Wenn wir digitale Werkzeuge im Unterricht richtig nutzen, ist mehr Zeit für das Wesentliche: individuelle Förderung und Persönlichkeitsbildung.

Unterschiedliche Talente, Kenntnisse und Erfahrungen – so verschieden wie der Mensch ist, so individuell lernt er auch. Die heutigen Bildungssysteme können darauf aber zu wenig Rücksicht nehmen. Egal ob Schule, Hochschule oder Weiterbildung: Alles ist weitgehend standardisiert und vereinheitlicht.

Diese Standardisierung ist Konsequenz und Preis einer der größten Errungenschaften unserer Gesellschaft – des Bildungszugangs für alle. Bis Wilhelm von Humboldt die Bildung demokratisierte, ließen Adel und wohlhabende Bürger ihre Kinder von Privatlehrern erziehen, der Rest der Gesellschaft blieb unwissend. Die einen lernten somit äußerst personalisiert, die anderen gar nicht. Humboldt wollte mehr Gerechtigkeit: Das Modell des Privatlehrers ließ sich aber nicht für alle verwirklichen, weder gab es dazu genug Pädagogen, noch war das auch nur ansatzweise finanzierbar.

So entstand unser allgemeines Schulwesen. Die Schulpflicht führte jedoch zwangsläufig zu einer Vereinheitlichung der Inhalte, Lernwege und Vermittlung. Aus der einst persönlichen Förderung für wenige durch den Privatlehrer wurde notgedrungen eine Massenbildung für alle. Damit die damit einhergehende Heterogenität der Lerngruppen nicht zum Pro­blem wird, will die moderne Pädagogik individueller fördern: Jeder Schüler bekommt einen persönlichen Lernplan mit passend auf seine Fähigkeiten zugeschnittenen Aufgaben.

Das allerdings ist sehr aufwendig und geht meist einher mit Forderungen nach mehr Personal und kleineren Klassen. Ent­sprechend langsam setzt sich die individuelle Förderung in der analogen Welt durch.

Deswegen individualisieren Eltern das Ler­nen ihrer Kinder oft auf eigene Faust mit Nachhilfe, privaten Lernangeboten am Nachmittag, Sprachurlauben oder dem In­ternatsbesuch. Während sich die einen so ein besseres, persönlich zugeschnittenes Angebot verschaffen, bekommen andere weiterhin Bildung von der Stange.

Doch jetzt können digitale Hilfsmittel allen Schülern personalisiertes Lernen ermöglichen. Wie das konkret aussehen kann, zeigt die Initiative New Classrooms in den USA.

Weniger Wissensvermittlung

In einem riesigen Raum der New Yorker David-A.-Boody-Schule lernen etwa 90 Schüler jahrgangsübergreifend Mathematik an wechselnden Stationen. Die einen schauen Videos, die anderen nutzen Lern­software, andere arbeiten in Gruppen oder sprechen mit dem Lehrer. Jeder einzelne Schüler kann in seiner Lerngeschwindigkeit und auf seinem Leistungsniveau arbei­ten. Basierend auf den Leistungen errechnet Software nachts ein individuelles Curriculum für jeden Schüler. Ein Schüler kommt morgens in die Schule und sieht auf dem Bildschirm: „Aha, ich muss an Station 7 noch Bruchrechnen wiederholen“, während andere Schüler der Klasse schon viel weiter sind und an ganz an­deren Lektionen arbeiten. Kommt einer der Schüler mit dem Lernprogramm nicht weiter, erhält der Lehrer automatisch einen Hinweis und kann gezielt helfen. Das geht nicht für alle Schüler gleichzeitig, aber für die­je­nigen, die gerade Hilfe nötig haben. Leh­rer werden so zu Lernbegleitern. Sie verwenden weniger Zeit darauf, Standardwissen zu vermitteln, und mehr, auf den Einzelnen einzugehen.

Das Konzept „New Classrooms“ verbessert die Chancen von Schülern, wie an der David-A.-Boody-Schule, wo 80 Prozent der Schüler aus sozial schwachen Familien kommen. Bevor dort das Konzept Einzug hielt, lag die Leistung der Sechstklässler knapp unter dem Durchschnitt vergleichbarer Schulen. Als dieselben Kinder die achte Jahrgangsstufe absolvierten, waren ihre Prüfungsergebnisse bereits elf Prozent besser als der Durchschnitt. Heute lernen die Schüler von „New Classrooms“ beinahe anderthalbmal so viel pro Jahr wie Schüler im nationalen Mittel. Das gelingt durch den zielgerichteten Einsatz digitaler Werkzeuge als Hilfsmittel für ein pädagogisches Konzept, das sich am einzelnen Schüler orientiert.

