Onlinekurse sind erst der Anfang. Die eigentliche Revolution steht den Hochschulen noch bevor: Die Personalisierung der Bildung

Portrait Jörg Dräger
Foto: Thomas Kunsch

Bildung gibt es wie Anzüge von der Stange: als Massenware. Ein Studium, egal, ob Physik oder Germanistik, wird für jeden in der gleichen Form, mit den gleichen Seminaren und Vorlesungen angeboten. Für die Hochschulen ist das einfach: One size fits all, eine Größe passt allen.

Doch warum sollten sich Studenten mit einem Angebot von der Stange zufriedengeben? Wer mit dem Internet aufgewachsen ist, weiß, dass es auch anders geht und sich dort nahezu alles nach eigenen Wünschen gestalten lässt. Da braucht es keinen teuren Maßschneider mehr, wenn das rechte Bein länger ist als das linke. Einen Anzug kann man heute preiswert übers Internet anfertigen lassen. Selbst Müsli kann man sich online mixen und nach Hause liefern lassen. Die Digitalisierung macht es möglich: Ein Gut verkauft sich übers Netz nicht nur massenhaft und damit günstiger, sondern auch personalisiert. Man kennt das von digitalen Musikshops wie iTunes. Statt sich, wie früher üblich, eine CD zu kaufen mit allen Liedern eines Interpreten, auch denen, die man vielleicht gar nicht gut findet, kann der Nutzer sich nun seine Songs einzeln aussuchen und zu einer individuellen Musikliste zusammenfügen. Damit hat iTunes die Musikindustrie revolutioniert. Und so revolutioniert die Digitalisierung jetzt auch die Hochschulen. Ein seit Jahrhunderten mehr oder minder unverändertes System steht vor dem Umbruch.

Die Vorboten sind schon zu beobachten: Sie nennen sich MOOCs, Massive Open Online Courses, Lernvideos, die in kurzen Sequenzen Wissen rund um den ganzen Erdball vermitteln. Statt ein paar Hundert Studenten im Hörsaal folgen mittlerweile Hunderttausende einzelnen Internet-Seminaren. Allein die kalifornische MOOC-Plattform Coursera wird von fünf Millionen Menschen genutzt – doppelt so vielen, wie in ganz Deutschland studieren. Der Hype ist längst in Deutschland angekommen. Ein Seminar der Fachhochschule Potsdam wird dank der Internetplattform iversity zur digitalen Massenveranstaltung mit 75 000 Teilnehmern.

Künstliche Intelligenz

Es ist eine faszinierende Vorstellung, bei den besten und engagiertesten Professoren kostenlos und gemeinsam mit vielen anderen aus aller Welt zu studieren. Als der deutsche Stanford-Professor Sebastian Thrun vor zwei Jahren erstmals seine Vorlesung im Internet anbot und gleich 160 000 Teilnehmer fand, verpflichtete er auch seine eigenen Elitestudenten, den Onlinekurs zu belegen. Bei der Abschlussprüfung gab es dann ein verblüffendes Ergebnis: Unter den 600 besten Absolventen des Kurses befand sich kein einziger Stanford-Student. Dafür umso mehr Teilnehmer aus Schwellenländern, die bislang von akademischer Bildung ausgeschlossen sind, weil es in ihrer Heimat zu wenige Studienplätze gibt und ein Studium im Ausland für sie unerschwinglich ist.

In den USA gibt es zwar genug Hochschulen, aber die Studiengebühren sind so dramatisch gestiegen, dass sich viele Bildungswillige ein Studium für bis zu 60 000 Dollar im Jahr nicht mehr leisten können. Unterdessen bieten günstige Online-Unis ein Studium für monatlich 199 Dollar an. Die meisten MOOCs sind sogar kostenfrei, werden aber bislang oft noch nicht als Studienleistung anerkannt. Auch wenn solche Angebote ein Studium an einer renommierten Hochschule nicht ersetzen können: Diese Demokratisierung der Bildung, die Öffnung für breite Schichten, trifft auf eine große Nachfrage.

Die Bildungsmaßschneider von heute sitzen in Oxford und Harvard

Zugegeben, weder Kosten noch Zugang zu den Hochschulen sind in Deutschland ein Thema. Inzwischen erreicht über die Hälfte eines Altersjahrgangs die Hochschulreife, das sind zehn Mal mehr als 1960. Hochschulbildung wird zum Regelfall, Vielfalt zur Normalität. Doch Ansturm und Heterogenität überfordern viele deutsche Universitäten. Manch eine Vorlesung muss als Livestream in einen Nachbarraum übertragen werden. Das Ideal eines auf die eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten angepassten Studiums ist unter diesen Umständen Illusion.

