Heute erscheint das E-Book des Bandes Einmal ausgebildet – lebenslang qualifiziert? von Peter Daschner, Klaus Karpen und Olaf Köller (Hrsg.). Der Band enthält Beiträge und Statements aus den Bereichen Wissenschaft, Bildungsverwaltung und Schulpraxis sowie von Lehrerverbänden und Stiftungen. Der hier veröffentlichte Text ist in dem Band erschienen und für den Blog Schule21 gekürzt worden.

Der IQB-Bildungstrend 2021 stimmt wenig optimistisch: Die Viertklässler haben in allen Kompetenzbereichen schlechter abgeschnitten als 2016 – ein Trend, der sich seit 2011 fortsetzt. Zudem geht die soziale Schere weiter auf, nicht zu. Verstärkt sich dieser Trend weiter, dürfte dies auch auf gesellschaftlicher Ebene Folgen haben. Gibt es Gruppen von Personen, die auf Dauer nicht teilhaben können, trägt dies zu einer gesellschaftlichen Spaltung bei, die einen Nährboden für antidemokratische Tendenzen bilden kann.

Momentan tragen verschiedene Faktoren zu einer Verschärfung der Situation in Schule bei. Wir möchten mit fünf Thesen einen Debattenbeitrag dazu leisten, wie Schule zu einem Ort werden kann, an dem Lernen gelingt.

These 1: Es braucht einen Fokus auf Basiskompetenzen, der sich nicht auf fachliche Kompetenzen beschränken darf, sondern auch überfachliche Kompetenzen einschließen muss. Denn nur gemeinsam bilden sie die Basis für Teilhabe, Gestaltung und Erfolg in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.  

Der IQB-Bildungstrend 2021 hat gezeigt, dass der Anteil der Kinder am Ende der Grundschulzeit, die den Mindeststandard in Mathematik, im Lesen und Zuhören sowie in Orthographie nicht erreichen, gestiegen ist. Klar ist, dass eine Schule, die Kinder auf das Leben im 21. Jahrhundert vorbereiten will, auf die Entwicklung dieser und anderer fachlicher Kompetenzen bei allen Kindern hinarbeiten muss.

Gleichzeitig muss das Verständnis des Begriffs “Basiskompetenzen” bewusst reflektiert werden. Fachliche Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen zählen selbstverständlich dazu. Allerdings sollten sie nicht künstlich von den überfachlichen Kompetenzen getrennt werden: Insbesondere das Zusammenspiel von fachbezogenen (kognitiven), sozio-emotionalen und selbstregulativen Fähigkeiten bildet die Basis für erfolgreiches Lernen. Ebenso sind informatische Kompetenzen und Medienkompetenzen unabdingbar. Sie bilden die Grundlage dafür, sich sicher in einer Welt zu bewegen, in der digitale und technologische Entwicklungen sämtliche Lebensbereiche durchdringen.

Um dem Eindruck vorzubeugen, dass Schule mit dem erweiterten Kompetenzbegriff durch ein „mehr“ an Anforderungen immer weiter belastet wird: Es braucht ein gesellschaftliches Ringen darum, was als Basiskompetenz gilt, in Form von Mindeststandards beschrieben wird und sich schließlich als verpflichtend, und ggf. auch als fakultativ, in den Lehr- und Bildungsplänen abbildet. Ohne eine kritische Überprüfung der Lehr- und Bildungsplaninhalte, mit der auch Streichungen einhergehen, damit Neues aufgenommen werden kann, wird es nicht gehen.

These 2: Eine Schule, die diese breite Kompetenzentwicklung bei Schüler:innen befördern und Kinder und Jugendlich umfassend bilden möchte, braucht neben bewährten auch neue Lern- und Prüfungsformate.

Auch heute ist Schule in der Regel noch nach Fächern organisiert, Prüfungsleistungen müssen hauptsächlich individuell mit Stift und Papier abgelegt werden. Sollen jedoch zukünftig überfachliche Kompetenzen im Sinne von Basiskompetenzen eine Rolle spielen, ist dieser Fokus zu eng. Neben „klassischen“ Lernsettings, in denen die Entwicklung bestimmter fachlicher Fähigkeiten im Zentrum steht, sind auch offenere Formate notwendig. Lernende können auf diese Weise gemeinsam an Projekten arbeiten, in denen sie sowohl fachliches Wissen und fachliche Fähigkeiten, aber eben auch überfachliche Kompetenzen, auf- und ausbauen, die mit erfolgreichem fachlichen Lernen Hand in Hand gehen.

