Braucht Bildung 2021 tatsächlich einen Lernkompass? Aber sicher doch! Denn in einer von Krisen und Unsicherheit geprägten Zeit müssen wir den Schüler:innen eine Orientierungshilfe an die Hand geben, die sie ermächtigt, ihr Leben und ihre Gemeinschaften zum Wohle aller verantwortungsvoll zu gestaltenDieser Anspruch lässt sich jedoch nur umsetzen, wenn Bildungseinrichtungen die Art, wie Menschen lernen, sich Wissen aneignen und Kompetenzen aufbauen, fundamental verändern. Diese Veränderungen verunsichert viele der in Bildung Tätigen, da es auch bedeutetsich selbst verändern zu müssen. Doch durch diese Panikzone müssen wir nun mal durch, denn: „Besser geht nur anders“  und es gibt vieles, was wir laut UNESCO besser machen müssen.

Was könnte uns in diesem anstehenden Prozess mehr helfen als ein Lernkompass? Nicht für alle Fragen bietet er die passenden Antworten und doch eignet er sich für dieses „Neu-und-anders-machen“ als Werkzeug. An vielen Stellen offenbart er Know-how und zumindest die Chance, sich nicht allein, sondern gemeinsam weiterentwickeln zu können und zu verändern. Wir profitieren von den Erfahrungen anderer Schulen, die sich schon auf den Weg gemacht und den Mut gefunden haben Neues auszuprobieren und die Lösungen für verschiedene Herausforderungen entwickelt haben.  

Der OECD Lernkompass 2030 ist für mich jedoch in erster Linie ein geeigneter Bezugsrahmen, ein übergeordnetes Leitbild für alle, die sich über ihre eigenen Grenzen hinausbewegen und einer neuen Vision von Lernen folgen möchten. Für mich zeigt er auf, wie sich die Bildung der Zukunft gestalten lässt und welche Kompetenzen Schüler:innen brauchen, um für ihr persönliches und das gesellschaftliche Wohlergehen einzutreten.  

 

Worugeht es im Lernkompass 2030? 

Als übergeordnetes Ziel nennt der Lernkompass die Entwicklung einer eigenständigen Gestaltungs- und Handlungskompetenz (engl. Student Agency) bei Schüler:innen.  Die Metapher eines Lernkompasses, entwickelt im OECD-Projekt „Future of Education and Skills 2030“ steht für die Grundannahme, dass Schüler:innen lernen können sich selbstständig durch unbekanntes Terrain zu navigieren. Dafür entwirft der Lernkompass ein Szenario von Lernen, wie es im Jahr 2030 organisiert sein sollte, um Bildung auf die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) auszurichten und zugleich übervolle Lernpläne zu „entrümpeln“.  

Um sich diese “Student Agency”, also Handlungs- und Gestaltungskompetenzen aneignen zu können, benötigen Kinder und Jugendliche jedoch von den für Bildung Verantwortlichen eine Orientierungshilfe, einen Lernkompass. Damit können sie lernen, sich eigene Ziel zu setzen, verantwortlich zu handeln, über das eigene Handeln zu reflektieren und notwendige Veränderungen herbeizuführen. „Student Agency“ hängt eng zusammen mit der Entwicklung einer eigenen Identität und einem Zugehörigkeitsgefühl. In sozialen Kontexten entsteht zugleich die Co-Agency.  Sie entwickelt sich im interaktiven Miteinander mit Gleichaltrigen, mit Lehrkräften, Eltern und Gemeinschaften, quasi in organischer Weise in einem umfassenderen Ökosystem des Lernens.  

Um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern, muss Kindern und Jugendlichen unabhängig von Leistungsbewertungen das Gefühl und die Überzeugung von Handlungskompetenz vermittelt werden. Sie müssen daran glauben, dass sie zur Gestaltung einer Welt beitragen können, in der Wohlergehen und Nachhaltigkeit für sie selbst, für andere und für den ganzen Planeten erreichbar sind. Nur so entwickeln sie „Transformationskompetenzen“ und können mit ihren Begabungen erfolgreich zur Entwicklung einer guten Zukunft beitragen. In der im Lernkompass propagierten „neuen Normalität“ von Schule werden stabile Wertesysteme aufgebaut, belastende Spannungen und Dilemmata abgebaut sowie Verantwortung für sich und die Gemeinschaft übernommen. Das dafür notwendige empathische und verantwortungsvolle Handeln kann über Achtsamkeit entwickelt werden, welche im neuen System Schule integriert ist. Als Basis für die Entfaltung von vielfältigen Potenzialen und Begabungen bei allen Lernenden sollen Lerngrundlagen (core foundations), Wissen, Haltungen und Werte für das weiterführende Lernen in allen Curriculumbereichen erworben werden.  

