Prof. Dr. Christoph Meinel (1954) ist Direktor und Geschäftsführer des Hasso-Plattner-Instituts für Digital Engineering gGmbH (HPI) und Dekan der Digital Engineering Fakultät der Universität Potsdam. Er ist Professor für Informatik und leitet das Fachgebiet für Internet-Technologie und Systeme. Meinel ist u.a. Mitglied der acatech, der Nationalen Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und Gastprofessor an Universitäten im In- und Ausland. Er hat die ersten europäischen MOOC-Plattform openHPI entwickelt, leitet das vom Bundesforschungsministerium beauftragte Schul-Cloud Projekt und ist Programm-Direktor des HPI-Stanford Design Thinking Research Program.

 Ulrich Schmid hat für digitalisierung-bildung.de mit Prof. Meinel gesprochen.

Herr Professor Meinel, das Hasso Plattner Institut befasst sich gleich in zwei wichtigen Projekten mit dem Online-Lernen. Einerseits „openHPI„, das bereits seit einigen Jahren ein breites Angebot an offenen Online-Kursen mit Schwerpunkt IT anbietet, und andererseits die HPI Schul-Cloud, die eine Infrastruktur für schulische Lernprozesse entwickelt und nach einer ersten Testphase jetzt breiter zum Einsatz kommt. Wenn Sie einmal diese beiden Bildungssegmente betrachten: Wo stehen Deutschlands Schulen und Hochschulen in Sachen digitales Lernen? Und wo liegen im internationalen Vergleich die Unterschiede? 

Meinel: Deutschland ist im Bereich der Digitalisierung insgesamt sehr zögerlich und so gibt es auch beim digital unterstützten Lernens Aufholbedarf. Die Ursache dafür ist aber nicht bei mangelnder Finanzierung zu suchen. Über die Jahre wurde viel in Versuchsprojekte investiert, leider nicht nachhaltig und nur wenig erfolgreich. Es fehlen in Deutschland einfach die für das digitale Zeitalter passenden Governance-Strukturen. Die existierenden passen weder im Hinblick auf die notwendige Entscheidungsgeschwindigkeit, noch sind sie in Sachen IT-Infrastrukturen auf Kooperationen ausgerichtet, um Skaleneffekte erzielen zu können. Das gilt in besonderem Maße für das Bildungssystem.

Lassen Sie mich ein Beispiel dafür geben: Der „DigitalPakt Schule“ führt mit länderübergreifenden Projekten ein Instrument ein, mit dem die Bundesländer angeregt werden, gemeinsam Maßnahmen für Investitionen in digitale Infrastruktur zu erarbeiten. Es fehlen aber funktionierende politische Strukturen, die sich aktiv und effizient darum kümmern könnten. Ja, es wird darüber diskutiert, solche Strukturen aufzubauen, aber da gibt es keine effizienten Entscheidungsmechanismen. Bisher arbeitet eben jedes Bundesland für sich allein, manche allem Anschein nach ohne rechten Plan.

Was bedeutet das konkret für die Schulen und Hochschulen?

Meinel: In den Schulen ergibt sich ein sehr uneinheitliches Bild: Es gibt tolle Einzelprojekte und viele theoretische Diskussionen über zeitgemäßes, digital unterstütztes Lernen. Wenn etwas funktioniert, dann nur sehr punktuell. Der Erfolg dieser Einzelprojekte hängt immer stark vom Engagement einzelner Menschen ab. Es fehlen einfach landesweite oder besser noch länderübergreifende Infrastrukturen und Netzwerke, um die Learnings aus den einzelnen Projekten auszurollen und zu skalieren.