Die Bildungsmaßschneider von heute sitzen in Oxford und Harvard. Deren kleine Lerngruppen und individuelle Betreuung sind aber nur wenigen zugänglich, man braucht überragendes Talent oder reiche Eltern. Das kann die Digitalisierung ändern, persönlich zugeschnittene Bildung gibt es künftig auch übers Internet. MOOCs sind nur der Anfang und noch längst nicht der digitale Tsunami, den manche in ihnen sehen. Die wirklich großen Potenziale der Digitalisierung bleiben ungenutzt, solange alle das Gleiche auf die gleiche Weise lernen sollen, obwohl doch jeder ganz unterschiedliche Voraussetzungen und Ziele hat. Nicht mehr massive müssen die Onlinekurse sein, sondern personalized – POOCs statt MOOCs.

Man stelle sich einmal den idealen Pädagogen vor. Er entwirft für jeden Studenten ein eigenes Lernprogramm entsprechend dessen Kompetenzen, Interessen und Lernstil, löst sich vom Standardlehrbuch, empfiehlt passende Materialien. Er hat immer ein Auge auf den Lernfortschritt, hilft früh, wenn etwas nicht verstanden wird, erkennt Langeweile ebenso wie Überforderung und reagiert darauf. Das alles scheitert, wenn in einem Seminar 150 Studierende sitzen. Digitale Bildung kann hier helfen. Sie versucht für Hunderttausende Studierende möglich zu machen, was sonst nur in Kleingruppen funktioniert.

»Intelligente« Software richtet sich nach Tempo und Fähigkeiten des Einzelnen

Lehrbücher und Vorlesung zwingen bislang alle in den Gleichschritt. »Intelligente« Software hingegen richtet sich nach Tempo und Fähigkeiten des Einzelnen, führt ihn zu den individuell relevanten Lerninhalten. Das Programm des amerikanischen Start-ups Knewton etwa erkennt, wo jemand in Mathematik steht, und passt seine Übungen dem Lernfortschritt an. Alle kommen ans Ziel, zwar unterschiedlich schnell, aber ohne dauernde Langeweile oder Überforderung. So auch an der New Yorker Reformschule New Classrooms. Dort errechnet jede Nacht ein Computer, woran ein Schüler am nächsten Tag arbeiten sollte. Das macht den Lehrer nicht überflüssig, im Gegenteil: Pädagogen haben mehr Zeit, sich um jeden Schüler persönlich zu kümmern.

Der Tutor in Oxford greift bei seinen handverlesenen Zöglingen ein, wenn es beim Lernen stockt. Das tut auch eine Forschergruppe am MIT Media Lab in Boston: Sie entwickelt ein Programm, das durch die Kamera im Laptop oder Smartphone die Aufmerksamkeit des Nutzers erkennt. Schweift ein Lerner ab und verliert die Konzentration, kann das System reagieren. Computerprogramme helfen auch Dozenten, zielgerichtet zu intervenieren. Ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Pilotprojekt aus Berkeley schaffte es binnen einer Woche, allein aus der Analyse der E-Mails zwischen den Studenten deren Abschlussnote mit hoher Treffsicherheit vorherzusagen. Klingt gespenstisch, aber wenn dadurch hilfsbedürftige Studierende gezielt unterstützt werden, ist das ein sinnvoller Fortschritt.

Lernen ist und bleibt ein sozialer Prozess. Bereits heute organisieren sich Lerngruppen über Facebook, man trifft sich virtuell im Google-Hangout, aber auch in der Kneipe. Online-Unis bringen Sprachtandems zusammen, ermöglichen es Japanern, Englisch zu lernen, und Amerikanern Japanisch. Via Skype und Chats können sich Studenten gegenseitig helfen – und dabei ihre eigenen Kenntnisse vertiefen. Peer-Grading, die Korrektur von Arbeiten durch andere Studierende, zeigt erstaunliche Übereinstimmung mit den Bewertungen der Dozenten, ist so nicht nur effizient, sondern fördert auch die aktive Mitarbeit. All das ersetzt nicht die persönlichen Bindungen zwischen Lehrer und Lerner, aber es schafft immerhin mehr zeitliche Freiräume dafür.

Ohne digitale Hilfsmittel bleibt für die wachsende Zahl an Lernwilligen in Deutschland nur Bildung von der Stange

Viele dieser pilothaften Beispiele mögen nach George Orwell klingen; nicht alles, was technisch machbar ist, ist gut für die Bildung. Wer hier aber nur das Risiko sieht, ist kurzsichtig. Hochschulen müssen für die Digitalisierung jetzt Strategien entwickeln, die Politik muss für den Datenschutz sorgen und das Hochschulrecht anpassen. Ohne digitale Hilfsmittel bleibt für die wachsende Zahl an Lernwilligen in Deutschland und weltweit nur Bildung von der Stange. Das haben sie nicht verdient. Nicht in die massifizierten MOOCs, sondern in die personalisierten POOCs sollten wir investieren.

(Gastbeitrag aus der ZEIT)