Die Grundschule Berg Fidel ist eine inklusive Ganztagsschule im sozialen Brennpunkt. Mit altersgemischten Klassen, individueller Förderung, einem rhythmisierten Schultag und multiprofessionellen Teams versucht sie sich auf die Vielfalt der Kinder einzustellen.

Eine starke Gemeinschaft: die Sonnenblumenklasse
Eine starke Gemeinschaft: die Sonnenblumenklasse

Paul, Burak und Oleg sind dicke Freunde – und sie verbringen fast den ganzen Tag miteinander. Gemeinsam mit 21 anderen Jungen und Mädchen gehen sie in die Sonnenblumenklasse der Grundschule Berg Fidel. Die Schule ist eine inklusive Gemeinschaftsgrundschule mit Ganztagszweig* im sozialen Brennpunkt. Kinder aus mehr als 30 Nationen leben in Berg Fidel, einer Hochhaus-Trabantenstadt in Münster, deren fröhlich klingender Name nicht über die schwierige Situation im Stadtteil hinwegtäuschen kann. Umso wichtiger ist es für die Kinder im Viertel, dass die Grundschule ein sicherer Anlaufpunkt ist: Alle Kinder im Umfeld der Schule werden unabhängig von Leistung, kulturellem oder sozialem Hintergrund oder Handicap aufgenommen und an der Schule willkommen geheißen. So beträgt der Anteil der Kinder mit ausländischen Wurzeln ca. 60 Prozent. Rund 40 Prozent der Familien beziehen Sozialleistungen und fast jedes vierte Kind hat einen diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf. Trotz – oder vielleicht auch wegen dieser Vielfalt – gehen Burak, Oleg und Paul gern in die Grundschule Berg Fidel. Denn sie erleben die Schule als einen Ort, an dem sie ernst genommen, gefordert und ihre Leistungen wertgeschätzt werden. Hier finden sie Verlässlichkeit und feste Strukturen vor, die sie in dieser Form zuhause nicht immer haben. Möglich wird dies unter anderem durch eine besondere Art des Ganztags, die dafür sorgt, dass die Schule zum Lern- und Lebensraum wird und die Kinder ihre Begabungen entfalten können.
Rhythmisierung an der Grundschule Berg Fidel
Rhythmisierung an der Grundschule Berg Fidel

Ganztag bedeutet für Paul, Oleg und Burak und die anderen Kinder der Sonnenblumenklasse nicht nur, dass für sie von Montag bis Donnerstag die verbindlichen Schulzeiten von 8.00 bis 15.30 Uhr gelten und sie über den Unterricht hinaus gehende Bildungsangebote nutzen können. Vielmehr werden die Kinder in Berg Fidel ganztägig „rhythmisiert“ unterrichtet – d. h. es wird großer Wert darauf gelegt, dass sich Phasen der Spannung und Entspannung über den Tag abwechseln und Vor-und Nachmittagsunterricht sinnvoll aufeinander abgestimmt sind. Ein Blick auf den Stundenplan der Sonnenblumenklasse zeigt, dass es klassische Unterrichtseinheiten im 45-Minuten-Takt gar nicht mehr gibt. Dafür gibt es Zeit für Projekte, freies oder gelenktes Arbeiten, vielfältige Einzel-, Paar- oder Gruppenarbeit. Der Stundenplan wird so gestaltet, dass es möglichst lange Phasen ohne Unterbrechung gibt (vgl. Abbildung 1).
Zur Rhythmisierung gehört aber auch, dass die Pädagogen an der Schule versuchen, der individuellen Leistungsfähigkeit der Kinder Rechnung zu tragen: Wenn Barbara Wenders, die Klassenlehrerin der Sonnenblumenklasse, merkt, dass sich Paul und Oleg nach 30 Minuten intensiven Arbeitens an ihrem Schreiblehrgang nicht mehr richtig konzentrieren können und immer zappeliger werden, lässt sie die beiden auch schon mal fünf Runden um den Schulhof drehen. Oder sie dürfen sich kurz auf der Schaukel im Innenhof austoben. Anschließend können sie dann wieder konzentriert arbeiten und die Zeit effektiv nutzen.
Der Ganztag wirkt sich auch auf das Raumkonzept der Schule aus. Die Sonnenblumenklasse hat Verantwortung für zwei Räume. In dem einen Raum finden vorwiegend ruhigere Aktivitäten statt: konzentrierte und gelenkte Arbeit sowie Frühstück und Mittagessen. Das Mittagessen wird ganz bewusst nicht in einem großen Speisesaal, sondern im Klassenzimmer eingenommen. So kann das Gefühl der Verlässlichkeit und Zugehörigkeit zur Klassengemeinschaft gestärkt werden. Im zweiten Raum ist es auch mal laut, es wird gebaut, in Gruppen gearbeitet und gespielt. Hier werden die Kinder morgens auch von ihrer Klassenlehrerin begrüßt, wenn sie in der Schule eintreffen. Die erfahrene Pädagogin findet schnell heraus, wie es um die Stimmung der Kinder bestellt ist und kann ihnen beim Start in den Schultag helfen.
