Es werden wieder mehr Kinder geboren in Deutschland, und mehr junge Menschen wandern ein. Dadurch steigen schon bald auch die Schülerzahlen—zunächst in den Grundschulen und später auch in der Sekundarstufe I. Auf diese Entwicklung muss sich die Bildungsverwaltung schnell einstellen, denn mehr Lehrer ausbilden und neue Schulen bauen braucht viel zeitlichen Vorlauf. Was diese Aufgabe zusätzlich erschwert: Schon jetzt herrscht vielerorts Lehrermangel und etliche bestehende Schulen müssen dringend saniert werden.
 

Widersprüchliche Nachrichten: Sinkende Schülerzahlen oder neuer Schüler-Boom?

Einige Wochen erst ist es her, da hatte der gewichtig besetzte „Aktionsrat“ Bildung“ um den Hamburger Bildungswissenschaftler und Uni-Präsidenten Dieter Lenzen ein neues Gutachten zur Bildung im Jahr 2030 vorgelegt. Darin wurde u. a. gestützt auf Zahlen der Kultusministerkonferenz ausgeführt, dass Deutschlands Schülerschaft weiter schrumpfen wird, wenn auch etwas langsamer als in den letzten anderthalb Jahrzehnten. Fast zeitgleich konnte man lesen, dass sich Städte wie Berlin für einen neuen Schüleransturm wappnen: Bis zu 87.000 Schüler mehr werden allein im Stadtstaat bereits zum Schuljahr 2025/25 erwartet. Der Senat benötigt nach eigenen Berechnungen 42 zusätzliche Schulen, die nun kurzfristig reaktiviert oder sogar neu gebaut werden müssen.
Was ist da los? Werden die Schülerzahlen in Deutschland insgesamt weiter sinken? Handelt es sich bei der beschriebenen Entwicklung in Berlin vielleicht um ein reines Großstadtphänomen? Auch wir bei der Bertelsmann Stiftung hatten bis vor kurzem in unseren Berechnungen z. B. zum Ausbau von Ganztagsschulen oder der schulischen Inklusion immer die zu erwartende „demographische Rendite“ eingepreist – die Hoffnung darauf also, dass durch zurückgehende Schülerzahlen freiwerdende Lehrkräfte dem Schulsystem erhalten bleiben würden und damit etwa für kleinere Klassen eingesetzt werden könnten. So hatten es auch die Schulminister im Jahr 2008 in der Abschlusserklärung zum Dresdener Bildungsgipfel vereinbart. Seit dem Jahr 2012 steigen nun aber die Geburtenzahlen jedes Jahr aufs Neue. 2015 lag die Geburtenrate erstmals so hoch wie zuletzt vor 33 Jahren. Auch die Zuwanderungszahlen sind unerwartet gestiegen, so dass Deutschland wieder eine positive Wanderungsbilanz aufweist (also der Saldo aus Fortzügen von und Zuzügen nach Deutschland). Grund genug für uns, einmal zu analysieren, wie sich die Schulbevölkerung entwickeln wird, sollten sich diese Trends weiter fortsetzen.

Schon jetzt sind Schulen marode und Lehrkräfte vielerorts Mangelware

Das überraschende Ergebnis unserer Schätzung: Deutschland könnte schon bald vor einem neuen Schüler-Boom stehen! Diese Entwicklung träfe das deutsche Schulsystem und die Bildungsverwaltung in einer ohnehin bereits angespannten Lage: Wie die KfW im letzten Jahr ausgerechnet hat, hat sich über die Jahre schon bei den bestehenden Schulen ein erheblicher Sanierungsrückstau gebildet. Die KfW-Ökonomen taxieren ihn auf 34 Mrd. Euro. Selbst wenn das Geld dafür vorhanden wäre (der Bund darf ja neuerdings immerhin 3,5 Mrd. zur Schulsanierung an finanzschwache Schulträger beisteuern), würde es vielen Kommunen schwerfallen, es auszugeben. In Zeiten rückgehender Schülerzahlen wurden viele Stellen für Bauplaner und Ingenieure gestrichen, die angesichts der aktuellen Entwicklung dringend gebraucht werden.
Ähnlich sieht es bei den Lehrern aus. Die sind schon jetzt vielerorts Mangelware. Die GEW in Berlin berichtet so, dass in den Schulen der Hauptstadt inzwischen mehr als jede dritte Stelle mit einem Quereinsteiger besetzt werden muss. Nicht nur in ostdeutschen Flächenländern sieht es oft ähnlich aus. Dabei geht es nicht nur um den Ersatz der vielen Lehrkräfte, die aufgrund des hohen Altersdurchschnitts in Pension gehen. Es werden auch viele zusätzliche Pädagogen gebraucht, die sich den neuen Aufgaben stellen, die in den letzten Jahren auf die Schulen zugekommen sind. Ob Integration von Flüchtlingskindern, Ganztagsschule, Inklusion: Immer sind hierfür auch Lehrkräfte gefragt.

