Letzte Woche war ich als Teilnehmer und Workshop-Verantwortlicher beim Kongress „Digitale Didaktik 2015“ auf Schloss Neubeuern. Der Internatsschule eilt der Ruf voraus, zur Avantgarde der Medienschulen in Bayern zu gehören; selbstbewusst bezeichnet sie sich auf ihrer Internetseite als „Deutschlands modernste Schule“. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an die Tagung und die dort vorgestellten Lösungen. Nachstehend ein kurzer Erfahrungsbericht…

Internatsschule Schloss Neubeuern
Zu Besuch auf der Internatsschule Schloss Neubeuern

Schloss Neubeuern beschäftigt sich seit Mitte der neunziger Jahre intensiv mit IT-Themen – das zeigt sich bereits an der Ausstattung: Die Schule ist komplett vernetzt, jedes Klassenzimmer hat Intranet- und Internetanschluss (seit 2007 auch über W-LAN) und in fast jedem Unterrichtsraum ist ein Beamer verfügbar. Seit 2009 werden in Schloss Neubeuern alle Schüler ab Klassenstufe 9 mit Tablet-PCs ausgestattet. Mit dem Schuljahr 2013/2014 startete in den 9. Klassen auch das „Inverted Classroom“-Projekt, das dabei helfen soll, mit Hilfe der digitalen Medien Unterricht zeitgemäß zu gestalten und den Schülern mehr Verantwortung für ihr Lernen zu geben. In den Klassenstufen 5-8 stehen seit kurzem personalisierte Apple iPad-Tablets mit fächerspezifischen Apps zur Verfügung, die die Lehrkräfte nach Bedarf einsetzen können. Derzeit arbeiten ca. 140 Schüler und 40 Lehrkräfte an der Schule rein digital. Gerne hätte ich mir angeschaut, wie digitale Medien ganz konkret in der Praxis eingesetzt werden, doch leider bestand im Rahmen des Kongresses nicht die Möglichkeit, im Unterricht zu hospitieren.
Dafür gab es beim Kongress eine ganze Reihe anderer Dinge zu sehen: Schulleiter Dr. Armin Stadler sprach in seiner Begrüßungsrede vor fast 200 geladenen Gästen (darunter viele Lehrer, Schüler und auch Eltern) vom Aufbruch der Schule ins digitale Zeitalter, von Schülerinnen und Schülern, die als digital natives rund um die Uhr online seien und die Tatsache, dass die Schule nach der langjährigen Pionierarbeit mit digitalen Medien immer noch nicht den Stein der Weisen gefunden habe, es keine schlüsselfertigen Lösungen gäbe und das Thema die Schulen hierzulande wohl noch länger beschäftigen werde.

Lernen mit Lernvideos nach dem Flipped classroom Konzept

In der anschließenden Keynote von Stephan Bayer (sofatutor) ging es um die professionelle Produktion von Lernvideos und ihre Bedeutung für das Lernen im schulischen und außerschulischen Kontext. In diesem Zusammenhang wurde auch das Konzept des „Flipped Classrooms“ vorgestellt: Beim Flipped Classroom werden die zentralen Aktivitäten des Lehrens und Lernens umgekehrt. Die Inhaltsvermittlung und -erschließung erfolgt unabhängig von Ort und Zeit über das Internet, die gemeinsamen Präsenzphasen bzw. der Unterricht können stärker für die Vertiefung, Übung / Anwendung oder Reflexion des Gelernten genutzt werden. Erprobt wird dieser Ansatz derzeit in einem Pilotprojekt mit drei Berliner Schulen, an dem neben Sofatutor auch die PH Heidelberg und die Bertelsmann Stiftung beteiligt sind (www.flipyourclass.de).

Individuelle Förderung mit digitalen Medien?