Viele wird es beruhigen, dass auch im Lernkompass Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen, digitale und datenbasierte Literalität und Gesundheit als Lerngrundlagen genannt werden. Wissen meint gesicherte Fakten, Begriffe, Konzepte, Ideen und Theorien zum Verständnis der Welt. Dazu gehören sowohl theoretische Konzepte und Ansätze als auch ein praktisches, aus konkreter Aufgabenbewältigung resultierendes Verständnis. Disziplinäres oder fachspezifisches Wissen werden als eine wesentliche Verständnisgrundlage genannt, auf der Lernende andere Wissensarten aufbauen können. Interdisziplinäres Wissen und epistemisches Wissen helfen, den Zweck und die Anwendungsmöglichkeit des Gelernten zu verstehen und disziplinäres Wissen zu erweitern.  

Insgesamt geht es beim Lernen der Zukunft nicht mehr um das Anhäufen von Daten, sondern vielmehr um prozedurales Wissen. Dieses hilft den Kindern und Jugendlichen bei der Lösung komplexer, echter Probleme, auch im digitalen Bereich. Digitale Skills werden sich in der neuen Realität von Lernen in demselben Maß weiterentwickeln, wie der technologische Fortschritt. Im Lernkompass werden zudem neben kognitiven und metakognitiven Skills, zu denen u. A. das kritische und kreative Denken gehören, soziale und emotionale Skills als individuelle Potenziale und Grundlagen beschrieben, die Kinder und Jugendliche benötigen, um sich zu selbstständigen, verantwortungsbewussten und mündigen Bürgern des 21. Jahrhunderts zu entwickeln.  

Persönliche, soziale, gesellschaftliche und menschliche Werte bzw. Haltungen beeinflussen den Transfer von Wissen und Skills und entwickeln sich abhängig voneinander. Sie sind Motivation zum Erwerb und zur Nutzung von allem, was „Wohlbefinden“, eine verantwortungsvolle Persönlichkeit und gute Bürgergesellschaft schafft. Der Lernkompass beschreibt diese Werte g als Unterstützung von gesellschaftlichen und menschlichen Werten, die soziales Kapital und gesellschaftliches Wohlergehen fördern sowie für moralische Agency notwendig sind. 

Als wirkungsvoller Prozess für die neue Realität von Lernen wird der sogenannte Antizipations-, Aktions- und Reflexionszyklus (AAR-Zyklus) genannt. Damit kann Denken kontinuierlich verbessert, zielgerichtet gelernt und verantwortungsvoller gehandelt werden. Kurzgefasst: In der ersten Phase antizipieren Lernende, wie sich ihre heutigen Handlungen auf die Zukunft auswirken können. In der Phase der Aktion entwickeln sie den Willen und die Fähigkeit, ihr Handeln auf das allgemeine Wohlergehen auszurichten. Die Phase der Reflexion führt dazu, dass die Lernenden sinnstiftend für ihr persönliches Wohlbefinden und das Wohlergehen der Gesellschaft und der Umwelt eintreten.  

 

Wie können Schulen vom Lernkompass profitieren? 

Schulen können den Lernkompass als wirkungsvollen Treiber für die Schul- und Unterrichtsentwicklung nutzen. Auf dem Weg in eine ambitionierte, gerechte Zukunft und in der Auseinandersetzung mit den damit einhergehenden Fragen generiert der Lernkompass eine motivierende Vision von zukunftsorientierter Bildung. Er überzeugt dabei mit Beispielen, Methoden, Zielen und einem Wertesystem, welches den täglich neuen Krisen und dem notwendigen gesellschaftlichen Wandel standhalten kann. Wenn wir davon ausgehen, dass Schulentwicklung als klassische Trias von Organisations-, Unterrichts- und Personalentwicklung tatsächlich humane Potenziale heben und materielle sowie digitale Ressourcen sinnvoll nutzbar machen kann, gibt der Lernkompass in allen drei Bereiche die dafür notwendige Orientierung. Viele Schulen versuchen diese Vision mühsam und langwierig über die klassischen Leitbildentwicklungsprozesse zu definieren, deren Ergebnis doch häufig nur ein Papiertiger ist. Denn Leitbilder, die sich nicht den zentralen Bezugspunkt – das Lernen der Kinder – beziehen, haben auch wenig Auswirkungen auf dessen Neugestaltung. die Neugestaltung von Lernen.  