Was die Hochschulen angeht: Im HPI glauben wir an praxisnahes und projektbasiertes Lernen in kleinen Gruppen, sicherlich eine Grundlage des Erfolgs unseres Instituts. Dort, wo dies aufgrund von großen Studierendenzahlen und nur wenigen Lehrenden nicht möglich ist, müssten die Universitäten noch viel mehr auf digitale Lehrmethoden setzen, um wenigstens auf diese Weise das individualisierte Lernen zu fördern. Mit unserer Plattform haben wir einen Weg gefunden, auch das lebenslange Lernen zu unterstützen. 600.000 eingeschriebene Lerner zeigen, dass es da eine große Nachfrage gibt. Gute Universitäten werden ihren Bildungsauftrag im digitalen Zeitalter mit seiner sich drastisch beschleunigenden Wissensvermehrung nicht nur auf die Bildung von Studenten beschränken, sondern sich auch für berufsbegleitendes lebenslanges Lernen verantwortlich fühlen. Wir als HPI mit unseren Kompetenzen im Bereich der digitalen Technologien wollen jedenfalls einen Beitrag leisten zur digitalen Aufklärung und Bildung in allen Altersgruppen.

Speziell die HPI Schul-Cloud wird – obwohl sie ja noch in der Entwicklungs- und Pilotphase ist – immer wieder kritisch betrachtet. Einer der Kritikpunkte lautet, dass es im Markt bereits ausreichend Lösungen privater Anbieter gebe und eine öffentlich geförderte Entwicklung daher nicht nötig sei; ein anderer Punkt kommt eher aus einzelnen Bundesländern, die befürchten, dass die HPI Schul-Cloud die besonderen landesspezifischen Anforderungen nicht ausreichend abdeckt. Was sagen Sie dazu?

Meinel: Wir hören dies immer wieder und sind sehr erstaunt über diesen Blick auf die verfügbaren Systeme. Wenn es so viele gute und problemlos verfügbare Systeme gäbe, die man als Bundesland ohne Weiteres an seinen Schulen einsetzen könnte, dann würde dies doch längst passieren. Bayern würde nicht für viel Geld Mebis entwickeln, NRW nicht Logineo und Baden-Württemberg hätte sich nicht an Ella versuchen müssen.

Tatsächlich gibt es von unterschiedlichen Anbietern sehr viele verschiedene digitale Lernprogramme, Vokabeltrainer, Matheprogramme oder Simulationsprogramme für die MINT-Fächer, die alle im Unterricht sehr sinnvoll eingesetzt werden könnten. Allerdings fehlen dazu zum einen die notwendigen IT-Infrastrukturen, also schnelle Internetanbindung, WLAN-Zugang in jedem Klassenraum und mobile Geräte für Schüler und Lehrer, wenn man es nicht bei der Nutzung von Smartphones belassen will. Zum anderen fehlt eine all diese Lernprogramme integrierende digitale Lern- und Arbeitsumgebung in den Schulen. Dort können Hausaufgaben erarbeitet, Klassenarbeiten geschrieben, Dokumente und Präsentationen erstellt, geteilt und gespeichert werden. Aus einer solchen digitalen Lernumgebung heraus können Schüler und Lehrer im Unterricht ohne jede weitere Zugangsschwelle auf die verschiedenen Lernprogramme zugreifen. Mit unserer HPI Schul-Cloud entwickeln wir genau ein solches System, das so einfach genutzt werden kann, wie man über das Smartphone verschiedene Apps von unterschiedlichen Anbietern nutzen kann. Natürlich sind dabei besondere datenschutzrechtliche Vorgaben zu beachten, die anfallenden personenbezogenen Daten müssen streng geschützt werden. Deshalb lassen wir in der HPI Schul-Cloud nur einen pseudonymisierten Zugang zu den verschiedenen Lernprogrammen zu.

Wo liegt denn der Kernnutzen, der „USP“ Ihrer Lösung für die Schulen hierzulande?   