Workshop zum Thema Individuelle Förderung mit digitalen Medien
Workshop zum Thema Individuelle Förderung mit digitalen Medien

In der öffentlichen Debatte liegt der Fokus derzeit sehr stark auf der Förderung des Erwerbs digitaler Kompetenzen im Sinne von ICT-Literacy, so z.B. in der ICILS-Studie vom November letzten Jahres. In meinem Workshop (die Präsentation dazu gibt’s hier) wollte ich hingegen der Frage nachgehen, wie digitale Medien zur Verbesserung des Lernens genutzt werden können und dies anhand von Beispielen mit den TeilnehmerInnen diskutieren. Ausgangspunkt war dabei die Annahme, dass in zunehmend heterogenen Lerngruppen nicht mehr nach der 7-g-Logik unterrichtet werden kann („Alle gleichaltrigen Schüler haben zum gleichen Zeitpunkt beim gleichen Lehrer im gleichen Raum mit den gleichen Mitteln das gleiche Ziel gut zu erreichen“; Helmke 2013), sondern dass es nur durch individuelle Förderung gelingen kann, dass alle hinreichend motiviert werden und klar definierte ganzheitliche Bildungsziele erreichen. Als erstes Beispiel stellte ich die Initiative „School of One / New Classrooms“ vor. Dabei handelt es sich um einen umfassenden Ansatz, der die Lernorganisation, den Lernprozess und die Rolle der Lehrkräfte verändert:

  • Schüler arbeiten weitgehend selbstständig, wechseln zwischen Lernstationen; Lehrer werden stärker zu Lernbegleitern
  • Mathekompetenzen (Jg 5-8) können auf versch. Art und Weise erworben werden („Modalities“): Live-Unterricht, koop. Gruppenarbeit, Online-Tutor, Lernsoftware
  • Es wird überwiegend mit digitalen Medien gearbeitet; es gibt keine Schulbücher
  • Täglich wird ein kurzer Lernstandstest durchgeführt („Exit Slip“): Eine adaptive Lernsoftware berechnet daraufhin über Nacht das individuelle Lernpensum für jeden Schüler für den nächsten Tag
  • Schulaufgaben und Tests fallen weg; durch die tägl. Lernstandserhebung wird festgestellt, ob SuS bereit sind für nächste Lektion
  • Offene Räume ermöglichen es den LuL, die Stationen zu überblicken und SuS gezielt zu unterstützen. Mathelernen für 100 Schüler pro Klasse

In der folgenden, sehr intensiv geführten Diskussion wurde vor allem darüber geredet, ob der Ansatz auch auf andere Fächer ausgeweitet werden kann und ob er auf Deutschland übertragbar ist. Die meisten Kolleginnen und Kollegen waren zwar sichtlich beeindruckt von der neuen Lernkultur in den „New Classrooms“; eine Ausweitung auf andere Fächer (z.B. Geisteswissenschaften) und auf kognitive Lernziele, die über das Erinnern, Verstehen, Anwenden hinausgehen (vgl. Bloom’s Taxonomy) erschien ihnen aber nicht möglich. Die meisten Teilnehmer hielten das Konzept zudem für nicht auf Deutschland übertragbar, da das übervolle Curriculum keine Alternative zum Lernen im Gleichschritt zulasse. Verhindern die Rahmenbedingungen des Schulsystems die Etablierung einer zeitgemäßen Lernkultur?

Was Sie schon immer über Shakespeare wissen wollten – aber bisher nicht zu fragen wagten

Schüler auf der Bühne: Shakespeare lässt grüßen
Schüler auf der Bühne: Shakespeare lässt grüßen

Wie zuvor beschrieben, gab es in Schloss Neubeuern leider nicht die Möglichkeit, sich Unterricht anzuschauen. Dafür gab es am Ende des ersten Veranstaltungstags eine wunderbare Theatervorführung des P-Kurses, ein buntes Medley durch Shakespeares bekannteste Tragödien (Macbeth, Hamlet, Romeo and Juliet) und Komödien (Midsummer Night‘s Dream, Merchant of Venice). Letztendlich zeigt dieses Beispiel sehr anschaulich, dass auch in einer digitalen Schule Raum für ganzheitliche Lernerfahrungen sein muss. Lernen ist ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, situativer und sozialer Prozess. Dadurch, dass der oder die Einzelne in eine (Lern-)Gemeinschaft eingebunden ist, ergibt sich, dass Wissen immer auch aus sozialer Interaktion erwächst. Kooperativen Situationen haben damit eine große Bedeutung für das Lernen, auch beim Einsatz digitaler Medien.

Dream of Toolification?