Während die Unterschiedlichkeit der Schüler häufig als Belastung, zumindest aber als große Herausforderung gesehen wird, kann eine Klasse in den Augen von Schulleiter Reinhard Stähling gar nicht heterogen genug sein. 2002 haben sich die Mitarbeiter der Grundschule gemeinsam mit den Eltern ganz bewusst für den jahrgangsübergreifenden Unterricht entschieden. Die Kinder des ersten, zweiten, dritten und vierten Jahrgangs lernen und leben seitdem an der Grundschule Berg Fidel zusammen in einer Klasse. So besucht Paul aus der Sonnenblumenklasse die Schule bereits im vierten Jahr. Justin, sein „Patenkind“, ist erst nach den letzten Sommerferien eingeschult worden. „Durch die Altersmischung wird die Heterogenität in der Klasse weiter erhöht, und genau das erlaubt einen präziseren Blick auf das einzelne Kind, seine Stärken, seinen Lernfortschritt. In alters- und leistungshomogeneren Klassen ist es viel schwieriger, die unterschiedlichen Entwicklungsstände der Kinder differenziert wahrzunehmen und sie angemessen zu fördern und zu fordern“, betont Stähling. Ein weiterer positiver Aspekt des gemeinsamen Lernens in altersgemischten Gruppen ist laut Stähling, dass der Leistungsvergleich der Gleichaltrigen in den Hintergrund gerät und an Einfluss auf die Gruppenprozesse verliert. Es gibt weniger Konkurrenz und Wettbewerbsdruck, dafür mehr Ermutigung. Die Kinder lernen vermehrt von- und miteinander, sie helfen sich gegenseitig – zum Beispiel im Fach Mathematik. Damit das möglich wird, braucht es gemeinsame Lerngelegenheiten, die von Kindern unterschiedlicher Jahrgänge bearbeitet werden können. In Mathematik ist das aktuelle gemeinsame Thema z. B. das „Teilen“ (Division im Zahlenraum bis 100, bis 1000, mit Rest etc.).
freies Arbeiten in der Sonneblumenklasse
freies Arbeiten in der Sonneblumenklasse

Einen festen Platz im Stundenplan hat das freie Arbeiten. Grundlage des freien Arbeitens ist das individuelle, kooperative und selbstverantwortliche Lernen. Wenn die Kinder der Sonnenblumenklasse morgens in die Schule kommen, arbeiten sie in Mathe, Deutsch und Englisch selbstständig und kontinuierlich an ihren Materialien weiter. Die Materialien bauen modular aufeinander auf und erlauben es den Kindern, ihrem eigenen Entwicklungsstand entsprechend im eigenen Lerntempo individuell fortzuschreiten. Es gibt kein Lernen im Gleichschritt mehr. Schnellere Lerner wie Oleg können an schwierigeren Fragestellungen arbeiten, langsamere Kinder bekommen mehr Zeit. Die Lehrkräfte unterstützen bei Bedarf – und haben dadurch die Möglichkeit, speziell auf die Fragen einzelner Kinder einzugehen. Die Module werden mit einem Test abgeschlossen, wobei die Schüler den Zeitpunkt selbst bestimmen können.
Die Freien Forscher Clubs (FFC) sind Teil der Projektarbeit. Hier geht es um Selbstorganisation, Eigenverantwortung, Teamarbeit und praktisches Lernen. Die Forscher Clubs arbeiten über mehrere Wochen in Kleingruppen an Fragestellungen, die die Schüler besonders interessieren. In der Sonnenblumenklasse stehen derzeit Tiere und Berufe ganz oben auf der Liste der beliebten Themen: Max arbeitet mit zwei Mitschülern am Thema „Spinnen“. Ayla, Michelle und Sara sind von Chamäleons fasziniert und wollen alles über die rätselhaften Reptilien in Erfahrung bringen. Dazu entwickeln sie zunächst Fragen, auf die sie in den nächsten Tagen und Wochen eine Antwort finden möchten. Dann sucht die Gruppe nach geeignetem Material; sie recherchiert in der Bibliothek oder im Internet und befragt Experten, wie zum Beispiel den auskunftsfreudigen Angestellten einer Zoohandlung in der Innenstadt. Ayla, Michelle und Sara besuchen ihn in seinem Geschäft und interviewen ihn zur Lebensweise der exotischen Tiere. Eine andere Gruppe hat gerade eine Exkursion zur Münsteraner Feuerwehr gemacht. Die Ergebnisse der Recherche halten die Gruppen schriftlich fest und erstellen daraus ein Plakat. Die Gruppe präsentiert ihre Ergebnisse schließlich vor der gesamten Klasse. Ganz gleich ob freies Arbeiten, Projektarbeit, Kurs oder Werkstatt – regelmäßig reflektieren die Schüler im Gespräch mit den Lehrkräften, was und wie sie gelernt haben und welche Ziele sie sich für die nächste Zeit setzen. Dabei lernen sie auch, ihre Anstrengungen und Erfolge zu würdigen.