Meinel: Der USP der HPI Schul-Cloud liegt in der nutzerzentrierten Entwicklung einer freien und quellcodeoffenen Software (FOSS) unter Berücksichtigung von Konzepten wie „Security“ und „Privacy by Design”. Um ein stimmiges Gesamtpaket für Schulen zu entwickeln, stützen wir uns neben unserer technischen Expertise auf die Innovationsmethode des Design Thinking. Es gibt keinen Entwicklungsschritt ohne Abstimmung mit den Schülern und Lehrern in den zurzeit ca. 200 Partnerschulen des bundesweiten Schulnetzwerkes MINT-EC und in den Kooperationsprojekten mit den Bundesländern Niedersachsen und Brandenburg. Dabei haben wir den Anspruch, eine zeitgemäße Pädagogik und Didaktik zu ermöglichen. Das macht uns anschlussfähig für Projekte, die dann von den Ländern getragen werden. Wir halten es für keine akzeptable Option, sich in diesem besonders sensiblen Bereich an einen kommerziellen Anbieter mit proprietärer Software zu binden. So gut die Produkte der großen amerikanischen Digitalunternehmen auch immer sind – es kann nicht das Ziel sein, dass wir diese zur Grundlage der staatlichen Bildungsinfrastruktur in Deutschland machen.

Ein System wie die Schul-Cloud zu entwickeln und zu testen ist das eine – sie dann dauerhaft zu betreiben, weiterzuentwickeln und auszubauen, das andere. Haben Sie schon eine Idee, wie Ihre Schul-Cloud nachhaltig und vor allem innovations- und nutzerzentriert betrieben werden könnte?     

Meinel: Entscheidend für den Erfolg bei der digitalen Transformation unseres Schulsystems ist, dass sich die Bundesländer auf eine länderübergreifende Nutzung und Pflege solcher digitalen Lernumgebungen einigen. Kleinstaaterei kommt an dieser Stelle nicht nur teuer zu stehen, sondern macht es auch schwer, Schritt zu halten bei der notwendigen Weiterentwicklung. Der Föderalismus bleibt gefordert, wenn es um die Auswahl der einzelnen Lernprogramme geht, die aus dieser Lernumgebung heraus zugreifbar sind.

Die Herausforderung für die HPI Schul-Cloud, die eine solche moderne und hochleistungsfähige digitale Lernumgebung bieten soll, ist eher eine politische, als eine technische. Wie da ein gemeinsamer Einsatz und Betrieb über Ländergrenzen hinweg genau aussehen kann, explorieren wir gerade. Den Betrieb der HPI Schul-Cloud selbst kann jeder versierte Dienstleister sehr einfach und problemlos auf jeder modernen Cloud-Plattform übernehmen. Zu klären ist, wie die Schul-Cloud weiterentwickelt wird. Klar ist, dass das Projekt nach Ende der Laufzeit nicht am HPI selbst verbleiben wird. Wir sind ein Universitätsinstitut und betreiben Forschung und Lehre. In unserem Schul-Cloud-Team aber gibt es ein großes Interesse und Commitment, sich in welcher Form auch immer in der Rolle eines Integrations- und Servicepartners für die Weiterentwicklung der Schul-Cloud zu engagieren.

Derzeit ist KI das große Thema – einerseits als Qualifizierungs-Herausforderung, andererseits aber auch als eine Technologie, die neuartige, personalisierte Bildungsangebote ermöglicht. Das HPI hat als akademischer Bildungsanbieter mit beiden Aspekten zu tun: Sie bieten neue Bildungsangebote im KI-Bereich an und setzen dabei sicherlich auch innovative Lehr- und Lern-Methoden ein. Können Sie uns bitte Ihre Strategie in Sachen KI in wenigen Sätzen darstellen: Wo legen Sie den Schwerpunkt in Forschung und Lehre? 

Meinel: Für uns ist KI keine neue Entwicklung, in der Grundlagenforschung ist Deutschland seit Jahrzehnten führend dabei. Dank der neuen KI-Technik des Deep Learning sehen wir aber seit einiger Zeit viele neue, auch alltagstaugliche Anwendungen. Diese Entwicklung möchten wir nicht nur forschend weiterbegleiten, sondern auch aktiv mitgestalten. KI-Forschung im HPI ist ein Querschnittsthema, viele unserer Fachbereiche sind hier erfolgreich tätig, ob es um Anwendungen im Bereich Gesundheit, komplexer Systeme, betrieblicher Anwendungen, Social Media oder Cybersicherheit geht.