Am zweiten Veranstaltungstag konnten die Teilnehmer in drei Workshoprunden weitere Beispiele für den Einsatz digitaler Medien im Unterricht kennen lernen. Beim Blick auf das Workshop-Angebot war meine Befürchtung zunächst, dass hier verschiedentlich dem Trend einer gerätefixierten bzw. toolfixierten Vorstellung von digitaler Bildung gefolgt wird. Titel wie: “Neue Ideen und Werkzeuge für die Arbeit im Unterricht”, “Unterrichtsplanung mit Word und Excel”, “Office Mix -Power Up Powerpoint”, und „Prezi-Workshop“ legten das nahe. Aber es gab auch eine Reihe von Workshops, die sich mit anderen Aspekten der Digitalisierung (z.B. Datenschutz in sozialen Netzwerken, Medienrecht in der Schule) beschäftigten. Mich interessierten am meisten diejenigen Workshops, in denen didaktisch-methodischen Erwägungen den Einsatz digitaler Medien im Unterricht sinnvoll erscheinen lassen – in Ergänzung oder als Alternative zu konventionellen Medien, als Beitrag zur Methoden- und Medienvielfalt.

ePortfolios – Lernen und Lehren mit Mahara

In diesem Workshop ging es in erster Linie um das EU-Projekt „EUfolio – EU classroom ePortfolios“ (vgl. http://eufolio.eu/). Auf die Möglichkeiten der Arbeit mit (analogen) Portfolios im Unterricht wurde nicht näher eingegangen, sondern eher vorausgesetzt, dass die Teilnehmenden mit dem Konzept vertraut sind. Zur Erläuterung: Das Portfolio kann ein gewinnbringendes Instrument für die Arbeit der Schüler sein. Insbesondere das Prozess- oder Entwicklungsportfolio eröffnet ihnen Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und Selbststeuerung im individuellen Lernprozess (vgl. hierzu folgende Beiträge auf Vielfalt lernen hier und hier). Andrea Ghoneim von der Donau-Universität Krems stellte ihre Definition von ePortfolios vor:

„E-Portfolios sind dynamische digitale Arbeitsplätze, deren EigentümerInnen die LernerInnen sind. Sie können darin ihr Lernen und ihre Ideen festhalten, haben so Zugang zu ihren Arbeits-Sammlungen, können über ihre Lernen reflektieren, es teilen, sich Ziele setzen, Feedback einholen und ihre Lernen und ihre Errungenschaften darstellen.“

Im Workshop ging es u.a. auch um die Veränderungen in der Rolle der Lehrenden bei der Arbeit mit ePortfolios. Es wurden einige Beispielportfolios und die Open Source Plattform Mahara vorgestellt.

Unterricht mit dem iPad neu denken SAMR, Bloom & Co

Unterricht mit dem iPad neu denken
Unterricht mit dem iPad neu denken

Tobias Schnitter von der Realschule Gauting stellte in seinem Workshop ein interessantes Grundlagenmodell vor, das dazu beitragen soll, die Frage nach dem Mehrwert des Einsatzes digitaler Medien zu beantworten: Das SAMR-Modell von Ruben Puentedura ermöglicht es, anhand einer Abfolge von vier Stufen zu beschreiben, wie Mehrwerte in der Nutzung digitaler Medien entstehen können. Auf einer ersten Stufe der Substitution (Ersetzung) übernehmen digitale Medien die Aufgaben analoger Medien (statt Arbeitsblatt auf Papier wird nun ein digitales Arbeitsblatt zur Verfügung gestellt). Mit dieser Ersetzung sind aber noch keine methodischen Erweiterungen verbunden. Diese finden sich auf der zweiten Stufe Augmentation (Erweiterung), wenn digitale Medien, im Vergleich zu analogen Medien, neue Funktionen eröffnen. Eine grundlegende Veränderung findet auf der 3. Ebene (Modifikation) statt. Hier sind neue Arbeitsweisen in den Lernprozess integriert. Die vierte Stufe der Medienintegration wird erreicht, wenn digitale Medien dazu führen, dass bestehende Grenzen schulischen Lernens aufgebrochen und überschritten werden (Redefinition). Puentedura geht davon aus, dass der pädagogische Nutzen digitaler Medien mit den Stufen zunimmt. Das Modell soll damit anregen, die eigene Nutzung digitaler Medien im Unterricht zu analysieren und soll fördern, dass – über den einfachen Ersatz analoger Medien hinaus – kreative Lösungen entwickelt werden, die einen solchen pädagogischen Nutzen beinhalten. Dieses Modell fand ich recht interessant. Meine Vermutung wäre allerdings, dass in vielen Schulen vornehmlich auf der Ebene der Substitution gearbeitet wird (z.B. digitale Schulbücher statt Printausgabe, Whiteboard statt Tafel…) und es noch nicht viele Beispiele insbesondere für die Stufen 3 und 4 gibt. Wenn doch, würde mich das sehr interessieren!
Das SAMR-Modell nach Puentedura
Das SAMR-Modell nach Puentedura