Sozio-emotionale Kompetenzen sind für das Gelingen solch offener Lernsettings essenziell. Sie müssen deshalb gezielt selbst zum Lerngegenstand werden. So ergibt es sich beispielweise nicht von selbst, Lernprozesse eigenständig zu initiieren und zu strukturieren. Diese Fähigkeit ist ebenso eine Lernleistung wie der Aufbau fachlicher Kompetenzen: Sie braucht Zeit und Ressource. Auch eigene Projekte von Lernenden, in offeneren Lernformaten, brauchen Zeit, Ressourcen und Begleitung. Damit sie grundständiger Bestandteil der Stundentafel werden, müssen Fachcurricula deutlich entschlackt werden. Geschieht dies nicht, wird eine Veränderung der Lernkultur an den meisten Schulen eine Utopie bleiben.

Noch ein weiterer Aspekt ist für die Umsetzung neuer Lernformate wichtig: die Anpassung von Prüfungsformaten. Lernsettings, in denen Lernende kooperativ an eigenen Projekten arbeiten, ergeben wenig Sinn, wenn am Ende alle die gleiche Klassenarbeit schreiben. Formate, in denen von einem Team an Lernenden eine Prüfungsleistung abgenommen wird, können etwa um zusätzliche Reflexionsfragen ergänzt werden, in denen jede/r einzelne Lernende den eigenen Lernprozess darlegt. Damit kämen über die individuelle Komponente auch metakognitive und reflexive Fähigkeiten zum Tragen. Offenere Prüfungsformate sind sowohl dazu geeignet, Kompetenzen breit zu bewerten (Assessment of learning) als auch wichtige Informationen für den Lernprozess selbst zu liefern (Assessment for learning). Auf diese Weise tragen sie auf Ebene der Schüler:innen dazu bei, Lernen als kontinuierlichen Prozess auf unterschiedlichen Ebenen zu begreifen.

These 3: Der Lehrkräftemangel wird Schule und die Lehrkräftebildung mittel- und langfristig prägen. Bei der Weiterentwicklung von Schule muss er mitgedacht werden. Dies ist das zentrale Dilemma: Während die Aufgaben von Schule anspruchsvoller werden, verringern sich die Kapazitäten, dies auch mit der nötigen Zeit und Unterstützung anzugehen.

Die Aufgabe von Schule wird anspruchsvoller. Dem steht in der schulpolitischen Realität ein Lehrkräftemangel gegenüber, der Schulen nicht nur ihre Arbeit erschwert, sondern der auch das Potenzial hat, sich negativ auf das Lernen von Schüler:innen auszuwirken. Der Befund ist das zentrale Dilemma, das den Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen bildet.

Bis 2035 fehlen laut dem Bildungsforscher Klemm bis zu 158.000 Lehrkräfte an deutschen Schulen. Der Lehrkräftemangel wird Schule über Jahre hinweg lähmen, wenn es nicht gelingt, ihm wenigstens in Teilen beizukommen. Er dürfte auch dazu führen, dass Schüler:innen in anderen als den bisherigen Formaten lernen müssen. Damit könnte sich ein Gelegenheitsfenster für die skizzierten neuen Lern- und Prüfungsformate ergeben. Doch brauchen diese eine sinnvolle Konzeption, um lernwirksam zu werden. In Kollegien, die darum ringen, das Notwendigste an Unterricht zu erfüllen, ist es fraglich, wie viele Kapazitäten dafür übrigbleiben.

Unabhängig von welcher Seite die Annäherung an dieses Dilemma erfolgt – es zeigt sich, dass die Lücken in den Reihen der Lehrkräfte so gut wie möglich gefüllt werden müssen. Zweitens wird deutlich, dass das Lernen von Lehrkräften nicht auf die ersten beiden Phasen der Lehrkräftebildung beschränkt sein darf, weil eine Schule, die sich (u. a. mit Blick auf Lern- und Prüfungsformate) verändert, eine starke berufsbegleitende Professionalisierung ihrer Lehrkräfte braucht. Die dritte Phase der Lehrkräftebildung muss deshalb aus ihrem stiefmütterlichen Dasein herausgeführt und gestärkt werden, damit das Lernen im Beruf endlich essenzieller Bestandteil eines neuen Professionsverständnisses werden kann und die dafür notwendigen Ressourcen erhält.

These 4: Ein diversifiziertes Lehramt bildet sich aufgrund der verschiedenen Wege ins Lehramt, einschließlich Quer- und Seiteneinstieg, bereits jetzt heraus. Es ist Zeit, realistische Mindeststandards für den Quer- und Seiteneinstieg zu formulieren.