Bis 2030 könnten die Schülerzahlen um acht Prozent steigen

Die von Klaus Klemm und mir vorgenommene Szenariobetrachtung verkompliziert diese ohnehin angespannte Ausgangslage leider weiter. Bevor ich die Ergebnisse unsere Schätzungen vorstelle, zunächst ein paar Worte dazu, wie wir vorgegangen sind: Grundlage unserer Berechnung ist eine aktuelle Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamts. Die Demographen aus Wiesbaden haben da bereits die hohe Zahl an Flüchtlingen im schulpflichtigen Alter, die in 2015 und 2016 nach Deutschland gekommen sind, berücksichtigt, genauso wie die Dynamik in der Geburtenentwicklung, hier allerdings nur bis Ende 2015. Es gibt aufgrund einer statistischen Umstellung aktuell eine starke Verzögerung bei der Bereitstellung der amtlichen Geburtenzahlen für 2016. Wir haben die Geburtenentwicklung dennoch bis 2016 fortgeschrieben, denn die Geburten steigen weiter! Das wissen wir durch die „Milupa Geburtenstudie“. Die gibt es wirklich, und zwar schon seit 1999. Seitdem erhebt die Firma jährlich die Zahl aller in Krankenhäusern geborenen Babys. Die Zahlen für 2016 zeigen, dass allein die in deutschen Kliniken geborenen Babys mehr sind, als die Statistiker aus Wiesbaden in ihrer Vorausschätzung für 2016 insgesamt erwarten. Wir haben also die Annahmen der Bundesstatistiker in diesem Punkt verändert und in unserem Szenario betrachtet, was passiert, wenn sich die in 2016 beobachtete Geburtentätigkeit fortsetzen würde. Das ist nicht gerade unwahrscheinlich, denn wir bewegen uns damit immer noch auf einem historisch und auch im internationalen Vergleich sehr niedrigen Niveau.
Was ergeben nun unsere Berechnungen? Wir schätzen, dass im Jahr 2025 die zusätzlich geborenen und eingewanderten Kinder zu etwa 300.000 mehr Schülerinnen und Schülern herangereift sein werden. Das sind etwa 4 Prozent mehr als heute. Hört sich nach nicht viel an? Das entspricht in der Größenordnung in etwa der gesamten aktuellen Schülerschaft Berlins an den allgemeinbildenden Schulen! Benötigt würden dafür in Summe etwa 18.000 Lehrer zusätzlich als ohnehin schon eingestellt werden müssen (aufgrund von Pensionierungen). Und in 2030 wären es sogar etwa 630.000 Schüler mehr, also 8 Prozent mehr als heute. Dann könnten fast 43.000 Lehrkräfte fehlen. Auch hier ein Vergleich: Diese Zahl entspricht in etwa der Gesamtzahl an jährlichen Absolventen mit Lehramtsabschluss an deutschen Hochschulen! Noch dramatischer wirken die Zahlen, wenn man sich anschaut, was die offizielle Planungsgrundlage der KMK ist: Dort geht man für 2025 (weiter reicht die Prognose bislang nicht) von etwa 1 Million weniger Schüler aus als in unserer Schätzung!

Vergleich KMK-Schülerzahlprognose aus 2013 mit aktueller Vorausschätzung der Bertelsmann Stiftung
Vergleich KMK-Schülerzahlprognose aus 2013 mit aktueller Vorausschätzung der Bertelsmann Stiftung

Die Zahlen beziehen sich auf die allgemeinbildenden Schulen und beinhalten alle Schulstufen, also Grundschule, Sekundarstufe I und die gymnasiale Oberstufe. Der Schüler-Boom kommt nach unseren Berechnungen (wenig überraschend) zunächst in der Grundschule an und erreicht seinen Höhepunkt um das Jahr 2025. In diesem Jahr steigen erstmals auch die Schülerzahlen in der Sekundarstufe I über die des Ausgangsjahres 2015. In der Oberstufe gehen die Schülerzahlen in dem von uns betrachteten Zeitraum (bis 2030) auf Deutschland gesamt bezogen sogar leicht zurück. Das Problem: In der Regel können die dort dann nicht mehr benötigten Lehrkräfte nicht ohne weiteres einfach in den unteren Stufen unterrichten. Der tatsächliche Bedarf an zusätzlichen Lehrern könnte also sogar noch höher sein, als in den summierten Werten oben dargestellt. Der tatsächliche Mehrbedarf an Lehrkräften in der Grundschule und Sekundarstufe I beträgt so im Jahr 2025 fast 26.000, im Jahr 2030 dann sogar mehr als 48.000 Lehrkräfte – immer gesetzt den Fall, dass die Entwicklung so ausfällt, wie in unserer Betrachtung unterstellt.

