MILLA bewegt die Bildungspolitik. Hinter diesem Kürzel für „Modulares Interaktives lebensbegleitendes Lernen für Alle“ steckt das Konzept einer staatlich finanzierten Online-Weiterbildungsplattform. Entwickelt hat es die CDU unter Leitung des Internetunternehmers und Bundestagsabgeordneten Thomas Heilmann. Es soll ein Art  „Netflix für Bildung“ werden und wird derzeit in der Bildungs-Community an vielen Orten kontrovers diskutiert, sei es bei Twitter, auf Konferenzen, in der Tagespresse oder in einschlägigen Online-Foren wie wb-web. Dort lautet die Überschrift einer aktuellen Debatte: „Kopfgeburt oder ernstzunehmender Reformvorschlag?“ Dabei vermischt sich zwar häufig das sachliche Pro und Contra mit dem politischem Hin und Her. Generell zeigen sich aber viele Kommentator:innen eher positiv überrascht von diesem bildungspolitischen Innovationsprojekt der CDU. Dass sich überhaupt eine Partei an ein derartig konkretes Umsetzungskonzept heranwagt und es nicht bei den üblichen Sonntagsreden und Forderungspapieren belässt, wird, so mein Eindruck, in der Breite der Debatte durchaus gewürdigt. „Vorneweg“, schreibt beispielsweise Jochen Robes in seinem wb-web-Beitrag: „Ich freue mich über jede Initiative, die den Fokus endlich einmal auf die Weiterbildung richtet und den vielen Absichtsbekundungen Taten folgen lassen will!“.

Gemeinsam mit Volker Zimmermann (neocosmo) hatte ich vor einigen Monaten die Gelegenheit, im Auftrag des „Hochschulforums Digitalisierung“ eine Machbarkeitsstudie für eine „(Inter-)Nationale Plattform für die Hochschullehre durchzuführen, über die ich auch bereits in diesem Blog berichtete. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Studie stelle ich mir mit Blick auf MILLA nun mindestens drei Fragen:

  • Wie umgehen mit der Heterogenität des digitalen Lernens?

Anders als bei Netflix, wo es zwar viele Genres, aber im Kern nur zwei Formate gibt (Kinofilme und Serien), ist die Welt des Online-Lernens extrem vielfältig. Sie reicht von schlichten PowerPoint-Webinaren über sogenanntes Microlearning und Smartshows bis hin zu aufwändig produzierten Videotutorials, Simulationen, Planspielen oder 3D-Anwendungen. Die Angebote sind teilweise tutoriell unterstützt, beinhalten alle möglichen Arten von Assessments, Tests und Gamification-Komponenten oder auch virtuelle Gruppenarbeit. Die didaktischen Konzepte sind ebenso heterogen und spannen sich vom klassischen „Self-Paced Learning“ über „Flipped Classroom“-Konzepte bis hin zum virtuellen „Massen-Learnen“ per MOOC. Damit nicht genug: Die bestehenden Angebote sind in der Regel auch fest eingebettet in proprietäre Plattformen, Lern- und Datenmanagement- sowie E-Commerce-Systeme. Sie nutzen keineswegs immer gemeinsame Standards und basieren auf unterschiedlichen Authentifizierungs-, Rechte- und Rollen-Modellen. Bedenkt man schließlich noch die lizenz- und urheberrechtlichen Verschiedenheiten, so ahnt man die Komplexität der heutigen digitalen Weiterbildungswelt und muss sich fragen: Wie kann eine technologisch und didaktisch derart heterogene Angebotslandschaft auf einer einzelnen Plattform sinnvoll (und einfach nutzbar!) abgebildet werden? – Und das soll sich dann noch ähnlich anfühlen wie bei Netflix? Ich fürchte, dass es hierfür keine befriedigende Lösung geben kann. Potenzielle MILLA-Nutzer müssten wohl stattdessen von einer proprietären Anwendung zur anderen springen und würden ständig mit neuen Anforderungen, Nutzungsregeln, Formaten, Bedienkonzepten oder Layouts konfrontiert.

  • Was wenn zu wenige oder zu viele Inhalte zu bestimmten Themen angeboten werden?

