Ganztagsschulen in Deutschland: Die Ausbaudynamik ist erlahmt
Ganztagsschulen in Deutschland: Die Ausbaudynamik ist erlahmt

In Deutschland wird zurzeit über Bildung viel diskutiert – der Streit über das achtjährige Gymnasium, die Umsetzung von Inklusion, und die Forderung nach dringend notwendigen Investitionen im Bildungsbereich seitens Bund, Ländern und Kommunen sind zu zentralen Bildungsthemen unserer Zeit avanciert. Auch über die Frage nach dem Ganztag als organisatorischem Rahmen für all diese Veränderungen in und um Schule wird intensiv debattiert.
Nehmen wir das Beispiel G8: Elterninitiativen insbesondere im Westen der Republik, fordern angesichts gestresster Kinder vehement eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Einige Bundesländer rudern bereits flächendeckend oder flexibel zu G9 zurück. Die Politik hat erkannt, dass bei der Umstellung auf G8 Fehler gemacht worden sind. Der Link zum Thema Ganztag liegt hier auf der Hand: Ganztagsschulen machen es eher möglich, dass der Unterricht sinnvoll mit abwechselnden Lern-, Übungs- und Entspannungsphasen über den Tag verteilt wird, so dass das Lernen anders organisiert und, auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen hin ausgerichtet, auch in acht Jahren zum Abitur führen kann.
Aber Ganztagsschulen werden nicht primär wegen des Mehr an unterrichtsbezogener Lernzeit benötigt. Sie werden auch deshalb dringend gebraucht, weil sie Bildungschancen nachweislich erhöhen: Studien zeigen schon heute, dass Kinder und Jugendliche, die regelmäßig an guten Ganztagsangeboten teilnehmen, bessere Lernerfolge erzielen. Gebundene Ganztagsschulen ermöglichen eine bessere individuelle Förderung und eröffnen mehr Lernchancen für die Schüler. Und auch in der Präambel des Koalitionsvertrags der Großen Koalition wird der Ausbau qualitätsvoller Ganztagsschulen als ein Weg zu mehr Chancengerechtigkeit durch Bildung beschrieben. Auch wenn im weiteren Koalitionsvertrag keine Rede mehr ist vom Ganztag – dass der Ausbau beschleunigt werden muss, ist klar.
Faktisch kommt der Ganztagsunterricht in Deutschland aber nur langsam voran: Die aktuelle Studie von Klaus Klemm Ganztagsschulen in Deutschland: Die Ausbaudynamik ist erlahmt  zeigt unter anderem:

  •  dass in Deutschland insgesamt im Schuljahr 2012/13 jeder dritte Schüler (32,3 Prozent) ganztags zur Schule geht.
  • dass dies eine beträchtliche Steigerung seit 2002 ist, wo nur knapp 10 Prozent der Schüler ganztägig lernen konnten.
  • dass mit Hilfe des vier Milliarden schweren Investitionsprogramms „Zukunft Bildung und Betreuung“ in den Jahren 2003 bis 2009 pro Jahr rund 175.000 Ganztagsplätze geschaffen wurden
  • und dass seit Auslaufen dieses Bundesprogramms (genauer: von 2009 bis 2012) im Schnitt jährlich nur noch 104.000 Ganztagsschüler hinzugekommen sind.

