Wer beim digitalen Lernen nur auf allgemeinbildende Schulen und Hochschulen schaut, übersieht Wesentliches: Die berufliche Bildung ist hierzulande alles andere als ein Nischenphänomen. Neben den fast 9.000 beruflichen Schulen, also Schulen, an denen berufliche Qualifikationen vermittelt werden, gibt es in Deutschland rund 1.500 Berufsschulen im Dualen System, die von Auszubildenden begleitend zu ihrer Tätigkeit im Ausbildungsbetrieb besucht werden. Hier werden derzeit ca. 1.3 Mio Auszubildende von rund 46.000 Berufsschullehrer:innen unterrichtet. Nach wie vor gehören kaufmännische Berufe sowie der Kraftfahrzeugmechatroniker zu den beliebtesten Berufsbildern.

Nahezu alle Ausbildungsberufe sind direkt und mehr oder minder umfassend von der Digitalisierung betroffen. Wer wissen möchte, um welche „digitalen Kompetenzen“ es sich dabei im Einzelnen handelt, kann dies – jedenfalls bezogen auf die Schweiz – auf der vorzüglichen Website der Hochschule Luzern genauer in Erfahrung bringen. Hier werden in Anlehnung an das „European Digital Competence Framework“ die erforderlichen Digitalkompetenzen geclustert (z.B. in „Information“, „Sicherheit“ etc.) und jeweils nach drei Ausprägungsniveaus abgestuft (Basis, Intermediate, Fortgeschritten).

Auch in Deutschland rückt die Digitalisierung der Berufsschulen zunehmend in den Fokus der Bildungsforschung und Politik (insb. im Blick auf den „Digitalpakt“). Den Anfang machte vor zwei Jahren der „Monitor Digitale Bildung“ zur beruflichen Ausbildung im digitalen Zeitalter. Auch das BIBB widmete sich diesem Thema in Studien und auf mehreren Veranstaltungen. Vor kurzem startete dann die Telekom Stiftung ein Projekt zur „Berufsschule digital“. Unterstützt durch das Bremer IFIB  will man hier bis Ende 2019 klären, „welche berufsübergreifenden und berufsspezifischen digitalen Kompetenzen Berufsschüler erlernen müssen und welche Bedingungen berufliche Schulen benötigen, um digitale Medien gewinnbringend in ihren Unterricht und Alltag einbinden zu können“. Denn „im Vergleich zu den allgemeinbildenden Schulen“, so der Geschäftsführer der Deutsche Telekom Stiftung, Ekkehard Winter, „existieren für den berufsschulischen Bereich noch weitaus mehr blinde Flecken, was gutes digitales Lehren und Lernen ausmacht.“ Daher wolle man in diesem Projekt Erfahrungen systematisch zusammenführen und „endlich für mehr Durchblick sorgen, wie der digitale Wandel und seine Herausforderungen auch im berufsschulischen Sektor gemeistert werden können.“

Tatsächlich sind die Herausforderungen der Berufsschulen – nicht nur in Sachen Digitalisierung – andere und wahrscheinlich auch größere als die der allgemeinbildenden Schulen. Besonders auffällig sind mindestens sechs:

  • Die Gruppe der Berufsschüler und damit der Auszubildenden ist extrem heterogen. und das Spektrum reicht von der Abiturientin, die sich nach abgebrochenem Studium doch noch für einen Ausbildungsberuf entschieden hat, bis zu jungen Menschen mit geringer formaler Schulbildung und fehlenden Deutschkenntnissen. Sie alle finden sich manchmal sogar in derselben Berufsschulklasse wieder, benötigen aber natürlich ganz unterschiedliche pädagogische Unterstützung.
  • Die Kompetenzanforderungen in Sachen Digitalisierung, Industrie 4.0, KI, Vernetzung etc. sind heute schon in vielen Ausbildungsberufen hoch. Dazu kommt noch eine erhebliche Innovationsdynamik quer durch sämtliche Technologiesegmente, seien dies Steuerungs- und Datenanalysetools oder additive Fertigungsverfahren, 3D-Druck oder Robotik. Viele Ausbildungsbetriebe, aber auch die Einrichtungen der Überbetrieblichen Lehrlingsunterweisung können damit weder fachlich noch didaktisch mithalten. Genauso sind auch viele Berufsschulen hoffnungslos überfordert, jeweils die neueste Technologie in speziellen Lernwerkstätten oder Laboren vorzuhalten.
  • Es herrscht spürbarer Mangel an Berufsschullehrer:innen. Und diese Lage spitzt sich dramatisch zu. Nach Schätzungen des Stifterverbands und der Uni Rostock wird in den kommenden 10 bis 15 Jahren die Hälfte (!) aller Berufsschullehrenden in den Ruhestand treten.
  • Es fehlt nicht nur an Lehrkräften, sondern es fehlt vor allem auch an entsprechenden Kompetenzen der Lehrkräfte für den Einsatz digitaler Lerntechnologien. Dies wurde inzwischen in verschiedenen Studien herausgearbeitet – nicht zuletzt auch im erwähnten Monitor Digitale Bildung – Berufliche Ausbildung im digitalen Zeitalter (2016, S. 21). Fragt man die Berufsschullehrenden danach, wie sie sich in Sachen Digitale Lehre weiterbilden, so antworten rund 90 Prozent von ihnen, dass sie dies im Selbststudium oder im informellen Austausch mit Kollegen tun. Und leider sind auch die Ausbilder in den Betrieben nicht „digital affiner“.
  • Schließlich fehlt es an grundlegender Infrastruktur: An breitbandigem Internet, WLAN und digitalen Endgeräten – von Lernmanagementsystemen und Smartboards in Berufsschulen oder gar virtuellen Lernlaboren ganz zu schweigen.
  • Nicht zuletzt belegt der Monitor Digitale Bildung auch ein Haltungsproblem. Viele Berufsschullehrende und Leitungen sehen in der Digitalisierung generell eher ein Problem und eine zusätzliche Belastung als eine Lösung oder eine Entlastung. Die wahrgenommenen Herausforderungen reichen von der Frage nach der richtigen Ausstattung und Beschaffung geeigneter Lehrmittel und Geräte über die Betreuung und den Support der Systeme bis hin zu fehlenden personellen und zeitlichen Ressourcen, Regelungen und Qualifikationen.

Die Digitalisierung wird sicher nicht den akuten Lehrermangel beheben, aber sie könnte, anders als von vielen Berufsschulleitungen wahrgenommen, dennoch an vielen Stellen zur Problemlösung beitragen: Beispielsweise können virtuelle Lernlabore, in denen Schweißkurse oder Sicherheitstrainings mithilfe von 3D-Brillen durchgeführt werden, Betriebe wie Schulen spürbar entlasten. Lernmanagementsysteme können dazu beitragen, eine effektivere Verzahnung zwischen den Lernorten Berufsschule und Betrieb zu organisieren. Digitale Tests und virtuelle Selbstlernphasen, qualitativ hochwertige Videolectures und Online-Sprachkurse können, sinnvoll eingesetzt, dazu beitragen, die knappen Ressourcen der Berufsschulen zu entspannen und differenziertere Lehrangebote zu ermöglichen, die auf die individuellen Bedürfnisse besser eingehen. Zudem finden es die Berufsschüler:innen nach den Befunden des „Monitors“ durchaus attraktiv, digital zu lernen – vielleicht ließe sich dadurch also auch das Image manches Ausbildungsberufs verbessern?!

Es gibt viele weitere Ideen, wie Berufsschulen den „Digital Turn“ bewältigen können, gerade auch wenn es um eine engere Kooperation zwischen Ausbildungsbetrieben und Ausbildern, Lernwerkstätten sowie Berufsschulen und den dort Lehrenden geht. Fest steht: Das berufliche Bildungssystem in Deutschland ist hochgradig vernetzt, das macht es einerseits so effektiv und interessant, andererseits aber auch störanfällig und kompliziert. Einzelmaßnahmen auf Schulebene sind daher wichtig und unerlässlich, doch sie müssen eingebettet sein in eine umfassende digitale Transformation des beruflichen Bildungssystems. Zumindest hier gilt für allgemeinbildende Schulen und Hochschulen genau dasselbe.