Die Ansprüche an gute Bildung könnten widersprüchlicher kaum sein. Einerseits soll sie gesellschaftlichen Aufstieg für alle ermöglichen. Andererseits erwartet man persönliche Betreuung und individuelles Lernen für jeden. Gefragt sind Masse und Klasse, gleichzeitig und möglichst ohne Mehrkosten – ein scheinbar unlösbares Dilemma.

Ohne Frage: Der Hunger nach höherer Bildung ist grenzenlos. In Deutschland möchte inzwischen mehr als jeder Zweite studieren, die USA postulieren das „College for All“ und in Indien sollen bis 2022 eine halbe Milliarde junge Menschen zu Fachkräften ausgebildet werden. Um den weltweit explodierenden Bedarf nach Bildung zu erfüllen, fehlt allerdings das Geld. Persönliche Betreuung für die Massen scheint nicht bezahlbar. Die sogenannten MOOCs (Massive Open Online Courses) haben es zumindest geschafft, dass Bildung für alle zugänglich geworden ist. Die häufig nur abgefilmten Vorlesungen sind übers Internet an jedem Ort der Welt zu empfangen: der Nutzer braucht nur ein Endgerät und eine stabile Datenverbindung. So kommt das Wissen eines Stanford-Professors für ein paar Rupien ins indische Wohnzimmer – und ist nicht mehr nur denen vorbehalten, die sich mehrere Tausend Dollar Studiengebühren leisten können. Doch was nützt dem Wissensdurstigen ein Stanford-Kurs, wenn er die Vorkenntnisse nicht hat und deswegen das Gehörte nicht versteht?

Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: reine Wissensvermittlung im Frontalunterricht ist nicht die beste Methode für gutes Lernen ist. Menschen brauchen Erklärungen, Diskussionen, Beispiele und Übungen, um das Gehörte zu verstehen und dauerhaft zu behalten. Vor allem aber: Jeder Mensch lernt anders, hat andere Vorkenntnisse und macht andere Fehler. Bisher konnte nur ein Lehrer oder Professor erfassen, welchem Irrtum jemand aufsaß, wenn er die Matheaufgaben falsch löste. Der reine Zugang zu Online-Bildung reicht nicht aus, um allen Menschen echte Teilhabe an Bildung zu ermöglichen. Individuelle Hilfestellung und persönliches Feedback waren das Nadelöhr des Lernens. Das ist nun vorbei. Die Digitalisierung versöhnt den bisherigen Widerspruch zwischen Masse und Klasse. Denn auch digitalisierte Lernangebote können sich dem menschlichen Kenntnisstand anpassen, den Schüler mit angemessenen Aufgaben fordern, die Fehler analysieren und ihm mit endloser „Geduld“ neue Erklärungen und Übungsaufgaben bieten. Sie können sogar erfassen, wenn der Lerner ermüdet oder unkonzentriert wird, und empfehlen ihm dann Erholungspausen. Langeweile und Frust wird seltener, da niemand mehr überfordert und abgehängt wird. Das alles ist dank massenhafter Verbreitung zu vertretbaren Kosten möglich. Der Lehrer wird seine Rolle ändern: Als Lernbegleiter findet er mehr Zeit, sich den persönlichen Belangen einzelner Schüler zu widmen, ohne dass es die anderen beim Lernen aufhält.

Bildung für alle und personalisiertes Lernen für jeden – was sich über Jahrhundert scheinbar gegenseitig ausschloss, ist heute in greifbare Nähe gerückt, zumindest in anderen Ländern, vor allem in den USA. Wenn wir in Europa nicht abgehängt werden wollen, müssen wir jetzt handeln.

In seinem Vortrag auf der Digitizing Europe Conference sensibilisierte Jörg Dräger für die globalen Herausforderungen in der Bildung und die nötigen Umbrüche, die digitale Lernangebote ermöglichen.