Was haben Zielstrebigkeit, Teamfähigkeit, Führungskompetenz, Stressresistenz und interkulturelle Kompetenz gemeinsam? Mindestens zwei Dinge: Erstens handelt es sich um überfachliche Kompetenzen – genauer: „sozio-emotionale Kompetenzen“. Zweitens kommen diese Kompetenzen, gemessen an fachlichen Kompetenzen, im deutschen Bildungsdiskurs noch wenig vor. In der Bildungsberichterstattung der Kultusministerkonferenz (KMK) spielen sie kaum eine Rolle.

Diese etwas „stiefmütterliche“ Behandlung im deutschen Bildungsdiskurs steht, wie wir in diesem Beitrag sehen werden, in Widerspruch zur nachweislichen Relevanz sozio-emotionaler Kompetenzen für Erfolg in Schule, Beruf und darüber hinaus. Sie steht auch im Widerspruch zu aktuellen internationalen Trends. Sehen wir uns daher an, was man unter sozio-emotionalen Kompetenzen versteht, wie man sie messen kann und warum sie wichtig sind.

Was sind sozio-emotionale Kompetenzen?

„Soziale-emotionale Kompetenzen“ ist ein breiter Sammelbegriff für verschiedene überfachliche Kompetenzen, die essenziell sind, um etwa Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, die eigenen Emotionen zu regulieren, Aufgaben und Ziele zu verfolgen oder kreative Lösungen für neuartige Probleme zu finden. Es handelt sich dabei insofern um Kompetenzen, als sie (a) von Menschen in unterschiedlichem Maß beherrscht werden, (b) gelernt und gelehrt werden können und (c) förderlich für Erfolg in Schule, Beruf, Ehrenamt oder anderen Lebensbereichen sind. Man kann diese Kompetenzen auch als Verhaltensrepertoires verstehen, aus denen sich Menschen bedienen können, wenn die Situation es erfordert.

Im internationalen Bildungsdiskurs werden solche Kompetenzen auch als „nicht-kognitive Fähigkeiten“ oder „21st Century Skills“ verhandelt (vgl. Chernyshenko u.a., 2018, S. 16). Der erste dieser Begriffe betont ihre Verschiedenheit von kognitiven und fachlichen Kompetenzen. Der zweite stellt ihre Relevanz für Gesellschaften des 21. Jahrhunderts heraus. Verwandte, bisweilen synonym verwendete Begriffe sind auch „Soft Skills“ und „Charakterstärken“.

(Wie) kann man sozio-emotionale Kompetenzen messen?

Angesichts der großen Vielfalt an sozio-emotionalen Kompetenzen bestand in der Bildungsforschung lange keine Einigkeit darüber, wie man solche Kompetenzen sinnvoll klassifizieren und messen kann (vgl. Abrahams u.a., 2019; Chernyshenko u.a., 2018). Nicht zuletzt deswegen hinkten die Möglichkeiten zur systematischen Erfassung solcher Kompetenzen jener von fachlichen Kompetenzen, wie sie in internationalen Vergleichsstudien wie PISA gemessen werden, lange Zeit hinterher.

Um dies zu ändern, haben Soto und Kollegen (vgl. Soto u.a., 2022) jüngst ein integratives Rahmenmodell vorgelegt, das eine sinnvolle Eingrenzung und Einordnung verschiedener sozio-emotionaler Kompetenzen erlaubt. Mit ihrem neuen Inventar, dem Behavioral, Emotional, and Social Skills Inventory (BESSI), können diese Kompetenzen im Selbstbericht oder Fremdbericht erfasst werden: Das Modell und das zugehörige Inventar erlauben eine detaillierte Erfassung von insgesamt 32 sozio-emotionalen Fähigkeiten, die sich mehrheitlich fünf breiten Domänen zuordnen lassen.

Abbildung 1 zeigt die Zuordnung der 32 Teilkompetenzen zu den fünf Kompetenzdomänen (vgl. Lechner, 2021). Die Domänen Engagement und Kooperation beziehen sich dabei auf das Sozialverhalten. Selbstmanagement bezieht sich auf Arbeitsverhalten und Zielverfolgung, Emotionale Belastbarkeit bezieht sich auf dem Umgang mit den eigenen Emotionen. Innovation schließlich bezieht sich auf den Umgang mit neuartigen Inhalten und Informationen.

Abb. 1. Sozio-emotionale Kompetenzen in der deutschen Version des BESSI.
Bildquelle: Lechner, 2021. Abrufbar unter https://osf.io/b3r6g/ (Stand 06.07.2022).

Die fünf Domänen entsprechen, wie Soto und Kollegen betonen, inhaltlich etwa den wohlbekannten „Big Five“ Persönlichkeitseigenschaften – mit dem Unterschied, dass BESSI dezidiert auf Kompetenzen (d.h. Verhaltensrepertoires) abzielt und nicht auf Persönlichkeitseigenschaften (d.h. Verhaltensdispositionen). Es geht in BESSI also darum, wie gut die gemessenen Verhaltensweisen beherrscht werden, wenn es die Situation erfordert („functional capacities“; vgl. Soto u.a., 2022) und nicht darum, wie sich jemand typischerweise verhält.

Sowohl die englischsprachige Originalversion als auch die vom Autor dieses Beitrags (vgl. Lechner u.a., 2022) vorgelegte deutschsprachige Version (BESSI-G) erlauben eine genaue und zuverlässige Erfassung der 32 Kompetenzen und 5 Kompetenzdomänen mit überschaubarem Aufwand (192 Fragen, Bearbeitungszeit ca. 15 Minuten). BESSI hat damit das Potenzial, in den nächsten Jahren nicht nur die Forschung zu sozio-emotionalen Kompetenzen voranzubringen, sondern auch die Praxis zu bereichern.

