Alle reden drüber. Ich auch. Immer wieder: Digitalisierung. Was aber heißt das eigentlich? Was ist gemeint, wenn wir über die Digitalisierung der Bildung reden? Man sollte meinen, dass das für jeden so ziemlich dasselbe ist, aber wenn man genau hinsieht, gibt es dazu vor allem viele verschiedene vage Vermutungen. Zeit das mal zu klären, wenigstens für mich.

Ok, meist versuche ich hier nicht allzu theoretisch daher zu kommen, aber heute ist es mal Zeit für einen kurzen gedanklichen Ausflug. Vor ein paar Tagen hatte ich eine nette Unterhaltung mit jemandem auf einer Konferenz. Natürlich ging es um digitales Lernen. Und in dem Gespräch gab es für mich diesen einen Schlüsselmoment in dem ich merkte: wir benutzen zwar dieselben Wörter, aber wir sprechen über verschiedene Dinge. Ich dachte an Konzepte, Ideen, Strategien. Er war bei der technischen Ausstattung. Wir blickten aus unterschiedlichen Richtungen auf das Thema und kamen entsprechend zu anderen Schlüssen.

Ich hatte gedacht, dass jeder mittlerweile so halbwegs dasselbe unter dem Begriff „Digitalisierung“ verstehen müsste, nachdem doch so oft darüber gesprochen wurde. Aber ich hätte es wissen müssen. Das nennt man Konstruktivismus. Wir alle konstruieren uns unsere Welt, die Art wie wir Dinge sehen, wie wir etwas wahrnehmen, was für uns Bedeutung hat und wie genau. Wir können uns durch Austausch und Kommunikation an die Vorstellungen anderer annähern, aber wir werden bei zwei Menschen nie ein und dieselbe Vorstellung über eine Sache finden.

Das ist im Übrigen auch die Erklärung dafür, warum Frontalunterricht nur bedingt sinnvoll ist. Auch wenn vorne einer die Digitalisierung erklärt – fragt man die Zuhörer hinterher, was hängen geblieben ist bekommt man bei 30 Teilnehmenden 30 verschiedene Antworten. Obwohl alle dasselbe gehört haben.

Gleichzeitig macht das deutlich, wie wichtig es ist, sich immer wieder über diese Grundsatzfragen auszutauschen und dabei auch in die Tiefe zu gehen. Es gibt eben mehr als nur eine Wahrheit. Wieder und wieder die Notwendigkeit der Digitalisierung zu deklamieren hat wenig Sinn, wenn wir nicht in die Tiefe schauen. Dann bleibt die ganze Debatte irgendwann auf einem nebulösen Niveau stecken, bei dem zwar alle nicken und sich scheinbar einig sind, aber bei der Umsetzung dann wieder 100 Fragezeichen auftauchen.

Verständlicherweise, denn es wurde ja versäumt zu klären, welches Verständnis von Digitalisierung in dem jeweiligen Kontext zu Grunde gelegt wurde. Da muss es bei der praktischen Umsetzung, etwa beim digitalen Lernen an der Schule, zu Problemen kommen.

Ich werde auf meinen Vorträgen sehr oft gefragt: „Frau Behrens, wie kann man es denn jetzt machen? Wir wollen ja Digitalisierung, aber wie sollen wir das angehen?“

Verstehe ich gut, die Frage. Die Antwort lautet allerdings: „Kann man so pauschal nicht beantworten, das hängt von sehr vielen Faktoren ab, die man individuell betrachten muss“.

 Wie man „Digitalisierung“ richtig macht – drei Thesen

Es gibt aber auch eine gute Nachricht und die gebe ich mittlerweile auf allen meinen Vorträgen mit, hier jetzt also gratis ganz ohne Frontalunterricht 🙂

1. Prinzipien betrachten statt Anwendungen

Wir haben ein digitales Blumenbeet: es gibt unglaublich viele Farben, Formen und Größen, soll heißen: es gibt nicht die Digitalisierung. Wie eingangs erwähnt, versteht jeder etwas anderes darunter. Das zeigt aber nur die Vielfalt der Möglichkeiten, die ich als Anwender habe. Zugegeben macht es das nicht einfach, sich einen Überblick zu verschaffen, aber wenn man mal den Blick von der konkreten Anwendung auf eine abstraktere Ebene verlagert, wird deutlich, dass einige Prinzipien immer wieder auftauchen. Ein sehr bekanntes ist z.B. „drill & practice“, das hinter so gut wie jeder Sprachlernapp liegt. Wenn ich mir diese didaktischen Prinzipien vor Augen führe, dann kann ich viel besser beurteilen ob ein Angebot zu meinem Lehr-/Lernziel und zu meinen Lernenden passt, als wenn ich einzig die App betrachte.

2. Form follows function

Das bedeutet, dass ich zunächst klären muss, welches Problem ich eigentlich lösen will. Natürlich muss ich mich schon aus gesellschaftlichen und sozialen Erwägungen auf das digitale Zeitalter einstellen. Das heißt aber nicht, dass ich einfach irgendwie die radikale Digitalisierung machen sollte. Ich muss mir überlegen, was genau ich damit erreichen will, erst dann kann ich den Weg abstecken, den ich gehen möchte. Erst wenn ich mein Ziel klar im Blick habe kann ich entscheiden, welches der beste Weg dorthin ist. Auch hier gilt: Digitalisierung ist kein Selbstzweck.

3. Mensch vor Maschine

Auch im digitalen Zeitalter steht der Mensch im Mittelpunkt. Digitale Hilfsmittel, seien es die Geräte oder bestimmte Anwendungen, können immer nur ein Mittel zum Zweck sein. Wann immer ich digitale Mittel einsetzen will muss ich also vom Menschen und seinen Bedürfnissen aus denken, alles andere wird unweigerlich gegen die Wand fahren, wie uns die Vergangenheit gezeigt hat. Ich denke dabei an die Erwartungen aus den 1990er Jahren, wo schon das Ende aller Lehrenden ausgerufen wurde. Hat nicht funktioniert, wissen wir jetzt. Ist auch besser so, denn Lernen ist ein sozialer Prozess und das wird sich auch nicht ändern.

Mein Pädagoginnenherz erfreut das natürlich. Obwohl ich auch manchmal schmunzeln muss. Da brauchen wir erst komplexe technische Anwendungen, um uns wieder aufs Wesentliche besinnen zu können. Aber genau darum geht es: Digitalisierung heißt nicht, alles und jedes nur noch mit Hilfe digitaler Mittel organisieren zu wollen. Es bedeutet, den Lernprozess und den Lernenden wieder in den Blick zu nehmen. Und wenn ich für mich als Pädagogin oder als Einrichtung geklärt habe, was das für mich bedeutet, dann kann ich mir Gedanken machen über die konkrete digitale Strategie.

Letztlich verbirgt sich dahinter also die Frage, wofür wir als Lehrende, als Lernende, als pädagogisch Tätige eigentlich stehen und wer wir sind. Und die Technik hält uns den Spiegel vor, so lange bis wir eine Antwort finden. Aber vielleicht werde ich jetzt auch etwas zu philosophisch 🙂