Lernen mit digitalen Medien bietet ein gewaltiges Potenzial, um Lernprozesse zu verbessern, Lehrkräfte zu entlasten, individuelle Interessen und Neigungen oder inklusive Bildung zu fördern. Dies sind allesamt Ziele, die jeder bedenkenlos unterstützen dürfte.  Dennoch gibt es gute Gründe, über eine „Ethik des digitalen Lernens“ nachzudenken.* Denn beim Einsatz digitaler Lernmedien gilt es stets auch zu fragen: Wie lassen sich widerstreitende Ziele und Werte ausbalancieren? Was dürfen Lehrende und Lernende tun und was nicht?

Teilhabe vs. Stigmatisierung

Eines der zentralen Argumente, warum das Lernen mit digitalen Medien gefördert wird, ist die Herstellung gleicher Bildungschancen: Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, können von zu Hause aus lernen. Assistive Lernsoftware wie Screenreader oder Bildschirmlupen sorgen dabei für Barrierefreiheit. Personen mit Lernschwierigkeiten können Lektionen ohne fremde Hilfe immer wieder bearbeiten. Sozial Benachteiligte können kostenlose Online-Kurse belegen oder sich Lernvideos ansehen. Damit erleichtern es digitale Lernmedien, ethisch begrüßenswerte Ziele wie Teilhabe und Partizipation zu stärken.

Aber was ist, wenn sich beispielsweise sozial Benachteiligte bestimmte Endgeräte oder eine Datenflatrate nicht leisten können? Was wenn Eltern ihrem Kind in einer Tabletklasse kein eigenes Gerät kaufen können? Hier setzt die Ökonomie der Teilhabe Grenzen – und das ist ein ethisches Problem. Manche Schulen schaffen daher Leihgeräte für bedürftigte Schülerinnen und Schülern an, um diesen Konflikt aufzulösen. Doch auch das kann sich in einer Schulklasse stigmatisierend auswirken.

Digitale Regeln vs. Analoge Gewohnheiten

Ein anderer ethischer Konflikt kann entstehen, wenn die privaten Kommunikations- und Lerngewohnheiten auf Regeln von Institutionen treffen. Man ist es gewohnt, Vokabeln mit einer kostenlosen App zu lernen, man tauscht sich mit anderen Lernenden über WhatsApp aus und arbeitet an gemeinsamen Dokumenten auf Google Drive. Darf man das auch im Unternehmen? Darf man die Vokabel-App  auf das Diensthandy laden? Nicht selten lautet die Antwort: Nein.

Nicht nur im Arbeitsleben, auch in der Schule gibt es oft strenge Regeln, die die eigenen Lerngewohnheiten und damit die persönliche Lernmotivation ausbremsen. Man kann seinem Lehrer vielleicht eine Nachricht schicken, aber er darf sie nicht beantworten. In manchen Schulklassen sind Smartphones während des Unterrichts komplett verboten. Der daraus erwachsende ethische Konflikt ist in der Firma wie in der Schule ähnlich: Man muss entscheiden, ob man die Regeln heimlich umgeht oder eben auf digitale Lernhilfen ganz verzichtet.

Eine Lösung dieses Problems können regelkonforme Alternativangebote sein, z.B. Intranet-Kommunikation anstelle von WhatsApp oder die Nutzung von Dienst- oder Schulsmartphones anstelle der Privatgeräte. Doch auch solche Aus- und Umwege erfordern oft langwierige Prozesse, die das Nadelöhr zwischen Arbeits- bzw. Schulrecht, Datenschutz und begrenzten Budgets passieren müssen.

Mensch vs. Maschine

Es gehört zum digitalen Lernen dazu, dass Prozesse automatisiert werden und mitunter eine räumliche Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden entsteht. In vielen Fällen ist dies ein Vorteil, zum Beispiel wenn man in einem Dorf wohnt, dessen schlechte ÖPNV-Verbindungen den Besuch eines Volkshochschulkurses in der nächsten Kreisstadt unmöglich machen. Doch „Distance Learning“ kann das Lernen auch unpersönlicher machen.

Für Lehrende und Dozenten ist es eine ethische Herausforderung, wenn sie etwa in einem solchen Volkshochschulkurs digitale Lernmedien einsetzen sollen, in ihrer Berufssozialisation und -erfahrung aber die motivierende und auf individuelle Lernbedürfnisse eingehende Lehrperson im Mittelpunkt steht. Lernen mit Hilfe eines Web-Based-Trainings wirkt für sie wie ein klarer Bruch mit dieser Tradition. Spontane Rückfragen und Antworten sind hier nicht möglich und der Lehrende hat keine Möglichkeit, auf die aktuelle Stimmung in einem Kurs oder einer Klasse unmittelbar zu reagieren. Aus ähnlichen Gründen wird auch bei Webinaren die Gefahr gesehen, dass ein Dozent hier nicht als authentisch wahrgenommen werden und deshalb der Lernerfolg geringer ausfallen könnte.

