Lange hat das Bildungswesen auf die dringend benötigte Digitalisierung gewartet. Infolge der Schulschließungen wurde die Debatte um Digitalisierung und Schultransformation neu entfacht. Der Digitalpakt wurde weiter aufgestockt, technische Ausstattung für Schulen in größeren Mengen bereitgestellt und an vielen Stellen wurde mit der Qualifizierung von Lehrkräften begonnen. Dieser Entwicklungsprozess wird sich in den nächsten Jahren noch weiter fortsetzen und allen Beteiligten bessere Voraussetzungen zu digitalem Unterricht bieten. Aktuelle digitale Technologien bieten zahlreiche neue pädagogische Chancen und Ansatzmöglichkeiten, um Schulunterricht wirksamer zu gestalten, zu bereichern und individualisierte Lernprozesse zu erleichtern. Um diese Chancen und die nun verfügbare Technik zu nutzen, benötigen Schulen allerdings veränderte  pädagogische Konzepte und Modelle für den sinnvollen Einsatz. Ein solches Modell ist die „Digitale Drehtür“.

Von der analogen zur digitalen Drehtür

Beim traditionellen Klassenunterricht sollen alle Schüler:innen im gleichen Lerntempo dieselben Lernfortschritte erzielen. Um dem „one size fits all“-System zu entgegnen und den einzelnen Interessen und Begabungen der Schüler:innen gerecht zu werden, entwickelte Joseph Renzulli mit „The Enrichment Triade Model“ bereits 1977 die Grundidee einer Drehtür. Die Drehtür ist in der analogen Welt inzwischen ein anerkanntes und erprobtes Modell aus der Begabungs- und Begabtenförderung, welches Schüler:innen individuell fördern und stärken soll. In sogenannten Enrichmentprogrammen können Schüler:innen sowohl in verschiedenen Lernsettings- und umgebungen als auch an eigenständig ausgewählten Themen arbeiten, die das reguläre Curriculum ergänzen. Enrichmentprogramme in diesem Sinne zielen darauf ab, komplexes Lernen, nachhaltige Entdeckerlust und hohe Leistungen zu fördern. Das gilt nicht nur für leistungsstarke, sondern auch potenziell besonders leistungsfähige Kinder und Jugendliche. Diese benötigen ebenso wie alle anderen Schüler:innen eine für sie geeignete Form des Lernens sowie auf sie zugeschnittene, aktivierende Angebote der Beratung und Begleitung ihres Bildungsganges, um ihre Potentiale zur vollen Entfaltung bringen zu können.

Digitale Drehtür als extracurriculare Möglichkeit zur individuellen Förderung

Aus der länderübergreifenden Zusammenarbeit von acht Landesinstituten und Qualitätseinrichtungen ist im vergangenen Jahr die Idee einer „digitalen Drehtür“ entstanden. Ziel des Vorhabens ist die Schaffung und Etablierung sogenannter digitaler Drehtüren für alle Schüler:innen – länderübergreifend, für alle Schulstufen und Schulformen, übercurricular, fächerübergreifend, individualisierend, fördernd und selbstwirksam. Es gilt, die besonderen Möglichkeiten des digitalen Lernens grundsätzlicher und tiefgreifender auszuschöpfen, auch innerhalb des Regelunterrichts und in Phasen des Distanzlernens als integraler Bestandteil eines Differenzierungsangebotes.  Konkret soll das digitale Drehtürmodell allen Schüler:innen durch gezielte organisatorische Strukturen die Möglichkeit geben, während des Unterrichts bereichernde Angebote wahrzunehmen. Schüler:innen können für eine, mit der Lehrkraft abgestimmte Zeitspanne den Unterricht verlassen, um in einem digitalen Ressourcenraum mit vielfältigen Materialien und unter Anleitung von geschulten Lehrpersonen eigenständig an selbst ausgewählten Themen zu arbeiten. So wird ein flexibles System geschaffen, in dem die Schüler:innen während der Woche in unterschiedlichen Zeitfenstern, Enrichmenttypen und Gruppierungen arbeiten und lernen können. Richtig gestaltet kann das digitale Lernen sowohl intensive Beziehungsarbeit fördern als auch Rhythmisierung und Individualisierung ermöglichen. 

Für Schüler:innen vergrößert sich auf diese Weise das an einer Schule mögliche Angebotsspektrum an Differenzierung nach Inhalten, Niveaustufen, Arbeits- und Sozialformen erheblich. Förderangebote können folglich noch stärker an Interessen, Bedürfnissen, Lern- und Bildungszielen ausgerichtet werden. Neben fachlichen Aspekten können mit den Angeboten zudem zentrale Ziele einer personenorientierten Begabtenförderung wie die Förderung co-kognitiver Kompetenzen, Kompetenzen zur Selbststeuerung des Lernens oder Werteorientierungen adressiert werden. Gerade hochbegabte Schüler:innen profitieren oft merklich von freieren Möglichkeiten des Arbeitens, die das Drehtürmodell bietet. Zugleich zahlt das Modell direkt auf die offenen Fragen von Bildungsgerechtigkeit und den bestmöglichen Lern- und Bildungschancen ein: Hier muss das Ziel sein, Schüler:innen unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status zu fördern. Alle Schüler:innen sollen die Möglichkeit erhalten, Enrichment-Angebote, die sonst oft nur außerhalb des regulären Unterrichts stattfinden, wahrzunehmen. Durch das digitale Medium werden die Verfügbarkeit und der Zugang zu Förderangeboten stark erhöht. Damit hängt es nicht länger vom Zufall, von regional vorgehaltenen Angeboten, von ländlichen oder städtischen Einzugsgebieten oder von familiären und kulturellen Bildungskontexten ab, ob geeignete Fördermöglichkeiten erreichbar sind. 