Volatilität als neue Normalität: Wir brauchen ein atmendes Schulsystem!

Was ist also zu tun (mal abgesehen davon, sich darüber zu freuen, dass die Schülerzahlen sich positiv entwickeln)? Zunächst muss die von uns vorgelegte Vorausschätzung mit allen methodischen Möglichkeiten der Zunft validiert und verfeinert werden. Zwar wissen wir bereits jetzt schon mit Sicherheit, dass es einen Anstieg der Schülerzahlen geben wird. Wir wissen aber nicht, ob das ein Übergangsphänomen bleibt (danach sieht es eher aus) oder ob es sich nicht vielleicht auch um eine echte Trendwende handeln könnte (eher unwahrscheinlich). Und wir wissen aus unserer Schätzung definitiv noch nicht, wie die Dynamiken auf regionaler Ebene abspielen. KMK, Länder und Schulträger müssen diese Lücke schließen, indem sie detaillierte Schätzungen vorlegen, die auf aktuellen Annahmen und Entwicklungen basieren. Vor allem müssen diese Schätzungen regional kleinteiliger sein, also auf der Ebene, auf der Schulangebotsplanungen vorgenommen werden müssen. Die Planungen auf regionaler Ebene müssen dann mit den Planungen auf Landesebene (wo die Zuständigkeit für die Kapazitätsplanung an den lehrerbildenden Hochschulen liegt) konsolidiert werden.
Das darf aber kein einmaliger Vorgang bleiben. Denn die Entwicklung wird vermutlich auch weiterhin von großer Volatilität gekennzeichnet sein, das hat allein die Entwicklung der Flüchtlingszahlen in jüngster Zeit deutlich gemacht. Genauso wichtig ist deshalb auch: Die Vorausschätzung von Schülerdaten und Ableitung der Personal- und Raumbedarfe muss künftig regelmäßig und in kürzeren Intervallen als bislang vorgenommen werden. Wenn man den gerade vorgelegten Koalitionsvertrag aus Schleswig-Holstein liest, wo genau dies vereinbart wurde, hat man den Eindruck, dass das bislang offenbar eher die Ausnahme war.
Wie kann sich ein Schulsystem neben dieser Verbesserung seines „Frühwarnsystems“ ansonsten auf die demographische Entwicklung einstellen? Dafür müsste das System insgesamt „atmender“ werden. Damit meine ich: Wir müssen darüber nachdenken, wie man bei der Bereitstellung von Personal (sprich: Lehrkräften) und Gebäuden (sprich: Schulen) schneller und flexibler werden kann. Schneller, weil die Schülerschaft rascher wächst, als es derzeit dauert, zusätzliche Lehrkräfte ausbilden zu können und neue Schulen zu planen und zu bauen. Flexibler, weil wir eben nicht wissen, für wie lange zusätzliche Lehrkräfte und Schulen überhaupt gebraucht werden. Macht es da Sinn, lebenslange Verbeamtungen auszusprechen und Schulen so zu bauen, dass die Klassenräume nur auf eine bestimmte Weise genutzt werden können?
Das Beispiel „Verbeamtung“ zeigt, welche möglichen Zielkonflikte hier lauern könnten. In der jetzigen, bereits durch Lehrermangel gekennzeichneten Zeit, denkt man dort, wo Lehrkräfte bislang nicht verbeamtet wurden, eher darüber nach, die Verbeamtung künftig wieder einzuführen, um im Wettbewerb mit anderen Bundesländern um Absolventen bestehen zu können. Bei Gebäuden ist es ähnlich: Wäre der Schüler-Boom nur ein transitorisches Phänomen, würden vielleicht Container auf dem Schulhof reichen. Oder sollte man nicht gerade die Chance nutzen, wenn man jetzt neu bauen kann, Schulen z. B. gleich flexibler und den heutigen pädagogischen Anforderungen entsprechend zu bauen, so dass ggf. zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr benötigte Klassenzimmer flexibel im Rahmen von inklusiven Ganztagsschulen (die ohnehin bald die Norm sein werden) genutzt werden könnten? Unsere Studie liefert hierauf keine Antworten. Mit den von uns vorgelegten Befunden wollen wir politische Entscheider zunächst für die Tatsache sensibilisieren, dass es Antworten braucht. Und zwar auf Fragen, von denen selbst in der Fachöffentlichkeit vielen immer noch nicht klar ist, dass sie sich schon sehr bald mit großer Dringlichkeit stellen werden.

Die vollständige Studie steht hier kostenlos zum Download bereit. In Methodenteil und Tabellenanhang sind Vorgehen und Datengrundlage unserer Vorausschätzung der Schülerzahlen an allgemeinbildenden Schulen bis 2030 ausführlich dokumentiert.
Infografik: Deutschlands Schüler vor Schüler-Boom – jetzt handeln!