Lehrern mehr Zeit verschaffen

Denn genau dafür haben Lehrer heute in der Regel wenige Möglichkeiten: In typischen Unterrichtssituationen kümmert sich ein Lehrer etwa 20 Prozent der Zeit um das einzelne Kind und steht zu 80 Pro­zent vor der Klasse und vermittelt Standardwissen, während die Schüler meist schweigen und zuhören. Schweigen und zuhören kann man auch, wenn man sich ein gutes Lernvideo vor dem Unterricht ansieht. Dann ließe sich diese 20/80-Teilung in ein 80/20-Verhältnis umdrehen. Die Lehrer würden sich im Klassenzimmer überwiegend um ihre Schüler kümmern, sie individuell beim Lernen und ihrer persönlichen ­Entwicklung begleiten. Die Erklärung von Stan­dardwissen überließen sie öfter anderen Medien wie Lernvideos oder einer Software – das sogenannte „Flipped Classroom“-Konzept.

Abseits von wenigen Pilotschulen werden die digitalen Möglichkeiten in deutschen Klassenzimmern bisher kaum genutzt. Das Gefühl der Dringlichkeit fehlt. Die Lehrer kämpfen zwar mit mangelnder Disziplin und Konzentration der Schüler, mit großen und immer heterogeneren Klas­sen, mit Inklusion, Personalmangel und schlechter Betreuung; sie klagen über zeit­fressende Verwaltungsaufgaben und wünschen sich mehr Raum für individuelle Förderung. Doch die Erkenntnis, dass di­gi­­tales Lernen keine zusätzliche Belastung, sondern ein Teil der Lösung ist, hat sich noch nicht durchgesetzt.

Diese Zurückhaltung der deutschen Schu­len ist keine angemessene Antwort auf die Herausforderungen. Schon heute funktionieren Kommunikation, alltäglicher Wissenserwerb und Arbeit nicht mehr ohne Smartphones und Tablets. Kinder und Jugendliche wachsen heute wie selbstverständlich mit digitalen Medien auf. Doch der Kontrast zwischen ihrer digitalen Lebenswirklichkeit und dem analogen Schulkosmos ist riesig.

Schulen, die ihrem Bildungsauftrag ge­recht werden wollen, können die digitale Dynamik um sie herum nicht länger ig­no­rieren. Andernfalls riskieren sie eine sozia­le Spaltung. Gebildete Eltern wissen Nützliches und Schädliches besser zu sor­tieren, versorgen ihren Nachwuchs eher mit sinnvollen digitalen Lernmaterialien als mit unsinnigen Spielen. Gerade Kinder aus bildungsferneren Familien hingegen brauchen Unterstützung von ihrer Schule, damit sie moderne Medien nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zum Lernen nutzen.

Dass die Digitalisierung gerade Kindern mit bisher schlechtem Zugang zu Bildung helfen kann, zeigt das Beispiel von Khadi­ja Niazi: Mit zwölf Jahren absolvierte das Mäd­chen aus dem pakistanischen Lahore einen Einführungskurs in die künstliche Intelligenz an der Stanford University – kostenfrei über das Internet. 2013 sprach sie auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos über die Möglichkeiten, die digitales Lernen Schülern weltweit eröffnet – vorausgesetzt, sie haben einen Computer, schnelles Internet und viel Durchhaltevermögen. Richtig genutzt, ermöglichen digitale Werkzeuge einen Unterricht, der jedem das Rich­tige und nicht allen das Gleiche bietet – egal, ob in Lahore, New York oder in Frankfurt, egal, ob Mathe-Genie oder mit Deutsch-Förderbedarf. Eine Lehrerin, die Lernsoftware einsetzt, bringt das auf den Punkt: „Seitdem ich digitale Medien nutze, muss ich nicht mehr Standardwissen, sondern kann Kinder unterrichten.“  Die Digitalisierung gibt allen Beteiligten mehr Zeit fürs Wesentliche – ein Allheilmittel aber ist sie nicht.

Natürlich können siebenminütige Lernvideos keine Persönlichkeitsbildung ersetzen und Computertechnik nicht die Bindung zwischen Lehrer und Schüler. Was sie jedoch können, ist, Freiräume genau dafür zu schaffen.

Der Artikel ist im Rotary Magazin hier erschienen.