Aufgrund des hohen Lehrkräftemangels haben in den letzten Jahren alle Bundesländer Programme für den Quer- und Seiteneinstieg von Lehrkräften entwickelt. Darüber hinaus sind weitere Sondermaßnahmen aufgesetzt bzw. ausgebaut worden, um den Lehrkräftemangel zu lindern. Dazu zählen u.a. der Einsatz von Lehramtsstudierenden (der vielerorts faktisch zu einem „dualen Studium“ im grundständigen Bereich der Lehrkräfteausbildung führt), fach- und schulartfremder Unterricht, die Einstellung von Vertretungslehrkräften sowie die Beschäftigung von pensionierten Lehrkräften.

Die Vielfalt an Zugängen ins Lehramt und an Ausbildungen der Lehrkräfte, die Unterricht erteilen, ist groß und von der KMK legitimiert.

Als Bertelsmann Stiftung haben wir eine Begleitforschung des Quereinstiegsmasters (Q-Master) an der Humboldt-Universität in Berlin initiiert. Die Evaluation des Q-Masters hat gezeigt: Die fachlichen und didaktischen Kompetenzen der Q-Master-Studierenden liegen bei Studienbeginn auf einem ähnlichen Niveau wie die der regulären Studierenden. Auch die Wissenszuwächse während des Master-Studiums fallen annähernd gleich aus, mit geringfügigen Vorteilen der regulären Studierenden bei den fachdidaktischen Kenntnissen.

Allerdings sind Programme im Quer- und Seiteneinstieg nicht per se mit dem Q-Master vergleichbar. So erfolgt die Qualifizierung beim Seiteneinstieg, wenn überhaupt, in der Regel berufsbegleitend. Da Vorbereitung und Begleitung über die Programme hinweg unterschiedlich umfangreich und verbindlich gestaltet werden, dürfte sich ihre Qualität erheblich unterscheiden. Aufgrund des immer größer werdenden Gewichts, das das Thema Quer- und Seiteneinstieg für die Abdeckung des Lehrkräftebedarfs einnimmt, sind realistische Mindeststandards für die Programme geboten, wenn Lehren und Lernen in Schule wirksam gestaltet werden sollen. Wären die Programme darüber hinaus an Universitäten verortet, könnten sie im Idealfall als ein zweiter, regulärer Weg ins Lehramt anerkannt werden: Ihr Status als Sondermaßnahme wäre dann Geschichte.

These 5: Mit der faktischen Notwendigkeit für zusätzliche, flexible Wege ins Lehramt gewinnt die dritte Phase der Lehrkräftebildung, die berufsbegleitende Qualifizierung, an Bedeutung. Diese war bisher unterentwickelt, unterfinanziert und letztlich wenig wirksam. Das muss sich ändern – in allen erwähnten Punkten.

Da momentan nicht davon auszugehen ist, dass die Qualifizierung von Personen im Quer- und Seiteneinstieg durchgehend auf einem wünschenswerten Mindestniveau erfolgt, kann nur darüber gemutmaßt werden, inwiefern sich dies auf die Lernleistungen von Schüler:innen auswirkt.

Der Bedarf an Lehrkräften wird in bestimmten Fächern und Regionen ihr Angebot über eine längere Zeit übersteigen. Zusätzliche Wege ins Lehramt gewinnen dadurch in den nächsten Jahren an Bedeutung. Aus diesem Grund wäre eine grundständige Reform der Lehrkräfteausbildung, die flexible Wege ins Lehramt mit berücksichtigt, wünschenswert.

Für unsere Überlegungen in diesem Beitrag bilden jedoch die auf unterschiedlichem Niveau ausgebildeten Quer- und Seiteneinsteiger:innen, die bereits jetzt eine wichtige Bedeutung für die Unterrichtsversorgung haben, den Ausgangspunkt. Wenn der Anteil derer steigt, die Professionswissen nicht angemessen erwerben konnten, und wenn in Schule darüber hinaus die Notwendigkeit besteht, innovative Lern- und Prüfungsformate weiterzuentwickeln, dann gewinnt die dritte Phase der Lehrkräftebildung im Sinne einer berufsbegleitenden Professionalisierung von Lehrkräften an Bedeutung.

