Ein Beitrag aus der Studie Jugend-Bildung-Ganztag in NRW

Die Herausforderungen der Lebensphase „Jugend“

Für viele ist die eigene Jugend vielleicht schon zu weit entfernt, um eine Vorstellung davon zu haben, wie es sich heute anfühlt „jugendlich“ zu sein: Was wird erwartet, was sogar gefordert, welche Möglichkeiten, aber auch welche Herausforderungen gibt es? Wer sich dafür interessiert, was Jugendliche brauchen, sollte idealerweise Jugendliche selbst befragen. Wichtige Auskünfte geben auch Jugendstudien und Jugendberichte, die sich intensiv mit der Lebensphase Jugend auseinandersetzen. So betonen die Autor:innen im 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, dass es in der Lebensphase Jugend vor allem um die gesellschaftliche Integration geht und dieser Prozess speziell von drei zentralen Herausforderungen gekennzeichnet ist, die sich aus gesellschaftlich-funktionalen Zuschreibungen an das Jugendalter ergeben: Die jungen Menschen sollen allgemeinbildende, soziale und berufliche Handlungsfähigkeit erwerben (Qualifizierung), soziokulturelle, ökonomische und politische Verantwortung übernehmen (Verselbstständigung) und eine Balance zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit finden (Selbstpositionierung). Im 15. Kinder- und Jugendbericht wird dabei auf ungleichheitsspezifische Voraussetzungen verwiesen, denn je nach Herkunft und Lebenslage haben Jugendliche unterschiedliche Handlungsspielräume, um die drei genannten Kernherausforderungen erfolgreich zu bewältigen.

Welche Rolle die Ganztagsschule (noch nicht) spielt

Die Ganztagsschule spielt für viele Jugendliche eine wichtige Rolle, denn die Lebensphase Jugend ist stark durch den Besuch von Bildungseinrichtungen geprägt. Es zeigt sich jedoch auch, dass die Ganztagsschule für sie nicht unbedingt attraktiv ist und – bundesweit betrachtet – die Teilnahmeintensität von Jugendlichen mit steigendem Alter abnimmt. Auch wurde durch den Ganztagsschulbesuch bisher noch kein nachhaltiger Beitrag zur Chancengerechtigkeit erzielt. Vor diesem Hintergrund fordern die Jugend- und Familienministerkonferenz und die Kultusministerkonferenz die Entwicklung und den Ausbau einer kooperativen Ganztagsbildung in der Sekundarstufe I. Eine „Jugendorientierte Ganztagsbildung“ bedeutet in diesem Kontext, dass Ganztagsschulen und außerschulische Bildungspartner die Herausforderungen der Jugendphase als Ausgangspunkt nehmen und unter Beteiligung der jungen Menschen Angebote auf Basis eines gemeinsamen Bildungsverständnisses machen.

Da bislang nur wenig Erkenntnisse darüber vorliegen, welche individuellen Haltungen und Einschätzungen Jugendliche zur Ganztagsschule haben, wurde mit der Studie Jugend-Bildung-Ganztag in NRW der Frage nachgegangen, wie die Ganztagsschule aus ihrer Sicht sein sollte, damit sie Jugendliche anspricht und sie bei der Bewältigung ihrer Kernherausforderungen unterstützt.

Wie die Jugendlichen befragt und beteiligt wurden

Trotz der erschwerten Rahmenbedingungen durch die Corona-Pandemie haben sich in den Jahren 2019-2021 ca. 150 Jugendliche des 9. und 10. Jahrgangs aus sechs verschiedenen gebundenen Ganztagsschulen in NRW mit hohem Engagement an der Studie beteiligt. Für die Erhebung wurde ein triangulatives Verfahren aus quantitativen und qualitativen Methoden gewählt. Aufbauend auf zwei Expertenworkshops mit Wissenschaftler:innen und Jugendlichen (2019) fanden eine Online-Fragebogenerhebung sowie Online-Interviews (2020-2021) statt. Forschungsergebnisse aus aktuellen Jugend- und Ganztagsschulstudien wurden ergänzend hinzugezogen. Im Wesentlichen lassen sich aus den Angaben der befragten Jugendlichen fünf zentrale Forderungen für eine jugendorientierte Ganztagsschule ableiten:

