Vor einigen Wochen war es wieder so weit: Für 700.000 Eltern von Viertklässlern stellte sich die Frage, welche weiterführende Schule die richtige für ihr Kind ist. Dabei ist die Auswahl größer denn je: Gymnasium, Realschule, Hauptschule – oder eine der inzwischen fast 100 Mischformen wie Gesamtschulen, Stadtteilschulen oder Werkrealschulen, die sich in Deutschland etabliert haben.
Die Frage der „richtigen“ Schulform hat in den letzten Jahrzehnten zu heftigen politischen Debatten geführt: Der eine Bildungsminister will die Hauptschule abschaffen, der andere das Gymnasium aufwerten, ein Dritter die Gesamtschule für alle. Dreigliedrig, zweigliedrig, eingliedrig – das sind Kampfbegriffe in jedem Wahlprogramm. Allerdings ist die Auseinandersetzung um die eine richtige Schulstruktur eine bildungspolitische Sackgasse!
Denn die Realität ist inzwischen längst weiter: In fünf Bundesländern können bereits heute über 85 Prozent aller Siebtklässler an ihrer Schule das Abitur ablegen. Nie zuvor bot unser Schulsystem so vielen Schülern die Chance, den höchsten Schulabschluss zu erreichen. Gleichzeitig schrumpfte in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Hauptschulen um fast die Hälfte, als eigenständige Schulform gibt es sie nur noch in fünf Bundesländern. Auch die Realschulen sind bundesweit auf dem Rückzug, während sich die integrierten Gesamtschulen im gleichen Zeitraum anteilig mehr als verdoppelt haben. Fünf Bundesländer sind auf dem Weg zu nur zwei Schulformen, die beide das Abitur ermöglichen. Und so erwerben heute über die Hälfte der Jugendlichen die Studienberechtigung, davon aber mehr als ein Drittel nicht am Gymnasium, sondern an beruflichen Schulen.
Dabei ist es nicht immer die Politik, die alle zum Abitur treibt. Die Abstimmung mit den Füßen der Eltern unterläuft jeden Versuch der politischen Steuerung. Eltern entscheiden immer stärker mit, welche weiterführende Schule ihre Kinder besuchen. Die sogenannte Übergangsempfehlung der Grundschule ist nur noch in vier Bundesländern verbindlich – in allen anderen Ländern haben Eltern das letzte Wort. Sie wiederum wissen, dass immer mehr Ausbildungsplätze an Abiturienten gehen und immer mehr Berufe ein Studium erfordern. Bildung lohnt sich: Ein Uni-Absolvent wird über sein Leben hinweg im Durchschnitt rund 200.000 Euro mehr verdienen als sein Schulkamerad mit Berufsabschluss und eine halbe Million Euro mehr als sein Kollege ohne Fachqualifikation. Er wird, aus Sicht des Staates, auch mehr Steuern zahlen und weniger staatliche Unterstützung benötigen.
Den Schulen bleibt wenig Anderes übrig, als sich auf die Realität einzustellen: das Abiturs als Normalfall. Der Spagat zwischen Quantität, Qualität und Anforderungen des Arbeitsmarkts scheint bisher gut zu gelingen. So hat sich die Leistung deutscher Schüler laut PISA-Test seit 2000 signifikant verbessert. Statt der vielerorts befürchteten „Titelinflation“ steigen die tatsächlichen Kompetenzen der Schüler. Und auch der Arbeitsmarkt reagiert durchaus positiv: Während europaweit fast 20 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind, sind es in Deutschland nur 6,8 Prozent. Das ist nicht nur unserer Wirtschaftskraft, sondern auch unserem Bildungssystem zu verdanken.
Die Herausforderungen für Schulen als auch Lehrer sind aber erheblich: Die Leistungsfähigkeit der Schüler in einer Klasse unterscheidet sich nicht selten um mehrere Jahre. Das heißt: Jeder Schüler muss individuell gefördert werden, gemäß seinen jeweiligen Stärken und Schwächen – anders kann Schule der heutigen Vielfalt in den Klassenzimmern nicht gerecht werden, egal ob in der Gesamtschule oder auf dem Gymnasium. Diese individuelle Förderung erhöht die Chancen auf den Bildungserfolg unserer Kinder.
Wenn die meisten Schüler das Abitur anstreben, und wenn Arbeitgeber und Hochschulen lieber die tatsächlichen Fähigkeiten der Bewerber messen anstatt blind Zeugnissen zu vertrauen, dann sollten wir nicht länger über die eine richtige Schulstruktur streiten. Vielmehr gilt es für die Politik, Schulen so zu gestalten, dass individuelle Förderung Normalität ist und auch unterschiedlichste Schüler ihr Lern- und Leistungspotenzial entfalten können. Und Eltern sollten bei der Wahl der weiterführenden Schule ihrer Kinder mehr darauf achten, wie erfolgreich die Schule mit der real existierenden Vielfalt umgeht. Denn es ist zunehmend zweitrangig, ob über der Eingangstür Gymnasium, Realschule oder Gesamtschule steht – immer mehr Wege führen zum Abitur.