Bislang spielte diese keine zentrale Rolle in der Bildungsplanung. Zudem ist die Einbeziehung von Wissenschaft und von wissenschaftlichen Befunden in Deutschland eher unterentwickelt: „Beispielsweise sind viele staatlich organisierte Fortbildungen von kurzer Dauer, die einzelnen Angebote sind inhaltlich nicht oder nur wenig verbunden und thematisch zudem eher breit und mit randständigem Einbezug von Befunden aus der Forschung ausgerichtet“ (Rzejak und Lipowsky, S. 141). Die Erwartungen an die Wirksamkeit staatlich organisierter Angebote dürfte dementsprechend niedrig ausfallen.

Allerdings hat das Thema Lehrkräftefortbildung Auftrieb – dies zeigen die Evaluation der Lehrkräftefortbildung in NRW, der Bericht von Colin Cramer zur dritten Phase der Lehrkräftebildung in Baden-Württemberg sowie die ländergemeinsamen Eckpunkte der KMK zu dem Thema.

Auch wenn die Aufmerksamkeit erfreulich ist, führt die Unterfinanzierung der dritten Phase der Lehrkräftebildung dazu, dass die Schlagkraft fürs Schulsystem insgesamt sich in Grenzen halten dürfte. Bei jeder neuen Reform wird reflexartig gefordert, die Lehrkräfte im entsprechenden Bereich fortzubilden. Ob die eher schmal ausgestatteten Systeme dies mit Blick auf die vielfältigen Bedarfe und mit dem Anspruch, wirksam zu sein, leisten können, ist fraglich. Dies liegt auch daran, dass grundlegende Strukturen zur Professionalisierung von Lehrkräften in Schule fehlen: Team- und Fortbildungszeiten finden sich nur im Hamburger Arbeitszeitmodell, es gibt keine strukturell verankerte Verknüpfung zwischen Forschung und Fortbildung und gute Lehrkräfte, die aufsteigen wollen, gehen vielleicht in die Lehrkräfteausbildung – aber, mangels Funktionsstellen, eher nicht oder nur kurz in die Lehrkräftefortbildung.

Professionalisierung in der dritten Phase geht über Lehrkräftefortbildung hinaus. Der Blick in die internationale Praxis zeigt, was möglich ist: Lehrkräfte, die mit dem Ziel, das Lernen von Schüler:innen zu verbessern, im Team arbeiten, dazu gemeinsam Unterricht konzipieren und anschließend evaluieren, Kooperationen zwischen Lehrkräften und anderen Professionen, um Kinder und Jugendliche ganzheitlich zu unterstützen und Lernen über den Schulkontext hinaus zu denken, und eine systematische Verknüpfung von Schule und Fortbildung mit der Wissenschaft. All das ist nicht gratis zu haben. Es braucht ausgewiesene Zeitressourcen in der Lehrkräftearbeitszeit, Geld sowie eine kritische Evaluation, inwiefern Schule, die bislang vor allem in Fächern strukturiert ist, reformiert werden muss. Zusätzlich dazu müsste die Wissenschaft grundständig in die Lehrkräftefortbildung einbezogen sein, sie mitgestalten und evaluieren können, um dem Ziel näher zu kommen, dass Lernen in Schule besser gelingt.

Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angekommen: dem gelingenden Lernen der Schüler:innen. Schon heute befindet sich Schule aufgrund des Lehrkräftemangels in einer Krise, die sich in den nächsten Jahren noch verschlimmern wird. Ohne Quer- und Seiteneinsteiger:innen wird Schule deshalb nicht auskommen. Es ist deshalb Zeit, Qualitätsstandards für den Quer- und Seiteneinstieg zu formulieren und in diesem Zuge auf eine dritte Phase hinzuarbeiten, in der Lehrkräfte sich wirksam professionalisieren können und müssen. Denn letztlich sollte Schule ein Ort sein, an dem Lernen gelingt – das Lernen der Lehrkräfte eingeschlossen.

 

Dieser Beitrag findet sich in voller Länge in: Daschner, P., Karpen, K., Köller, O. (Hrsg.) (2023). Einmal ausgebildet – lebenslang qualifiziert? Lehrkräftefortbildung in Deutschland: Sachstand und Perspektiven. Weinheim: Beltz. Der Band ist als E-Book kostenlos im Open Access erhältlich.

 


Literatur

Rzejak, D., Lipowsky, F. (2019). Forschungsüberblick zu Merkmalen wirksamer Lehrerfortbildungen. In: Daschner, P., Hanisch, R. (Hrsg.) (2019). Lehrkräftefortbildung in Deutschland. Bestandsaufnahme und Orientierung. Weinheim: Beltz. S. 135-142.