Um hier nur ein Beispiel zu nennen: Bei der erfolgreichen KI-Methode des Deep Learnings werden komplexe neuronale Prozessornetzwerke mittels riesiger Datenmengen trainiert, Bilder zu erkennen, Videodaten inhaltlich zu erschließen oder Sprachkonversation zu betreiben. Da gibt es tolle Fortschritte. Wir denken aber auch nach, wie die dazu erforderlichen riesigen Rechenkapazitäten und Energieverbräuche reduziert werden können. So haben wir am HPI das Open-Source-Framework BMXNet für binäre neuronale Netzwerke entwickelt, das eine effizientere und beschleunigte Berechnung bei gleichzeitiger drastischer Reduzierung des Energiebedarfs und der Modellgröße erlaubt.

Noch eine Frage zur globalen Einordnung: Derzeit können wir beobachten, wie die großen internationalen Bildungsplattformen, sei es Coursera, edX, Google oder Future Learn, aber auch chinesische Anbieter wie zum Beispiel Tencent, richtig Gas geben beim Digitalen Lernen. Sie können sich dabei auf zum Teil spektakuläre Investments stützen und nehmen riesige Märkte in Asien und Afrika ins Visier. Wie können deutsche Bildungsanbieter – seien es staatliche oder private – hier noch mitspielen?

Meinel: Wir sollten hier ehrlich sein: Wenn wir den großen amerikanischen und chinesischen Plattformen gegenüber wettbewerbsfähig sein wollen, dann wird das nur auf europäischer Ebene gehen. Davon sind wir leider weit entfernt, wir gehen solche Themen ja noch nicht einmal deutschlandweit an.

Auch wenn man schaut, welche Summen Anbieter wie beispielsweise Bettermarks in die Entwicklung moderner adaptiver Lernsoftware investiert haben, dann kann sich das bei einem Einsatz in einem einzelnen Bundesland nicht rentieren, selbst der deutsche Markt reicht da kaum aus. Digitale Systeme und Plattformen brauchen sehr große Nutzerzahlen, sonst können sie ihre Vorteile nicht ausspielen. Das gilt natürlich auch für den effizienten Einsatz einer integrierenden Bildungsplattform im Schulsystem wie der HPI Schul-Cloud.

Wo sehen Sie „unsere“ Chancen?

Meinel: Wenn wir dann bei KI-Anwendungen im Bildungsbereich auch noch international mitreden wollen, müssen wir groß, also zumindest deutschlandweit, besser noch europäisch denken. Denn dabei sind die zum Trainieren der Anwendungen notwendigen Datenmengen von entscheidender Bedeutung und nicht die eingesetzten KI-Methoden selbst. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass amerikanische Konzerne auch im Schulbereich tolle „kostenlose“ Angebote machen. Es geht ihnen darum, Daten einzusammeln und damit dann neue, auch kostenpflichtige KI-Anwendungen zu entwickeln. Nur wenn wir die bei der Nutzung von Lernsoftware und digitalen Lernumgebungen anfallenden Daten selbst sammeln, können wir leistungsfähige KI-basierte Bildungsanwendungen entwickeln und zum Wohle unserer Bürger einsetzen, natürlich immer unter den Bedingungen der europäischen Datenschutzverordnung.

Es braucht mehr Anstrengungen, auch auf europäischer Ebene, um zu Kooperationen im Bereich der Bildungsmedien und -software zu kommen. Dabei kann es helfen, dass Bildungssysteme stark von kulturellen Prägungen beeinflusst werden, die globale Anbieter nicht spezifisch berücksichtigen können. Daraus ergibt sich eine Chance für deutsche und europäische Anbieter, die wir nur beherzt nutzen müssen.