Ein solcher Unterricht ist sehr voraussetzungsreich und von einer einzelnen Lehrkraft allein kaum zu stemmen. Darum wird jede der vier Ganztagsklassen von einem ständigen pädagogischen Team begleitet, das sich aus Mitarbeitern unterschiedlicher Professionen zusammensetzt. Im Team der Sonnenblumenklasse arbeiten neben Barbara Wenders (Klassenlehrerin und Sonderpädagogin) und Reinhard Stähling (Lehrer und Schulleiter) noch eine Erzieherin mit halber Stundenzahl, eine Integrationshelferin sowie drei pädagogische Mitarbeiterinnen mit je 7,5 Wochenstunden. Sie sind meist Studenten und machen zusätzlich ihre schulpraktischen Studien und Praktika an der  Grundschule Berg Fidel. Im Idealfall bleibt das Kern-Team während der gesamten Grundschulzeit mit einer Klasse zusammen, damit die Kinder verlässliche Bezugspersonen erleben. Der rhythmisierte Tages- und Wochenablauf, die Projekte, die Lernmethoden und Unterrichtsinhalte werden in wöchentlichen Teamsitzungen geplant und vorbereitet. Nicht mehr die Einzelkämpferin bestimmt die Grundschularbeit, sondern das Team. Zur Stützung der multiprofessionellen Zusammenarbeit wird für alle Teams der Grundschule Berg Fidel alle sechs Wochen eine Teamsupervision durchgeführt. Die gemeinsame Verantwortlichkeit durch feste Teams und durch die beständige Gruppe der Kinder gewährleistet, dass die unterschiedlichen individuellen Begabungen erkannt und gezielt gefördert werden können.
Der Ganztag an der Grundschule Berg Fidel ist weit mehr als Unterricht – dazu gehört auch Brötchen backen, heilpädagogisches Reiten und Voltigieren, Zirkustraining und Musik. Die rund 15 Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag führen zumeist Mitarbeiter der Schule durch, zum Teil aber auch Eltern, Sportvereine, Kirchengemeinden oder das Stadtteilzentrum „Lorenz Süd“. In der schuleigenen Forscherwerkstatt findet eine Technik-AG statt, eine andere AG pflegt Tiere im Terrarium, eine weitere gibt die „Bergzwerge“-Schülerzeitung heraus. AGs müssen auch nicht im Schulgebäude stattfinden, wenn bessere Räume im „Lorenz“ zur Verfügung stehen. So können Kinder in der Fahrradwerkstatt Reparaturen ihrer Räder unter Anleitung selbst vornehmen.
Im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit den anderen Bildungseinrichtungen im Stadtteil hat die Schule unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Die Kooperation mit den drei Kindertagesstätten in der Umgebung funktioniert laut Reinhard Stähling ganz ausgezeichnet. „Die Übergänge zu weiterführenden Schulen stellen sich jedoch häufig als Barriere dar – insbesondere für Kinder mit besonderen Begabungen oder Entwicklungsverzögerungen“, sagt Stähling. Der Schulleiter hat darum eine ganz besondere Vorstellung davon, wie die Übergänge für die Kinder in Zukunft besser gestaltet werden können: Er möchte seine Schule zu einer inklusiven Modellschule machen, in der die Schüler bis zum Schulabschluss, d. h. wenn möglich sogar bis zum Abitur begleitet werden. Damit trifft er bei Eltern und Mitarbeitern seiner Schule auf offene Ohren. Die Schulkonferenz hat unlängst einstimmig beschlossen, dass sie an den Rat den Antrag stellt, die Grundschule zu einer „Modellschule 1-13 Berg-Fidel“ auszubauen. Paul, Burak und Oleg jedenfalls würden gern bis zum Ende der Schulzeit an „ihrer“ Schule bleiben.
Quellen:
STÄHLING, REINHARD: »Du gehörst zu uns« – Inklusive Grundschule. Ein Praxisbuch für den Umbau der Schule. Hohengehren: Schneider 2006. 4. Aufl. 2011
Filmtipp:
Hella Wenders Dokumentarfilm  “Berg Fidel – Eine Schule für alle” ein bewegendes Beispiel dafür, dass Inklusion machbar ist
Filmkritiken:
http://www.programmkino.de/cms/links.php?link=1888&PHPSESSID=50ecb2f87cba79fcf60f713b42586844
http://www.gew.de/Berg_Fidel.html