Es ist ein Tag im Juni 2022. Vor vier Monaten entfesselte Russland einen Angriffskrieg auf die Ukraine, der von den allermeisten nicht für möglich gehalten wurde. Die Ukrainerinnen, die sich an diesem Tag per Zoom in eine wissenschaftliche Befragung einwählen, hätten vor einem halben Jahr wohl nie für möglich gehalten, dass sie sich im Sommer in Deutschland befinden und einer deutschen Wissenschaftlerin Fragen beantworten: zu ihrer Flucht, zu ihren persönlichen Wünschen – und vor allem zu ihren beruflichen Unterstützungsbedarfen, die sich so grundlegend verändert haben. 

Die Personen, die nach einem Aufruf der Bertelsmann Stiftung zu einer wissenschaftlichen Befragung zusammenkommen, sind ukrainische Pädagog:innen – 13 Frauen und ein Mann, zwölf in Deutschland, zwei noch in der Ukraine.  

„… Lehrer wollen immer als Lehrer arbeiten, das ist das, was wir gut können“ 

Wie ihre Zukunft in zwei Jahren aussieht, ob sie noch in Leverkusen, Berlin oder Mannheim leben oder wieder in ihrer ukrainischen Heimat, ob dort Frieden herrscht: All das können sie nicht wissen. Was sie aber wissen und was sie eint, ist ihr starker Wunsch, jetzt und hier zu arbeiten, in dem Beruf, in dem sie ausgebildet worden sind: “Lehrer wollen immer als Lehrer arbeiten, das ist das, was wir gut können”. Was einige zugleich aber auch erfahren: Der Weg dorthin ist nicht leicht, er erscheint unendlich weit: “… um als Lehrerin arbeiten zu können, muss ich C2 bestehen, diese Sprachprüfung. Das ist für mich noch Weltall.” 

Es sind Aussagen wie diese, die das Verständnis für eine Lebens- und Berufssituation weiten, von der wir noch zu wenig wissen. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 sind knapp eine Million Menschen nach Deutschland geflohen. Wie viele davon einen pädagogischen beruflichen Hintergrund haben, ist unklar. Nach einer Erhebung der dpa waren Ende September 2022 etwa 2.700 Lehr- und Hilfskräfte aus der Ukraine an deutschen Schulen beschäftigt. Versucht man sich in einer Schätzung, wie groß die Zahl von Personen in lehrenden Berufen insgesamt sein könnte, erscheint eine Zahl im niedrigen fünfstelligen Bereich durchaus realistisch. 

Bis Ende August 2022 sind knapp 970.000 Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen, davon 56 Prozent im erwerbsfähigen Alter. Überträgt man den Anteil von Personen in lehrenden Berufen unter Asylantragstellenden im 1. Halbjahr 2021 in Höhe von 2,2 Prozent laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf die oben genannten Zahlenwerte der aktuellen Fluchtbewegung, käme man auf eine Zahl von fast 12.000 Personen.  

Diese Schätzung ist noch sehr konservativ, legt man den hohen Frauenanteil unter ukrainischen Geflüchteten und den höheren Anteil weiblicher Personen in lehrenden Berufen zugrunde. Gemäß der oben genannten Statistik des BAMF zu beruflichen Hintergründen von Asylantragstellenden ist der Anteil von Frauen in lehrenden Berufen mehr als drei Mal so hoch wie der unter Männern. 

Wir sprechen also über eine nennenswerte Zahl von Menschen – und in der Befragung direkt mit einem kleinen, aber relevanten Ausschnitt von ihnen. Das Setting von Fokusgruppenbefragungen wurde gewählt, weil es einen wissenschaftlich abgesicherten direkten und tiefgehenden Austausch ermöglicht – gerade zu Fragen, zu denen es noch relativ wenig Wissen gibt. Dazu gehört auch die Leitfrage, welche Unterstützungsbedarfe ukrainische Pädagog:innen haben, die nach Deutschland geflüchtet sind. 

Das Zeitfenster für eine Beschäftigung bleibt nicht unbegrenzt geöffnet – und Unterstützung wird benötigt! 

Einige zentrale Erkenntnisse  aus den Gesprächen: Die Teilnehmenden der Befragung haben den starken Wunsch, in Deutschland in ihrem Beruf zu arbeiten. Zugleich wird deutlich, dass das Zeitfenster hierfür nicht unbegrenzt geöffnet ist und die Befragten bei fehlenden Perspektiven auch Alternativen in den Blick nehmen müssen – bis hin zu Tätigkeiten, für die sie nicht ausgebildet sind und die sie ungelernt ausüben könnten.  