Schulen, die sich am Lernkompass orientieren, bekennen sich dazu, sich auf die Lernprozesse zu fokussieren, die Potenziale und Ressourcen aller am Schulleben Beteiligten so sinnstiftend wie möglich für das Wohlergehen aller und die Zukunft unseres Planeten einzusetzen. In einem co-kreativen Prozess kann so ein stabiles „Wir“ und Klarheit über „für wen“ und „wofür“ entstehen und zu einem anderen, tieferen Lernen (“deeper learning”) führen.  

Der Lernkompass versucht die größte Frage von allen zu beantworten: In welcher Welt wollen wir leben und was müssen wir tun, um Kinder und Jugendliche zu befähigen diese zu gestalten? Als Antwort auf diese Fragen verabschiedeten die Vereinten Nationen 2015 die sog. SDGs (Sustainable Development Goals). Hinter diesen 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung liegen sehr ehrgeizige und dringend notwendige Maßnahmen, um unseren Planeten dauerhaft zu schützen und um unsere Welt zu einer besseren Welt zu machen. Und der Lernkompass möchte den Kindern und Jugendlichen dabei helfen, eben jene Ziele zu erreichen. Denn unsere sich rasch verändernde Welt steht vor anhaltenden großen Herausforderungen: Technologische Umbrüche, Klimawandel, Verlust von Pflanzen- und Tierarten, Konflikte auf nationaler und internationaler Ebene, erzwungene Wanderungs- und Fluchtbewegungen, Intoleranz und Hass etc. vergrößern Ungleichheiten und wirken sich auf Jahrzehnte hinaus aus. Die COVID-19-Pandemie hat diese Ungleichheiten weiter verstärkt und die Zerbrechlichkeit unserer (Welt-) Gesellschaften wie unter einem Brennglas offengelegt. Mehr denn je haben wir eine gemeinsame Verantwortung, die am meisten benachteiligten Menschen zu unterstützen – und dabei gleichzeitig gemeinsam die natürlichen Lebensgrundlagen jetziger und zukünftiger Generationen zu schützen und zu erhalten. Noch nie war es deshalb so wichtig, Bildung zu einem universellen Recht und zu einer Realität für alle zu machen. 

Für solche Innovationen braucht es Schulen mit Mut, Lehrkräfte mit Kreativität und einer offenen Haltung, die Chancen für Veränderungen konstruktiv ergreifen und gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen neue Lernformen entwickeln, erproben, kritisch bilanzieren und umsetzen. Ebenso wie es der Lernkompass beschreibt. 

 

Zu guter Letzt: Warum die Digitale Drehtür dabei helfen kann: 

Themen wie die SDGs, das Internet der Dinge, der Umgang mit Künstliche Intelligenz, die Hybridisierung von Lernen sowie die Bereitstellung von Wissen on Demand brauchen mehr als nur eine traditionelle Schule. Heißt es nicht auch: „Die Erziehung eines Kindes braucht ein ganzes Dorf?“ Was mich in meiner Rolle als Leitung der Vernetzungsstelle Begabungsförderung Bremen aber noch weit mehr antreibt zu Veränderungen, ist das Wissen, dass wir es uns angesichts der vor uns liegenden Herausforderungen nicht leisten können Potenziale und Interessen von auch nur einem Kind zu übersehen oder zu ignorieren.  

Die Digitale Drehtür kann helfen, der Vielfalt von Interessen, Potenzialen und Begabungen der Kinder in Schulen gerecht zu werden. Auch in digitalen Lernräumen können die im Lernkompass aufgeführten Kompetenzen gut aufgebaut werden. Und bitte verschonen Sie mich mit dem Märchen, dass in digitalen Räumen keine lernförderlichen, stabilen Beziehungen entstehen können! 

Schulische Bildung braucht wirklich jede verfügbare Ressource, um sie bei Themen wie Smart Learning, Future Literacy, Live Experience, Design Fiction zu unterstützen. Wir brauchen einen digital-didaktischen Schulterschluss, damit Lernende als zukünftige Problemlöser, Forscher, Kritiker, Kreative, resiliente Kümmerer, Teamplayer selbstbestimmt ihre „Student Agency“ aufbauen können und zu Problemlösern, Forscherinnen, Kritikerinnen, Kreativen, resilienten Kümmerern und Teamplayerinnen heranwachsen. Denn für die Zukunft muss Bildung über die Schulgrenzen hinausgedacht werden. 

Sie fragen sich nun, wie wir als Lehrende die notwendige Handlungs- und Gestaltungskompetenz bei uns (Teacher-Agency) aufbauen können? Auch dazu habe ich mir Gedanken gemacht. Kleiner Tipp: Das hat ganz viel mit Achtsamkeit zu tun. Dazu mehr in einem zweiten Blogpost, wenn Sie mögen.