Bemängelt wird auch, dass man für die Nutzung von digitalen Lernangeboten oft viele persönliche Daten preisgeben muss und ein Stück weit zum „gläsernen Menschen“ wird. Das gilt besonders für die Erhebung von Lerndaten, etwa über die Art der Bearbeitung von Lektionen, die Geschwindigkeit beim Ausfüllen von Tests oder den Zeitpunkt einer bestimmten Lektüre. Wie die jeweilige Software diese Daten nutzt, also beispielsweise einfacher formulierte Texte vorschlägt oder komplexere Aufgaben stellt, ist für Lernende meist nicht durchschaubar. Das vielversprechende Lernprogramm wird zur datensammelnden „Black Box“.

Hier gibt es keine einfachen Lösungen, aber ein erster wichtiger Schritt wäre auf jeden Fall, die digitalen Lernsysteme so zu gestalten, dass sie nachvollziehbar machen, wozu welche Daten gesammelt werden und wie und warum eine Software auf ein bestimmtes Lernverhalten reagiert.

Noch größer sind die Bedenken, wenn Maschinen Menschen imitieren. Es werden bereits Lernsysteme angeboten, bei denen ein digitaler Lernassistent sich mit den Lernenden unterhält, sie an ihre Lernziele erinnert und nachfragt, wenn sie diese nicht erreichen. Die Befürchtung liegt nahe: Irgendwann weiß man nicht mehr, ob man es mit einem Menschen oder mit einer Maschine zu tun hat. Dem ließe sich begegnen, indem automatisierte Entscheidungen und sogenannte „Social Bots“ immer als solche gekennzeichnet werden. Die sogenannten „Algo.Rules“ bieten weitere Anregungen zur ethischen Gestaltung algorithmischer Systeme.

Lernwerkzeug vs. Störfaktor

Bleibt noch das bereits angesprochene Problem mit den Smartphones im Klassenzimmer oder Seminarraum. „Bring your own device (BYOD)“, also die eigenen Endgeräte als Lernwerkzeuge im Unterricht nutzen, hat den Vorteil, dass alle Lernenden ihre Geräte gut beherrschen und man sie als Bildungsinstitution nicht extra anschaffen muss.

Doch die Meinung zu „BYOD“ ist zwiespältig, wie eine Auswertung des „Monitor Digitale Bildung“ über alle Lernsektoren hinweg zeigt. Lehrende sehen einen motivierenden Effekt, halten Smartphones aber auch für einen Störfaktor, der die Aufmerksamkeit der Lernenden absorbiert. Wäre es deshalb ethisch geboten, Handys im Unterricht zu verbieten?

Auch hier gibt es keine Patentlösung, wohl aber eine Leitlinie: Smartphones sollten zu unterrichtsbezogenen Zwecken eingesetzt werden und nicht aus privaten Gründen. Gerade weil die Verlockungen mobiler Endgeräte mit ihren unzähligen Funktionen so groß sind, sollten von vornherein klare Regeln für den Einsatz im Unterricht kultiviert und auch kontrolliert werden.

Fazit

Die ethische Debatte in der digitalen Bildung ist bereits im vollen Gange, wie die verschiedenen Einzelaspekte in diesem Beitrag illustrieren. Eine Einheitslösung für all diese ethischen Fragen ist nicht in Sicht. Vielmehr erfordert jeder Zielkonflikt beim digitalen Lernen ein individuelles Abwägen der jeweiligen Vor- und Nachteile, das in Betriebsvereinbarungen, schulinternen Regelungen, ganz konkreten Maßnahmen zur Förderung der Medien- und Lernkompetenz und im Extremfall auch in gesetzgeberischen Initiativen münden kann.

 


*Die LAG KEFB NRW (Landesarbeitsgemeinschaft für katholische Erwachsenen- und Familienbildung in Nordrhein-Westfalen e.V.) hat im Frühjahr 2019 in Köln Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Praxis zu einem Fachgespräch an einen Tisch geholt, um über verschiedene Aspekte dieses Themas zu diskutieren. Einige Themen aus dieser Diskussion und darauf basierende Schlussfolgerungen der Autoren spiegelt dieser Beitrag wider.