Haben Sie solche Szenen auch schon beobachtet? Eine Touristin fotografiert mit ihrem Smartphone einen Wegweiser in einem Kaufhaus. Was kann so spannend an einem Kaufhaus-Schild sein, dass man es fotografieren sollte? Doch dann wird klar – es geht nicht ums Fotografieren, sondern ums Verstehen. Mit Hilfe von Diensten wie Google Translate, itranslate oder dem deutschen Anbieter DeepL lassen sich Texte und gesprochene Sprache mittlerweile in Sekundenschnelle und bei Bedarf eben auch spontan zur Orientierung im Kaufhausübersetzen, bei Google sogar in über 100 Sprachen. Die Dienste übersetzen nicht nur kurze Texte – mit ihnen gelingt durchaus auch eine rohe Übersetzung wissenschaftlicher Aufsätze. Außerdem „verstehen“ einige von Ihnen gesprochenen Text und können diesen akustisch in eine Fremdsprache umwandeln.

Da liegt die Frage nahe: Wenn diese Tools inzwischen so mühelos funktionieren – muss man dann überhaupt noch Fremdsprachen lernen? Und sind dann auch die vielen digitalen Werkzeuge zum Sprachenlernen überflüssig? Immerhin ist die Vermittlung von Sprachkenntnissen einer der wichtigsten Märkte für die Produzenten digitaler Lernsoftware, weil die Lerninhalte beim Spracherwerb über die Jahre hinweg annähernd gleich bleiben und viele Vermittlungsformen standardisierbar sind. Schon seit Jahren bieten etablierte Verlage wie Klett, Pons und Langenscheidt, aber auch jüngere Unternehmen wie Lesson nine, LinguaTV, Rosetta Stone oder duolingo digitale Lernanwendungen an. Einige dieser Anbieter haben schon früh mit Spracherkennung zur Kontrolle von Aussprache gearbeitet oder andere Innovationen wie etwa Gamification-Elemente zur Lernmotivation genutzt. Sollte dieses wichtige Teilsegment des E-Learning-Markts nun hinfällig werden, weil sich der Aufwand, eine fremde Sprache zu lernen, dank der automatischen Übersetzer nicht mehr lohnt?

Diese Frage stellt sich zur Zeit auch die Deutsche Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) – für ihre Mitglieder könnte die wachsende Bedeutung der Übersetzungs-Dienste sogar existenzbedrohend werden, denn diese Entwicklung beträfe ja viele Präsenzkurse zum Spracherwerb, sei es in der Schule, in Hochschulen, in der Erwachsenenbildung und im Corporate Learning. Auf der Konferenz „Umbrüche durch Digitalisierung?“ in Würzburg meldeten sich hierzu verschiedene Fachvertreterinnen und -vertreter zu Wort.

Barbara Schmenck, Germanistik-Professorin an der University of Waterloo in Kanada, berichtet davon, dass an nordamerikanischen Universitäten Promovenden und Promovendinnen bisher verpflichtend eine Lesekompetenzprüfung in einer zusätzlichen Fremdsprache absolvieren müssen. „Zur Zeit wird darüber diskutiert, diese Prüfung abzuschaffen – mit der Begründung, dass diese redundant wird, wenn Machine Translation die Aufgabe der Übersetzung übernehmen kann. Dann würden bei uns ganz viele Sprachkurse wegbrechen und damit die Notwendigkeit, sich überhaupt mit anderen Sprachen zu beschäftigen“, so die Professorin.

Entwicklungen wie diese sind auch in Deutschland denkbar. Übersetzer-Apps rütteln damit an den Grundfesten des Sprachunterrichts. Dabei dient dieser eigentlich nicht nur dem praktischen Lese- oder Hörverständnis im engeren Sinne. Sprachdidaktiker differenzieren hier klar zwischen den Zielen, in einem fremden Land nach dem Weg zu fragen oder ein Verständnis für eine andere Kultur zu entwickeln. Detmar Meurers, Professor für Computerlinguistik an der Universität Tübingen, schlägt die Brücke vom Spracherwerb zum Verständnis kultureller Kontexte: „Demokratieverständnis, Interpretation, all diese Dinge bauen aufeinander auf und ergänzen sich. Sprache ist eben mehr als nur die Inhalte.“

Diese Argumentation unterstützt auch Franziska Baier, Pädagogische Psychologin an der Universität Frankfurt: „Der Sprachenunterricht hat die wichtige Aufgabe, auch Vorurteile abzubauen. Kategorisierungen vorzunehmen und Vorurteile zu bilden, ist tief im menschlichen Denken verankert. Unterschiedlichkeit anzuerkennen, zu akzeptieren und zu integrieren, das kann der Erwerb einer Fremdsprache leisten.“

Dies spräche auf jeden Fall für den Erhalt des (digitalen wie analogen) Fremdsprachenunterrichts. Läuft die Entwicklung also darauf hinaus, dass für sehr einfache Übersetzungsaufgaben wie das Lesen einer Speisekarte oder den Einkauf im Supermarkt die Nutzung einer Übersetzungssoftware ausreicht, für höhere Ansprüche ein Sprachkurs aber doch unerlässlich bleibt?

Nach Einschätzung der Expertinnen und Experten der DGFF werden wir auch in Zukunft Sprachen lernen, um uns mit Menschen aus anderen Ländern „auf Augenhöhe“ zu verständigen. Wir werden nach wie vor Vokabeln lernen – sei es (eher seltener) auf Karteikarten oder (eher häufiger) mit einer Vokabel-App. Wir werden die Aussprache gemeinsam mit einem Coach oder mittels Spracherkennung üben.

Ein Vorschlag: Zu diesen bewährten analogen und sich zunehmend verbreitenden digitalen Methoden könnten auch Translator-App hinzukommen und sinnvoll in den Sprachunterricht integriert werden. Mit ihnen ließen sich beispielsweise solche Texte scannen und übersetzen, die eine Sprachschülerin besonders interessieren. Das kann ein Artikel in der „New York Times“ sein oder auch eine Hinweistafel in einem italienischen Museum. Die hier erstmals auftretenden Vokabeln würden in eine Vokabelliste aufgenommen, die man anschließend trainieren kann. Die Texte lassen sich im Rahmen eines Sprachkurses aber auch für Grammatik-Übungen oder Lückentexte verwenden – und mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz je nach Lernfortschritt hinsichtlich ihres Schwierigkeitsgrads anpassen.

Damit wäre der scheinbare Gegensatz Übersetzungs-App versus Sprachunterricht aufgelöst. Die Translator-App wird – neben ihrer Funktion als einfache Übersetzungshilfe im Alltag – ein zusätzliches Werkzeug für den systematischen Spracherwerb, mit der man im Sprachkurs gezielt eigenen Neigungen und Lernbedarfen nachgeht. Das wirkt sich in der Regel auch positiv auf die Motivation aus – idealerweise nicht nur auf die eigene, sondern auch die des Sprachlehrers, der nun mehr Gelegenheit hat, weit jenseits des reinen Lese- oder Sprechvermögens wirksam zu werden.