Schüler in Deutschland haben heute bessere Bildungschancen als noch vor gut einem Jahrzehnt – zumindest, wenn man auf die rein quantitativen Entwicklungslinien in den Daten des Statistischen Bundesamtes schaut. Aktuell hat dies der Chancenspiegel getan. Die Analyse der entsprechenden Schulstatistik seit 2002 zeigt, dass sich die Schulsysteme aller Länder weiterentwickelt haben: Der Anteil der Schüler ohne Abschluss sinkt, es gibt mehr Abiturienten, die Zahl der Ganztagsschulen wächst und Schüler mit und ohne Förderbedarf lernen mehr und mehr gemeinsam.
Wilfried Bos – einer der Autoren des Chancenspiegels – spricht hier von einem allgemeinen Fahrstuhleffekt – und der geht für Deutschland insgesamt nach oben. Der Chancenspiegel zeigt auf der einen Seite,

… dass es in Deutschland immer weniger Schulabgänger ohne Abschluss und mehr (Fach-) Abiturienten gibt

Zwischen 2002 und 2014 sank der Anteil der „Schulabbrecher“ – oder genauer: der Anteil von Schülern, die ihre Pflichtschulzeit ohne Abschluss beenden – von 9,2 auf 5,8 Prozent.
Und während damals nur rund 38 Prozent der Schüler die allgemeine Hochschulreife erwarben, verlassen heute etwa 52 Prozent die Schule mit dem Abitur. Außerdem machten einige Bundesländer ihre Schulsysteme durchlässiger: In Berlin, Bremen, Hamburg, dem Saarland und Schleswig-Holstein ermöglichen mittlerweile 85 Prozent der Klassen an allgemeinbildenden Schulen den direkten Weg zum Abi oder Fachabi. Immer mehr Schülern eröffnen sich also über den bestmöglichen Abschluss den Zugang zu allen Anschlussoptionen, sei es eine weitere schulische oder handwerklich-technische Ausbildung oder ein Studium.

… dass der Ausbau von Ganztagsschulen weiter vorankommt

Angestoßen von einem Investitionsprogramm des Bundes wächst die Zahl der Ganztagsschulen in Deutschland seit 2002. Seinerzeit besuchten im bundesweiten Durchschnitt 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen ganztägig zur Schule, im Schuljahr 2014/15 sind es bereits knapp 40 Prozent – Tendenz weiter steigend.

… dass das gemeinsame Lernen zunehmend in der Fläche ankommt

2009 unterzeichnete Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention und verpflichtete sich damit, das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf einzuführen. Und hier hat sich inzwischen einiges getan, denn Förderschüler besuchen mittlerweile deutlich häufiger als früher eine allgemeine Schule. 2002 betraf das noch jeden achten Förderschüler, heute bereits jeden Dritten. Weil aber auch der Anteil von Schülern gewachsen ist, der eine offizielle Diagnose über einen sonderpädagogischem Förderbedarf erhält, geht die sogenannte Exklusion nur sehr zögerlich zurück: Anteilig besuchen heute nur geringfügig weniger Kinder und Jugendliche eine Förderschule als vor rund 13 Jahren. Damals gingen 4,8 Prozent aller Schüler auf eine Förderschule. Heute sind es 4,6 Prozent.

 Anteil der Schüler mit Förderbedarf, die Förderschulen besuchen

Anteil der Schüler mit Förderbedarf, die Förderschulen besuchen

… dass die soziale Herkunft und der Migrationshintergrund immer sehr stark über den schulischen Erfolg entschiedet