Deutschlandweite Umfragen (z. B. JAKO-O 2012) zeigen zudem, dass sich schon jetzt 70 Prozent aller Eltern in Deutschland einen Ganztagsplatz für ihr Kind wünschen. Damit fehlen aktuell etwa 2,8 Millionen Ganztagsplätze. Und: Bei der von Klemm festgestellten Ausbaugeschwindigkeit wird es noch mehr als 20 Jahre dauern, bis dieser Elternwunsch nach Ganztagsunterricht erfüllt werden kann.
Es geht zudem ja nicht nur um den quantitativen Ausbau: Um die pädagogisch gebotene flächendeckende Ausweitung der Ganztagsschulen zu beschleunigen, ist der Rechtsanspruch auf den Besuch einer Ganztagsschule ein möglicher Hebel für den bedarfsorientierten Ausbau von verlässlichen Ganztagsschulen in ganz Deutschland. Das zeigt auch die Erfahrung im Kitabereich.
Wie in allen schulischen Angelegenheiten in Deutschland gibt es auch beim Ganztagsausbau deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. So gehen in Sachsen und Hamburg schon heute 79,1 bzw. 61,7 Prozent der Schüler ganztags zur Schule. In Bayern und Baden-Württemberg hingegen nur 12,4 bzw. 18,9 Prozent. Nicht nur beim Platzangebot, sondern auch in der Organisation des Ganztags zeigen sich große Unterschiede. 18 Prozent der Schüler haben Zugang zu einem Platz in einer offenen Ganztagsschule, an deren freiwilligen Angeboten am Nachmittag nicht die ganze Klasse teilnimmt. Nur 14,4 Prozent der Schüler gehen in eine gebundene Ganztagsschule mit verpflichtenden Lernangeboten über den ganzen Tag. Dieser Organisationsform des Ganztags schreiben Wissenschaftler besonders große Möglichkeiten beim sozialen und kognitiven Lernen zu. In Hessen und Schleswig-Holstein sind es weniger als fünf Prozent aller Erst- bis Zehntklässler, die im gebundenen Ganztag lernen, und auch in Bayern, im Saarland und in Sachsen-Anhalt liegen die Zahlen im einstelligen Prozentbereich. In Sachsen (29,3 Prozent) hingegen lernt fast jeder dritte, in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern immerhin jeder vierte Schüler dieser Altersgruppe verbindlich im Ganztag. Gute Ganztagsschulen sind mehr als eine Halbtagsschule mit Nachmittagsbetreuung. Dafür werden vor allem mehr Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeiter benötigt. Und das kostet auch Geld, wie die Klemm-Studie zeigt. Soll dem Elternwillen Rechnung getragen und der Bedarf an Ganztagsplätzen für 70 Prozent der Schüler gedeckt werden, fallen jährlich zusätzliche Kosten von 1,7 Milliarden Euro für Lehrkräfte und pädagogisches Personal an. So kann entsprechend des KMK-Minimalkonsens von Ganztagsschulen – zumindest an drei Tagen ein siebenstündiger Ganztagsunterricht in Verantwortung der Schule gewährleistet werden. Die flächendeckende Ausweitung des gebundenen Ganztags für alle Schüler auf acht Stunden an allen fünf Schultagen, die nach Überzeugung der Bertelsmann Stiftung den besten Rahmen für individuelle Förderung darstellen würde, erfordert die Bereitstellung umfassenderer Mittel von knapp acht Milliarden Euro für qualifizierte Pädagogen im Jahr. Hinzu kommen außerdem einmalige Investitionskosten für den Umbau von Schulen auf den Ganztagsbetrieb, die – je nach Ausbauvariante – zwischen acht und 17 Milliarden Euro betragen.
Angesichts dieser Summen erscheint der von Großer Koalition und Ländern gerade ausgehandelte Bafög-Deal fast lapidar: Selbst, wenn die vollständige Summe, die den Ländern ab 2015 zusätzlich für Bildungsaufgaben zur Verfügung steht (1,17 Mrd. EUR), in den Ganztag fließen würde, könnten damit nicht mal die zusätzlichen Pädagogen für die KMK-Variante bezahlt werden. Der von Klemm hochgerechnete notwendige Finanzbedarf für den Ausbau guter Ganztagsschulen zeigt also einmal mehr, dass es sich bei diesem zentralen Reformvorhaben im Bildungsbereich um eine riesige Kraftanstrengung handelt. Dass Länder in ihrer Verantwortung für das Schulwesen und die Kommunen in ihrer Verantwortung als Schulträger davon allein überfordert sind, kann man auch den Diskussionen an anderer Stelle entnehmen (Stichwort Inklusion in NRW). Die Finanzierung der Bildungsreform „Ganztag“ darf nicht Gefahr laufen, wegen des Kooperationsverbots auf der Strecke zu bleiben. Würde es stattdessen eine gemeinsame Initiative für qualitätsvolle Ganztagsschulen geben, könnten Bund, Länder und Kommunen an einem Strang ziehen. Vielleicht gelingt es dann, allen Kindern und Jugendlichen die Chance auf einen guten Ganztagsplatz zu eröffnen, so dass sie angemessen individuell gefördert werden und stressfrei lernen können.
Nicole Hollenbach-Biele, Dirk Zorn
Zur Studie: Ganztagsschulen in Deutschland: Die Ausbaudynamik ist erlahmt
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