Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird nach der Kita schwieriger. Hat der Kita-Ausbau dafür gesorgt, dass Eltern auf verlässliche Angebote in einem Zeitrahmen zurückgreifen können, der es ermöglicht berufstätig zu sein, ist diese Betreuungssituation nach der Einschulung unsicher. Dem begegnet die Politik nun mit dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab 2026.

Nach der Schaffung des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz mit Vollendung des ersten Lebensjahres haben in den letzten Jahren zunehmend mehr Kleinkinder eine Kita besucht. Das lässt eine ähnliche Entwicklung bei Einführung des Rechtsanspruches für Grundschulkinder ab 2026 erwarten. Die Zahl der Kinder, die nicht nur den Vormittag in der Schule verbringen, steigt schon jetzt kontinuierlich. Ab 2026 besteht dann ein Recht auf Förderung und Betreuung im Rahmen von acht Zeitstunden inkl. des Schulunterrichts. Voraussichtlich werden also noch mehr Kinder mehr Zeit am Nachmittag in der Schule verbringen.

Es kann beim Ganztagsangebot jedoch nicht nur darum gehen, Kinder zu betreuen, um den Eltern eine Berufstätigkeit zu ermöglichen. Kinder haben auch das Recht auf eine Freizeitgestaltung gemäß den eigenen Interessen. Wie Erwachsene auch, verbringen manche Kinder gerne Zeit mit ihren Freundinnen und Freunden oder gehen gemeinsamen Aktivitäten in größeren Gruppen nach. Andere schätzen es, für sich allein etwas zu tun oder Hobbies nachzugehen, die ein noch so vielfältig und gut gestalteter Ganztag nicht anbieten kann. Dennoch eröffnet der Ganztag grundsätzlich für alle Kinder Möglichkeiten, Potenziale zu entfalten (BMFSFJ 2013b, S. 12-13).

Um den Kindern mit ihren unterschiedlichen Bedarfen gerecht zu werden und die Wahrnehmung ihrer Persönlichkeit nicht auf ihre Leistungen in den einzelnen Schulfächern zu begrenzen, stehen das pädagogische und sozialpädagogische Personal vor fachlichen und organisatorischen Herausforderungen. Das gilt insbesondere für Kinder, die sich im schulischen Unterricht nicht wohl fühlen. Auch wenn die Nachmittagsbetreuung spätestens nach der Hausaufgabenbegleitung einen anderen Schwerpunkt hat, bleiben die Kinder doch am Ort Schule, der mit dem Unterrichtsgeschehen verknüpft ist, und mit hoher Wahrscheinlichkeit setzen sich dort Teile der Gruppendynamik des Vormittags fort.

 

Der besondere Beitrag der Offenen Kinder und Jugendarbeit

Die Offene Kinder und Jugendarbeit (OKJA) kann die Arbeit im Ganztag bereichern und den beschriebenen Problemen etwas entgegensetzen. Sie ist bereits jetzt häufig in die Gestaltung des nicht-gebundenen schulischen Ganztag einbezogen. Allerdings ist ihre Einbindung zwischen 2011 und 2018 um 3 Prozent auf 30 Prozent gesunken. Dennoch ist sie nach Sport- und künstlerisch-musischen Angeboten die dritte Kraft bei der Gestaltung des Ganztags (Mairhof u.a 2022 S. 147-148). Als Kooperationspartner von Schulen ist sie nicht nur im Grundschulbereich aktiv, sondern auch in der Sekundarstufe (BMFSFJ 2005).

Die sozialpädagogische Ausrichtung der OKJA ist ein Gegengewicht zur leistungsorientierten Perspektive der Schule. Die OKJA erbringt 14 Prozent ihrer gesamten Angebote an Schulen und 20 Prozent sowohl an Schulen als auch in den Räumlichkeiten des Jugendhilfeträgers. Damit besteht für viele Kinder die Möglichkeit, den Nachmittag in einem anderen Setting als dem schulischen zu verbringen, denn die größte Zahl ihrer Angebote ist mit 66 % in den eigenen Räumlichkeiten verortet (Mairhof u.a. 2022, S. 154).

 

Der junge Mensch im Mittelpunkt

In der sozialpädagogischen Ausrichtung der OKJA steht die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen mit seinen Bedarfen und Potenzialen im Mittelpunkt. Er soll auf seinem Weg ins Leben begleitet und unterstützt werden, Subjekt- und Demokratiebildung ist das Ziel. Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht betont die Bedeutung von beiläufigen, nicht intendierten Lernprozessen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Angebote der OKJA nach § 11 Abs. 2 SGB VIII sind niedrigschwellig, freiwillig und unverbindlich und bieten damit genau diese Lerngelegenheiten. Sie stehen allen Kindern und Jugendlichen offen und zeichnen sich dadurch aus, dass sie in großem Umfang von den jungen Menschen selbst gestaltet werden können (didaktischer Ansatz des Arrangierens). Zudem finden viele belastete Kinder und Jugendliche eher den Weg in die unentgeltlichen Angebote der OKJA als in den Ganztag, denn im Gegensatz zur OKJA ist die Inanspruchnahme des offenen Ganztags aus Kostengründen sozial selektiv (Icking und Deinet 2017).

Der niedrigschwellige Ansatz der OKJA ermöglicht Kindern und Jugendlichen auf freiwilliger Basis vertrauensvolle Beziehungen zu professionell geschulten Erwachsenen zu knüpfen. Wie schwierig Teilhabe für diese jungen Menschen ist, verdeutlicht folgende Aussage aus einer Erhebung des DJI: Mehr als 75 Prozent der befragten Einrichtungen stimmen der Aussage zu, dass sie die einzigen Erwachsenen zu sein scheinen, an die sich Jugendliche bei Problemen wenden können (Seckinger u.a. 2017). Vor dem Hintergrund sollte sichergestellt werden, dass flächendeckend eine ausreichende Zahl von Fachkräften der OKJA zur Verfügung steht.