Ob Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem erfolgreich ihren Weg gehen, hängt nach wie vor sehr stark von ihrer sozialen Herkunft ab. So liegen beispielsweise Neuntklässler aus wirtschaftlich schwächeren Milieus in Sachen Lesekompetenz mehr als zwei Schuljahre hinter Klassenkameraden zurück, die in wirtschaftlich besser gestellten Familien aufwachsen. Und auch  ein Migrationshintergrund kann noch immer den schulischen Erfolg erschweren. Denn während der Anteil aller Schüler ohne Schulabschluss zuletzt abnahm, stieg der Anteil der Teilgruppe ausländischer Schüler (Pass) ohne Abschluss zuletzt wieder leicht auf 12,9 Prozent an. Diese Entwicklung ist noch kein Grund zur Sorge, aber wir müssen das darin enthaltene Warnsignal ernst nehmen. Eine der großen Hausaufgaben für die nächsten Jahre wird es sein, Jugendlichen zumindest einen Hauptschulabschluss zu ermöglichen – auch und gerade dann, wenn sie als Flüchtlinge erst spät ins deutsche Schulsystem einstiegen.
Soweit  – so gut? Eine rein positive Bilanz also? Nein, so einfach ist das leider nicht. Denn ob ein Schüler rein statistisch von den bundesweiten Entwicklungen profitieren kann, hängt stärker denn je von seinem Wohnort (konkret: von dem Bundesland, in dem er lebt) ab. Der weiter oben bereits erwähnte Fahrstuhl wird nämlich je nach Thema und Bundesland sehr unterschiedlich genutzt; während einige Bundesländer bereits in Etage 2 aus dem Fahrstuhl steigen, fahren andere bis ins zwölfte Stockwerk. Anders formuliert: Die ohnehin großen Unterschiede zwischen den Ländern sind im betrachteten Zeitraum weiter angewachsen.
Der Chancenspiegel dokumentiert also auf der anderen Seite eine zum Teil extreme Spannweite der sechzehn Bildungssysteme. Die Daten des statistischen Bundesamtes belegen,

  • … dass in Brandenburg 4 Prozent, in Sachsen aber 27 Prozent aller Schüler eines Altersjahrgangs ihre Pflichtschulzeit ohne einen (Haupt)Schulabschluss beenden. Zudem erwerben in Hamburg 62%, in Sachsen-Anhalt 38 Prozent eines Altersjahrgangs ein Fachabi oder Abi.
  • … dass in Bayern 15 Prozent aller Kinder ganztägig lernen, in Sachsen hingegen fast 80 Prozent, in Hamburg gar gut 88 Prozent.
  • … dass sich auch die Teilhabechancen von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf am gemeinsamen Unterricht deutlich unterscheiden. So lernt in den Stadtstaaten mehr als jeder Zweite von ihnen in einer inklusiven Schule – und eben nicht mehr in einer gesonderten Förderschule. Im Süden Deutschlands sind es hingegen weniger als zwei von zehn. Und während einige Länder die sogenannte Exklusionsquote, eben den Anteil von nach wie vor separat beschulten Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, deutlich reduzieren konnten, wächst er in anderen Bundesländern an.
  • … dass auch 15 Jahre nach dem PISA-Schock zwischen den Neuntklässlern je nach Wohnort noch immer mehr als drei Lernjahre liegen – so z.B. zwischen Bremen und Sachsen.

Auf der rein statistischen Ebene sehen wir also bundesweit bessere Bildungschancen für Kinder und Jugendliche. Ja! Aber es ist nichts von vergleichbaren Chancen zu erkennen, für die ein öffentliches Schulsystem eigentlich sorgen müsste  – ganz zu schweigen von der Qualität, mit der die Reformen vor Ort umgesetzt werden. Beides aber – der Zugang zu vergleichbaren Bildungschancen UND eine gesicherte Qualität in der alltäglichen Gestaltung von Unterricht und Schule – muss der Bildungspolitik mit rotem Stift ins Hausaufgabenheft diktiert werden. Bund und Länder müssen sich über gemeinsame Standards gerechter Schulsysteme verständigen, sie müssen mehr Geld in die Bildungssysteme investieren. Und vor allem müssen sie dafür Sorge tragen, dass die Stützpfeiler der Bildungssysteme – die Lehrkräfte und das weitere pädagogische Fachpersonal – so aus- und fortgebildet werden, dass sie mit der Realität in den Klassenzimmern gut umgehen können.

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