Eine zweite Frage stellt sich mir im Blick auf die Quantität und Qualität der Inhalte einer solchen Plattform. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in bestimmten Themenfeldern zu wenige, in anderen jedoch zu viele Kursangebote gemacht werden. Beides kann zu einem Problem werden. Fehlen zu wichtigen Themen passende Inhalte, so werden sich Nutzer schnell abwenden und die Plattform wird an Reputation und Reichweite verlieren. Derzeit lassen sich zum Beispiel zu wichtigen Innovationsthemen im IT-Bereich, sagen wir zu IT-Security, Microservices oder Cloud-Technologien, nur relativ wenige bis gar keine passenden Weiterbildungsangebote für IT-Fachkräfte im Netz finden – jedenfalls aus Deutschland und Europa. Gibt es andererseits in bestimmten Bereichen zu viele Inhalte ähnlicher Art und Qualität, wie zum Beispiel zu Compliance oder Datenschutz, so stellt sich die Frage, wie diese Angebote dennoch fair und umfassend präsentiert und zugänglich gemacht werden können. App-Entwickler oder Udemy-Kursanbieter kennen diese Problematik nur zu gut: Wer in den einschlägigen Plattformen oder Stores von den jeweiligen Kuratoren oder Rating-Algorithmen vorne positioniert wird, kann von Glück reden. Der Rest verschwindet meist ungesehen auf den hinteren Rängen.

Der Erfolg aller etablierten Plattformen hängt jedoch primär von der Qualität, Passung und Vielfalt der Inhalte ab. Eine Plattform – zumal eine zentral-staatliche -, die ihre Nutzer entweder mit „can not be found“ oder mit einer schwer zu überschaubaren Angebots-Vielfalt konfrontiert, die sämtlich mit 5 Sternen und positiv kommentiert sind, wird meines Erachtens nicht auf nachhaltige Akzeptanz stoßen. Es wäre daher m.E. unverzichtbar, dass die Macher von MILLA auch die Möglichkeit hätten, zu bestimmten Themen gezielt Angebote zu fördern oder sogar zu entwickeln.

  • Wer kann MILLA (kostenlos) nutzen und was bedeutet das für den Weiterbildungsmarkt?

Schließlich stellt sich die grundsätzliche Frage, welche Konsequenzen ein für deutsche Endkunden kostenfreies, steuerfinanziertes Weiterbildungsangebot für den (zunehmend globalen) Bildungsmarkt hätte. Zunächst: Wer könnte MILLA überhaupt kostenlos nutzen? Nur die deutschen Steuerzahler oder alle EU-Bürger oder sogar darüber hinaus? Wie könnten sich berechtigte Nutzer legitimieren, wie würden sie sich authentifizieren – und wie einfach oder aufwändig wäre das? Was bedeutet MILLA für Anbieter wie Hochschulen, Volkshochschulen, Bildungsträger, aber auch verbeamtete Lehrer und Professorinnen, die bereits öffentlich gefördert bzw. finanziert sind? Müssten sie ihre MILLA-Einnahmen dann mit Ihren öffentlichen Zuwendungen verrechnen und am Ende noch zurückzahlen?

Und nicht zuletzt: Wie lässt sich eine solche staatliche Weiterbildungsplattform wirtschafts- und ordnungspolitisch begründen? Was bedeutet MILLA für all die kommerziellen Akteure aus Deutschland und Europa, aus Asien oder den USA, wenn sie nicht auf die Staatsplattform können, wollen oder dürfen? Wer lässt die Weiterbildungsanbieter für das Portal zu, nach welchen Kriterien, und wie können sich die die Abgelehnten dagegen wehren?

Manche dieser Fragen sind wahrscheinlich lösbar, andere aber so grundlegend, dass sich im Zuge des Aufbaus einer solchen Weiterbildungsplattform immer wieder neue Hindernisse stellen dürften. So lobenswert und ambitioniert das Ziel auch ist: Alles in allem lässt es der aktuelle Entwurf von MILLA meines Erachtens kaum erwarten, eine Art „Netflix“ oder „Spotify“ für Bildung zu werden. Im Gegenteil: Ich fürchte, dass dabei am Ende eher etwas herauskäme, das an ein „eGovernment“-Portal einer durchschnittlichen deutschen Großstadt erinnert.