BYOD – Bring your own device im Unterricht

In meinem letzten Workshop an diesem Freitag ging es um die Frage, wie die Vielfalt der moblien Endgeräte, über die die Schülerinnen und Schüler (laut JIM-Studie und zahlreicher anderer Erhebungen) verfügen, in den schulischen Lernprozess integriert werden können. Dazu stellte Referent Michael Folgmann plattformübergreifende Tools zur Schüleraktivierung und zum formativen Assessment v0r: Anwendungen wie PINGO – „Peer Instruction for very large groups“ oder https://www.onlineted.de sind interaktive Lernwerkzeuge, die zur Steigerung der Interaktion von Lernenden und Lehrenden in Lehr- und Vortragssituationen eingesetzt werden können. Audience Response Systeme können die Kommunikationsmöglichkeiten im Klassenzimmer ergänzen, z.B. indem die Lernenden Fragen zum Unterrichtsgegenstand über ihre Smartphones, Tablets oder Laptops beantworten und der Lehrende live und in Echtzeit eine Rückmeldung über den Lernstand / die Befindlichkeit seiner Lerngruppe erhält…

Fazit

Insgesamt war die Tagung recht anregend… ich habe einige neue Ideen mitgenommen und empfand auch die z.T. kontroversen Diskussionen mit Lehrkräften als sehr wertvoll. Gerade mit Blick auf die zunehmende Vielfalt, die sich in unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und -ständen im Klassenzimmer widerspiegelt, haben digitale Medien große Potenziale, die zur Zeit aber noch nicht / nur mit Einschränkung nutzbar gemacht werden – teilweise aus Angst, die curricularen und ministeriellen Vorgaben nicht erfüllen zu können. Bei der Tagung bin ich aber auch in meiner Grundüberzeugung bestätigt worden, dass beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht immer das Primat der Didaktik gilt. Die Frage lautet nicht: „Wie kann ich digitale Medien im Unterricht einsetzen?“ sondern: „Wie kann ich als Lehrkraft den Unterricht so gestalten, dass die SuS in ihrem Lernprozess optimal begleitet und unterstützt werden?“ Wenn bei der didaktisch-methodischen Planung ein Einsatz digitaler Medien sinnvoll erscheint, können diese (z.B. in bestimmten Unterrichtsstunden und -phasen) gezielt zum Einsatz kommen – in Ergänzung oder als Alternative zu konventionellen Medien, als Beitrag zur Methoden- und Medienvielfalt, aber niemals als Selbstzweck.

Verweise

Das Inverted Classroom Projekt auf Schloss Neubeuern https://www.schloss-neubeuern.de/de/SchuleUndInternat/Inverted_Classroom/index.html
Kongressbericht der Schule https://www.schloss-neubeuern.de/de/News/schulnews/Schuljahr_2014_2015/Kongress_Digitale_Didaktik_2015_Ergebnis.html
Pilotprojekt Flip your Class! www.flipyourclass.de
New Classrooms http://newclassrooms.org/index.html
EU Folio EU Classroom ePortfolios; http://eufoilo.eu/
www.europortfolio.org
SAMR-Modell: http://www.hippasus.com/rrpweblog/archives/2014/12/11/SAMRandTPCK_HandsOnApproachClassroomPractice.pdf 
www.onlineTED.de
www.pingo.upb.de