendigkeit dafür in der Lehrerausbildung erkannt wird, lässt sich eine Haltungsänderung nicht so einfach erreichen. Das hängt damit zusammen, dass die Lehrerausbildung immer noch zweiphasig ist. Dadurch haben wir einfach keine ausreichende Kopplung des theoretischen Wissens mit den praktischen Erfahrungen. Veränderte pädagogische Ansätze oder neue didaktische Verfahren können von den Studierenden nicht unmittelbar im Kontext von Schule erlebt oder erprobt werden. Noch ist es leider so, dass Studierende Lehramtsstudiengänge absolvieren können, die nicht wirklich zur Gestaltung von Praxis beitragen.
NRW geht hier einen sehr interessanten Weg, sowohl im Hinblick auf die Praxissemester als auch die Vereinheitlichung der Ausbildungslängen in den unterschiedlichen Lehrämtern und nicht zuletzt auch die Einführung eines Eignungspraktikums. Zunächst einmal stellt sich ja für jeden Studierenden die Frage, ob er überhaupt den Anforderungen und Belastungen einer Lehramtstätigkeit gewachsen ist. Das ist eine Frage der Lehrergesundheit, und für bestimmte Persönlichkeitstypen können wir schon sehr früh feststellen, dass  sie später im Berufsalltag große Probleme haben werden.
Darin liegt letztlich auch die größte Gefahr, wenn Theorie und Praxis so weit auseinanderliegen. Keinem ist gedient, wenn ein Lehramtskandidat erst nach mehreren Jahren des Theorie- und Fachstudiums feststellt, dass er den praktischen Anforderungen des Lehrerberufes nicht gewachsen ist.
Dann laufen unsere Lehramtskandidaten mit Eintritt ins Referendariat also weiterhin Gefahr, einen Praxisschock zu bekommen?
Absolut! Es gibt leider immer noch die Situation, dass Studierende in die zweite Phase ihrer Ausbildung wechseln und dann in der Schule den Satz hören: „Vergessen sie erst mal alles, was sie in der Hochschule gelernt haben. Jetzt geht die Praxis los.“ Wenn es uns so wenig gelingt, die erste und zweite Phase der Lehrerausbildung aufeinander abzustimmen, dann wundere ich mich nicht über die mangelnde Effizienz der gesamten Ausbildung.
Die Mediziner-Ausbildung ist für uns das beste Vorbild. Dort sind die klinischen Praxisanteile sehr hoch. Es wäre überhaupt nicht vorstellbar, den praktischen Anteil der medizinischen Ausbildung vollständig von der Theorie zu entkoppeln. Und genau so etwas versuchen wir auch an der Universität Münster für die Lehramtsstudierenden umzusetzen. Wir qualifizieren sie im Rahmen von Lehramtsveranstaltungen für bestimmte Projekte in der Praxis.
Nun werden den Studierenden schon heute Theorien und Erkenntnisse zur individuellen Förderung vermittelt. In der schulischen Praxis treffen sie aber auf Strukturen, die das noch gar nicht umsetzen oder die zumindest in den praktischen Möglichkeiten weit hinter der Theorie zurückbleiben. Wie lässt sich damit umgehen?
Das muss man für die große Masse der Studierenden erst mal so hinnehmen.  Aber die Schulen sind auf dem Weg. Die einen etwas bedächtiger und die anderen, wie vor allem die Reformschulen, in einem sehr guten Tempo. Wir selbst arbeiten in Münster bereits mit vielen innovativen Schulen zusammen, die sich hier unglaublich engagieren.
Und man darf aber auch nicht glauben, dass die Lehrerausbildung inhaltlich und didaktisch schon weit voraus wäre. Die Lehrerausbildung ist mit ihren zahlreichen Disziplinen und Schulstufen doch sehr vielschichtig. Und wir sind weit davon entfernt, dass individuelle Förderung ein Thema ist, welches die Lehrerausbildung als Ganzes bereits vollkommen durchdrungen hätte. Individuelle Förderung ist längst noch nicht da, wo wir sie brauchen.
Welche Rahmenbedingungen brauchen wir in der Schule, damit individuelle Förderung gelingt?