Bisher hat der Ganztag das Versprechen auf Abbau von Benachteiligung nicht gehalten. Eine stärkere Inanspruchnahme der OKJA könnte ein wirksamer Hebel sein, um Benachteiligung  entgegenzuwirken. Dazu bedarf es der Überlegung, wie insbesondere die Aufsichtspflicht gegenüber Grundschulkindern mit der Unverbindlichkeit der Angebote der OKJA vereinbart werden kann und wie Unentgeltlichkeit und Freiwilligkeit als wichtige Anreize für Benachteiligte in den Ganztag gebracht werden können.

Aber auch die Kinder, die dem Setting Ganztag, wie oben beschrieben, bisher distanzierter gegenüberstehen, fänden einen anderen Zugang, wenn die Räumlichkeiten der OKJA stärker in den Ganztag eingebunden würden. Es zeigt sich beispielsweise, dass die an Schulen verorteten Ganztagsangebote einer offenen Gestaltung und dem freien Spiel weniger Raum geben als die Angebote in den Räumlichkeiten einer originären OKJA (Mairhof u.a. 2022, S. 153).

 

Ein neues Paradigma für die Kooperation von Jugendhilfe und Schule

Die enge Kooperation von Jugendhilfe und Schule bei der Bereitstellung von Ganztagsangeboten wirft generell die Frage auf, ob nicht eine Form der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen den Rechtsanspruch auf Ganztag begleiten müsste, die einem neuem Paradigma folgt (Lüders 2020). Die Jugendhilfe beklagt in der Zusammenarbeit mit Schule eine Dienstleistungshaltung der Lehrkräfte, die sozialpädagogische Leistungen der Kinder- und Jugendarbeit kompensatorisch nutzt, um selbst Verantwortung für gelingende Lernprozesse zu delegieren, wenn es um soziales Lernen und Konfliktbearbeitung geht.

Im Ganztag werden Kräfte der Jugendhilfe bspw. bei der Hausaufgabenbetreuung eingesetzt. Eine sinnvolle Verknüpfung der Inhalte des Vormittags mit den Aktivitäten des Nachmittags wird u. a. mit Blick auf die Unterstützung Benachteiligter diskutiert. Das stellt die Jugendhilfe vor das Problem, nicht mehr frei vom Leistungsgedanken mit Kindern und Jugendlichen arbeiten zu können. Ein neues Paradigma, das die pädagogische Perspektive und die institutionellen Ziele von Schule und Jugendhilfe im Sinne einer guten Entwicklung für aller Kinde aufgreift, könnte auch diese Kritik konstruktiv wenden.

 

Wohin fließt das Geld?

Die bundesweiten Ausgaben zeigen den geringen Ressourcenanteil der Kinder- und Jugendarbeit am Gesamtbudget der Jugendhilfe. Bei Inkrafttreten des Rechtsanspruchs für Grundschulkinder werden die Ausgaben weiter steigen, wobei noch abzuwarten bleibt, wie die Finanzierung sich auf den Schulsektor und das SGB VIII verteilen wird. Insgesamt sind die steigenden Aufwendungen für die Jugendhilfe in den letzten zehn Jahren zum großen Teil in den Kita-Ausbau geflossen, für die Kinder- und Jugendarbeit war das auch vor dem Hintergrund steigernder Kosten bei den Hilfen zur Erziehung von Nachteil. Das wird der Rolle, die die OKJA insbesondere für benachteiligte Kinder und Jugendliche leistet und deren präventiven wie auch teilhabeorientierten Aspekten nicht gerecht.

Die Ausgestaltung der Jugendhilfe sollte bei aller Notwendigkeit, Eltern über eine gesicherte Betreuung Berufstätigkeit zu ermöglichen und damit Kinder auch vor Armut zu schützen (Bertelsmann Stiftung 2018), die originären Belange von Kindern und Jugendlichen im Blick behalten. Dazu gehört gemäß dem gesetzlichen Auftrag nach § 1 Abs. 3 SGB VIII auch der Abbau und die Vermeidung von Benachteiligung.

Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022

Literatur

Bertelsmann Stiftung (2018): Pressemitteilung (bertelsmann-stiftung.de)

BMFSFJ (Hg.) (2005): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Stellungnahme der Bundesregierung. Drucksache 15/6014. Berlin, S. 533.

Icking, Maria; Deinet, Ulrich (2017): Offene Kinder- und Jugendarbeit und Prävention: Möglichkeiten und Grenzen. Düsseldorf (FGW-Studie – Vorbeugende Sozialpolitik, 06). S. 22.

Lüders, Christian (2020): Mehr als Kooperation? Ganztagsförderung als hybrides Praxisfeld. In: Nachrichtendienst Deutscher Verein (3), S. 123–126.

Mairhof, Andreas; Peucker, Christian; Pluto, Liane; van Santen, Eric. Herausforderungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Weinheim 2022.

Mühlmann, Thomas (2019): Erhebungen zur OKJA in NRW im Überblick. Entwicklungslinien der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Update 2019 – Aktuelle Daten und Informationen zum landesweiten Berichtswesen und zur amtlichen Statistik. akj_stat. Dortmund, 2019.

Seckinger, Mike; Pluto, Liane; Peucker, Christian; van Santen, Eric (2016): Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Eine empirische Bestandsaufnahme. Unter Mitarbeit von Tina Gadow. Weinheim, Basel: Beltz Juventa (Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfeforschung).

 

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