Die Befragten, die noch nicht an einer Schule tätig sind, äußern den Wunsch, dass die Zugangswege in Schule transparenter kommuniziert und einfacher gestaltet werden sollten. Zentral ist für sie der Erwerb der deutschen Sprache. Die Teilnehmer:innen, die bereits an einer Schule tätig sind, möchten das deutsche Schulsystem und die deutsche (Schul-)Kultur besser kennenlernen und sich didaktisch-methodisch fortbilden.  

Wie hilfreich Unterstützungsangebote in diesen Feldern für den Wiedereinstieg in Schule sein können, zeigen Erfahrungen aus dem Projekt „Lehrkräfte Plus“ in Nordrhein-Westfalen, das die Bertelsmann Stiftung an den Universitäten in Bielefeld und in Bochum mit initiiert hat und es inzwischen an fünf Standorten in NRW gibt. An dem Programm für Lehrkräfte mit Fluchtgeschichte haben bereits mehrere hundert Personen erfolgreich teilgenommen.  

Die Teilnehmenden arbeiten an ihren Sprachkenntnissen, werden pädagogisch-interkulturell qualifiziert, vertiefen ihre pädagogisch-didaktischen Kenntnisse und nehmen in einem Praktikum am Schulgeschehen teil. Im anschließenden Landesprogramm „Internationale Lehrkräfte fördern“, auf das die Absolvent:innen sich bewerben können, liegt der Schwerpunkt auf der Arbeit in Schule, die durch Kurse im pädagogisch-didaktischen Bereich sowie mit dem Fokus auf Sprache flankiert wird. Auch hier ist das Interesse hoch, da die grundsätzliche Möglichkeit besteht, später dauerhaft in Schule zu arbeiten.  

Hürden abbauen, Perspektiven schaffen: Zum Wohle aller – in Deutschland und der Ukraine 

Die Arbeit mit internationalen Lehrkräften verdeutlicht das enorme Potenzial, dem sich gerade das deutsche Bildungssystem mit seinem immensen Fachkräftebedarf nicht verschließen darf. Perspektiven für internationale Fachkräfte müssen geschaffen und Hürden abgebaut werden, damit qualifiziertes Personal nicht dauerhaft in Jobs landet, für die keinerlei Qualifikation notwendig ist. 

Einige Bundesländer haben bereits begonnen, den Weg für internationale Fachkräfte zu bereiten. Entsprechende Passagen finden sich zum Beispiel in den Koalitionsverträgen der bremischen, der nordrhein-westfälischen und der sächsischen Landesregierung. So enthält der Koalitionsvertrag von Nordrhein-Westfalen die Ankündigung, im Kampf gegen den Lehrkräftemangel ein Konzept zu erarbeiten, das die Einstellung von Ein-Fach-Lehrkräften unter bestimmten Voraussetzungen mitdenkt und eine einfachere Anerkennung der Ausbildung von Drittstaatler:innen ermöglicht. Das deckt sich mit der Empfehlung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz , eine Anerkennung der Lehramtsqualifikation ohne Vorliegen eines zweiten Fachs zu prüfen und wäre eine zentrale Erleichterung. Denn viele ausländischen Bildungssysteme kennen die in Deutschland übliche Ausbildung von Lehrkräften in zwei Fächern nicht. 

So wie das deutsche Bildungssystem gewinnt, wenn es sich für Erfahrungen anderer Systeme öffnet, könnte auch das ukrainische Bildungssystem von denjenigen profitieren, die nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehren: Im Rahmen der Fokusgruppen haben die in Schule Tätigen besonders oft einen Unterstützungsbedarf im Hinblick auf Methodik, Didaktik und Kompetenzorientierung angegeben. Hier könnten die Erfahrungen in Schule in Deutschland, wo die Orientierung in Richtung Kompetenzorientierung spätestens nach PISA erfolgt ist, auch dazu beitragen, den Reformkurs im ukrainischen Schulsystem zu befördern. Dort hat mit dem Schuljahr 2018/19 die Umsetzung einer Reform hin zum kompetenzorientierten Unterricht begonnen. Ein, zumal durch ein Qualifizierungsprogramm begleiteter, Einsatz ukrainischer (wie auch internationaler) Lehrkräfte an Schule in Deutschland wäre somit ein Gewinn für alle Seiten.  

Es gibt sie also, die Stellschrauben, an denen jetzt gedreht werden kann. Die Befragung ukrainischer Pädagog:innen verdeutlicht, dass sie sich in ihrem erlernten Beruf ebenso einbringen möchten wie andere internationale Lehrkräfte auch. Wird ihnen der Weg geebnet, würden sie nicht nur zur Vielfalt in den Kollegien beitragen, sondern die Situation in den Schulen auch mit Blick auf die Unterrichtsversorgung verbessern – zum Wohle aller Beteiligten.