Zunächst einmal müssen wir die Rolle des Lehrers neu setzen und verstehen: weg von dem rein Lehrenden und hin zum Lernbegleiter bzw. Lernberater. Wir brauchen keine einseitigen Wissensvermittler, sondern Mentoren, die Lernprozesse steuern und begleiten. Wenn wir von dieser erweiterten Lehrerrolle aus weiterdenken, dann erhält die pädagogische Diagnostik eine viel größere Bedeutung. Dabei müssen wir zum Beispiel versuchen, Lernausgangsvoraussetzungen nicht nur durch Beobachtung, sondern durch Testverfahren zu ermitteln. Ein zweiter Schritt geht in Richtung erweiterter didaktischer Ansätze, wie zum Beispiel verstärkter Projektarbeit, Freiarbeit, kooperatives Lernen usw.
Damit aber aus dem klassischen Lehrer mehr und mehr ein Lernbegleiter und Moderator von Lernprozessen wird, müssen Studierende die dafür notwendigen Fähigkeiten trainieren. Bei uns an der Uni bedeutet das, dass wir neben den diagnostischen und didaktischen auch kommunikative Kompetenzen vermitteln. Das geht dann in der Form wieder in Richtung Schule, als dass wir hier eine entsprechende Aufgeschlossenheit für die erweiterte Lehrerrolle brauchen, damit das Erlernte in der Praxis auch umgesetzt werden kann.
An welcher Stelle können Schule und das Bildungssystem Lehrer darin unterstützen, individuelle Förderung zu betreiben?
Zunächst einmal brauchen wir personelle Unterstützung zur Bildung multiprofessioneller Teams, wie wir sie aus den skandinavischen Ländern kennen. Das setzt aber voraus, dass sowohl diese Teams als auch die Fachpädagogen untereinander überhaupt gemeinsam arbeiten können. Wenn mehrere Lehrkräfte am Unterricht beteiligt sind, dann müssen sie diesen Unterricht zunächst einmal vorbereiten und gestalten. Viele Schulen bieten schon dafür keine Möglichkeiten. So fehlt es an festen Arbeitsplätzen innerhalb der Schule, an denen eine gemeinsame Unterrichtsvorbereitung stattfinden könnte. Schon diese – eher formale – Rahmenbedingung würde für den einzelnen Lehrer eine große Entlastung bedeuten.
Wenn wir das Stichwort Entlastung schließlich im Zusammenhang mit individueller Förderung aufgreifen, dann muss auch für die Anfänger in der dritten Ausbildungsphase eine Entlastung geschaffen werden. Das beinhaltet sowohl eine Stundenreduktion als auch eine systematische Anleitung innerhalb der Eingangsphase.
Wie sieht es mit der Ressourcenverteilung zwischen den einzelnen Schulen aus: Muss diese paritätisch geregelt werden oder ist es wichtig, auch an dieser Stelle heterogenen Ansprüchen gerecht zu werden?
Das muss in jedem Fall bedarfsgerecht erfolgen. Auch im schulischen Vergleich treffen wir auf unterschiedliche Situationen und institutionelle Voraussetzungen. Da ist eine Schule im sozial schwachen Stadtteil ganz anders zu unterstützen und mit Ressourcen zu versehen als es eine starke Schule verlangt. Neben der Frage nach den verfügbaren Ressourcen ist es aber durchaus auch eine Frage der Fantasie und Kreativität, wie mit den unterschiedlichen Situationen umgegangen wird. Das erleben wir zum Beispiel an Schulen aus Problemstadtteilen, wie in Berlin-Neukölln. Hier wird jenseits der Frage nach Ressourcen eine ungeheure Kreativität entwickelt, vor allem, was den Umgang mit Schülern geht. Schon jetzt sind die Lehrer an diesen Schulen mehr Sozialpädagogen als Vermittler von Fachinhalten. Solche Lehrkräfte sind wichtig, auch wenn es um die Auflösung der Hauptschulen geht. Dann stellt sich nämlich die Frage, wie sich auf einmal alle Schüler zusammenführen lassen. So was regeln Sie dann nicht mehr über fachliche Kompetenzen.