Warum sind sozio-emotionale Kompetenzen wichtig?

Doch warum sollten sich Bildungsforschung und -politik mit sozio-emotionalen Kompetenzen beschäftigen? Ganz einfach: Weil diese Kompetenzen neben den zweifellos unabdingbaren fachlichen Kompetenzen von entscheidender Wichtigkeit für ein gelingendes Leben sind.

Ob aus ihrer Perspektive als Eltern, Lehrer:innen, oder Arbeitgeber:innen – viele von uns teilen sicher die Einschätzung, dass solche überfachlichen Kompetenzen gebraucht werden, um die wichtigsten Entwicklungsaufgaben meistern zu können, die sich im jeweiligen Lebensalter stellen. Die Forschung bestätigt diese Einschätzung eindrucksvoll. So tragen sozio-emotionale Fähigkeiten beispielsweise deutlich zum Bildungserfolg von Schüler:innen bei (vgl. Lechner u.a., 2019). Insbesondere Fähigkeiten aus dem Bereich Selbstmanagement (oder, wie es in den Big Five heißt, Gewissenhaftigkeit) weisen substanzielle Zusammenhänge mit Lernverhalten, Schulnoten, erreichten Bildungsabschlüssen und erfolgreichen Bildungsübergängen auf. Solche Fähigkeiten ergänzen also fachliche Kompetenzen nicht bloß – sondern ermöglichen oder beschleunigen den Erwerb fachlicher Kompetenzen im Bildungssystem. Darüber hinaus tragen sozio-emotionale Kompetenzen auch zu Berufserfolg, Gesundheit, Wohlbefinden, Beziehungsstabilität und vielen weiteren Aspekten eines gelingenden Lebens bei. Diese Zusammenhänge sind empirisch gut belegt, zum Gutteil auch durch sogenannte Meta-Analysen, in denen zahlreiche Originalstudien zusammengefasst werden (für die Big Five z. B. Mammadov, 2022; siehe auch Chernyshenko u.a., 2019). Nicht zu vernachlässigen ist auch die Relevanz von sozio-emotionaler Fähigkeiten wie Grundvertrauen, Einfühlungsvermögen oder Teamfähigkeiten für das Funktionieren des Gemeinwesens.

Zwar verfügen längst nicht alle Menschen in gleichem Maße über wichtige sozio-emotionale Kompetenzen; ganz im Gegenteil findet die Forschung teils erhebliche Unterschiede im Kompetenzniveau schon ab dem frühen Kindesalter. Es gibt jedoch Hinweise aus der Forschung, dass sozio-emotionale Kompetenzen zumindest weniger stark von der sozialen Herkunft abhängen als fachliche Kompetenzen und Intelligenz (vgl. Lechner u.a., 2021).

Außerdem gibt es zahlreiche Hinweise aus der Forschung, dass sich viele sozio-emotionale Kompetenzen gezielt trainieren lassen, auch in der Schule. Dazu eignen sich keineswegs nur klassische Unterrichtsformen oder gar „Drill“. Vielmehr profitiert die Entwicklung sozio-emotionaler Kompetenzen offenbar auch von spielerischen und künstlerischen Aktivitäten wie etwa Theater, Musik oder bildender Kunst. Das ist eine sehr gute Nachricht, denn sie bedeutet, dass es gute Ansatzpunkte für die Bildungspolitik und pädagogische Praxis zur Förderung der Entwicklung sozio-emotionaler Kompetenzen gibt.

Fazit

Ohne fachliche Kompetenzen geht es nicht. In einer komplexer werdenden, digital vernetzen Welt genügt es aber nicht, ausschließlich über fachliche Kompetenzen zu verfügen. Wer in dieser Welt erfolgreich und im Idealfall auch glücklich bestehen will, muss nicht nur lesen, schreiben, rechnen und Computer bedienen können, sondern auch über Grenzen hinweg empfängergerecht kommunizieren, Menschen für sich gewinnen und motivieren, mit negativen Emotionen umgehen, kreative Lösungen für neuartige Probleme finden und sich an rasche Veränderungen anpassen.

Völlig zurecht gibt es daher international einen klaren Trend, sozio-emotionalen Kompetenzen in der Bildungsforschung und Bildungspolitik mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Die OECD hat jüngst mit ihrer „Survey on Social and Emotional Skills“ (SESS) eine internationale Vergleichsstudie unter 10-Jährigen und 15-Jährigen Schüler:innen vorgelegt, die ihre traditionell auf fachliche Kompetenzen fokussierten Studien wie PISA oder TIMMS ergänzen soll. In Deutschland hat die Kultusministerkonferenz in ihrer Ende 2021 veröffentlichten Ergänzung zur Strategie der Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt die Zeichen der Zeit eindeutig erkannt. Sie betont insbesondere die Bedeutung von „21st Century Skills“ wie „Kreativität und Innovation“ oder „Kommunikation und Kollaboration“ (vgl. KMK, 2021, S. 50). Dieser Schritt ist zu begrüßen.

Nun gilt es, Strategien zur Förderung solcher Kompetenzen für die schulische und außerschulische Bildung zu entwickeln und konsequent umzusetzen. In der deutschen pädagogischen Tradition gibt es dafür zahlreiche Anknüpfungspunkte, etwa in der Idee einer „Charakterbildung“, wie sie unter anderem der Schulreformer Joachim Heinrich Campe bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert vertrat. Auch die Prüfungskultur muss überdacht werden, wie Christian Albrecht kürzlich in diesem Blog argumentierte. Dazu wird es nötig sein, auch die Bildungsberichterstattung um eine Indikatorik für sozio-emotionale Kompetenzen zu erweitern – denn was nicht gemessen wird, das existiert auch nicht.


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