Erste Erfolge: Bereits 3000 Teilnehmer bei der digitalen Drehtür 

Das Modell der digitalen Drehtür wurde erstmals vom 18. – 22. Januar 2021 pilotiert. Schüler:innen konnten sich in dieser Woche zu verschiedenen Workshops und Projekten aus ihrem Interessensgebiet anmelden, länderübergreifend vernetzt und in den Austausch mit Expert:innen gebracht werden. Das Zusammenwirken verschiedener Akteure aus Bildung und Wissenschaft sicherte ein umfangreiches und passgenaues Angebot, welches nicht allein durch die Lokalität begrenzt war. Im Mittelpunkt stand neben den klassischen Naturwissenschaften ebenso künstlerische Förderung, kreative Schulung oder Persönlichkeitsentwicklung und der Erwerb von Zukunftskompetenzen. So zeigte ein Wissenschaftsjournalist in „Zauberhafte und leckere mathematische Experimente“, wie man eine Pizza „Daumen mal Pi“ ganz gerecht teilen kann, in “Urban Farming” lernten Kinder, wie man Pflanzen ohne Erde anbauen kann und in “Schlittenfahrt in Scratch” programmierten Grundschüler:innen ein eigenes Spiel ohne Vorkenntnisse. Eine komplette Übersicht über das Themenspektrum kann auf der Website www.digitale-drehtuer.de gefunden werden.

Aufgrund der positiven Erfahrungen wurden schnell weitere Wochen („Inspiration Weeks“) und Angebote für Schüler:innen geschaffen. Seit März 2021 wird jeden Monat eine Projektwoche zu einem zukunftsrelevanten Thema organisiert. Die Themen orientieren sich dabei am OECD-Lernkompass 2030 und an den Interessen der Schüler:innen, die regelmäßig eigene Vorschläge einbringen. Themen für die Inspiration Weeks waren bislang MINT, Persönlichkeitsentwicklung und Orientierung, Kreativität und Natur und Umwelt.

Insgesamt haben an den Angeboten bereits über 3.000 Schüler:innen aus ganz Deutschland teilnehmen können. Die Nachfrage nach den Angeboten war extrem hoch, was auch die Anzahl von weiteren 2.000 angefragten Plätzen durch Kinder auf der Warteliste deutlich wurde. Mithilfe der technischen Plattform und einer Umfrage konnten detaillierte Einblicke in die Erfahrungen der Schüler:innen geworfen werden. Besonders bemerkenswert war die nahezu gleiche Verteilung an Jungen und Mädchen sowie eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Schüler:innen aus den Grundschulen. Bedingt durch die Corona-Pandemie hat der Großteil der Kinder und Jugendlichen von zuhause aus an den Angeboten teilgenommen. In der Umfrage haben 94 Prozent der teilnehmenden Schüler:innen angegeben, dass sie sich mit dem Thema ihres Kurses weiter beschäftigen möchten. Darüber hinaus wollen 98 Prozent an zukünftigen Angeboten der digitalen Drehtür teilnehmen. Besonders gelobt wurde die Wahlmöglichkeit aus dem breitgefächerten Themenspektrum, der niedrigschwellige Zugang und die Vernetzung mit Gleichgesinnten aus ganz Deutschland. 

Vom Piloten in die Fläche: Ausbau der Angebote und strukturelle Einbindung von Lehrkräften

Aktuell wird das Projekt basierend auf den Rückmeldungen der Schüler:innen, Lehrkräfte und Schulen weiter evaluiert und iterativ verbessert, um eine dauerhafte bundesweite Initiative zur Individualisierung aller Schüler:innen im digitalen Raum – auch über die Corona-Pandemie hinaus – zu gewährleisten. Dadurch eröffnen sich nicht nur große Chancen für Schüler:innen, sondern auch für kollaborative Unterrichtsentwicklung und die Lehrer:innenbildung in den verschiedenen Phasen. In zukünftigen, auch längerfristigen Angeboten, die zügig geplant und umgesetzt werden, sollen verstärkt Lehramtsstudierende, Referendar:innen und bestehende Lehrkräfte strukturell mit eingebunden werden. 

Darüber hinaus soll die Digitale Drehtür auch vermehrt Kindern aus weniger privilegierten Familien und Stadtteilen einen niederschwelligen Zugang zu einem breitgefächerten und hochwertigen Bildungsangebot bieten, welches sowohl die Personenorientierung als auch die Kollaboration fokussiert. Sie lernen von und mit anderen Schüler:innen zu denen sie ansonsten kaum Kontakt oder Zugang hätten. Dies eröffnet Schüler:innen aus Schulen in herausfordernden Lagen einen geschützten Raum für Teilhabe. Das Projekt verfolgt damit über seinen konzeptionellen Ansatz das Ziel, ein chancengerechtes und barrierefreies Angebot zur Förderung individueller Potenziale, Begabungen und Leistungsmöglichkeiten für alle Schüler:innen zu schaffen.

Weitere Informationen finden Sie unter www.digitale-drehtuer.de.

 

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