  1. Einen respektvollen Umgang in der Ganztagsschule stärker fördern!

Bisherige Jugendstudien machen bereits deutlich, dass Jugendliche humanistische Werte wie Toleranz und Empathie für sehr wichtig halten und es für ihr Wohlbefinden in der Schule eine bedeutsame Rolle spielt, wie sich Mitschüler:innen in Konfliktsituationen verhalten. Respektvoller Umgang bedeutet für Jugendliche „ihre Mitschüler:innen so anzunehmen, wie sie sind.“ Die befragten Jugendlichen kritisieren jedoch, dass in der Ganztagsschule zu wenig thematisiert wird, wie fair und respektvoll miteinander umgegangen werden kann. Defizite sehen sie dabei sowohl mit Blick auf den Umgang zwischen den Jugendlichen untereinander als auch zwischen Jugendlichen und Lehrkräften. Dazu gehört für sie ebenfalls, dass Erwachsene bei Konflikten und Problemen unter den Jugendlichen genauer hinschauen und verantwortungsvoll und bedarfsgerecht intervenieren. So sind zum Beispiel Art und Zeitpunkt der Kommunikation bei aufkommenden Konflikten wichtig: „Mit uns wird eigentlich nie darüber gesprochen, was wir so machen könnten oder so. Und mit uns wird halt erst gesprochen, wenn etwas passiert ist.“ Die Jugendlichen äußern in diesem Bereich Verbesserungsbedarfe und wünschen sich im Rahmen der Ganztagsschule mit Hilfe der Erwachsenen die Entwicklung und Einübung einer guten Streit- und Kommunikationskultur.

  1. Sicherheit in der Ganztagsschule vermitteln!

Voraussetzung für ein respektvolles Miteinander ist ein angstfreies und geschütztes schulisches Umfeld mit einer konstruktiven Fehlerkultur, in dem Diskriminierung und Gewalterfahrungen keinen Raum haben. Die Ergebnisse der Befragung offenbaren, dass sich jede:r fünfte Jugendliche in der Schule nicht sicher fühlt und Angstsituationen erlebt. Weitere Studien zeigen, dass dieses Empfinden durch Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen befördert wird. Nach wie vor ist jede:r siebte Schüler:in in Mobbing involviert, auch im virtuellen Raum. Schulleitungen und alle Akteure in der Ganztagsschule sind daher in der Verantwortung, für ein gewalt- und angstfreies Schulklima zu sorgen.

  1. Erwachsene sollten eine positive und unterstützende Haltung einnehmen!

Die Qualität pädagogischer Beziehungen bestimmt das Lernen, das Wohlbefinden und die Motivation der Schüler:innen in der Ganztagsschule, so hat es bereits Prof. Dr. Nathalie Fischer in ihrem Blog-Beitrag betont. Aus Sicht der befragten Jugendlichen reduziert sich die Beziehung zu den Lehrkräften in der Regel ausschließlich auf schulische Angelegenheiten. Bei sozialen und privaten Problemen der Jugendlichen würden sie eher nicht als Ansprechperson zur Verfügung stehen. Insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund nehmen die Lehrkräfte selten als Kontaktperson bei privaten Problemen wahr. Jugendliche mit eher schlechtem Notendurchschnitt berichten von Diskriminierungserfahrungen durch Lehrer:innen. Hier besteht deutlicher Handlungsbedarf: Wenn die Ganztagsschule jugendorientiert sein soll, geht dies nur über Erwachsene, die sich interessiert und respektvoll gegenüber den Jugendlichen verhalten. Dabei müssen sich Lehrkräfte auch der bestehenden (Macht-)Asymmetrien bewusst sein und eine mögliche (Re-)Produktion von Ungleichheit durch ihr Auftreten und Handeln vermeiden.

  1. Mehr Partizipation ermöglichen!

Große Zustimmung unter den befragten Jugendlichen fand die Aussage: „Die Erwachsenen in unserer Schule bestimmen eigentlich alles, was uns Schüler:innen betrifft.“ Ein wenig überraschender Befund, denn mangelnde Mitbestimmungsmöglichkeiten (insbesondere bei grundlegenden Aspekten der Schule) sind bereits wissenschaftlich vielfach belegt worden. So ist auch bekannt, dass insbesondere ältere Jugendliche ihre Mitwirkungsmöglichkeiten in der Schule geringer einstufen als jüngere. Häufig fehlt das Vertrauen in die Aufrichtigkeit und die Reichweite schulischer Beteiligungsprozesse. Entsprechend ist es auch nachvollziehbar, dass viele Jugendliche gar nicht mehr bestimmen möchten bzw. nicht mehr einschätzen können, wo eine Beteiligung ihrerseits überhaupt möglich und sinnvoll wäre. Daraus entsteht ein zentraler Appell an alle in der Ganztagsschule pädagogisch tätigen Akteure: Durch sie müssen Partizipationsmöglichkeiten und vorhandene Beteiligungsstrukturen in Ganztagsschule transparent gemacht und ermöglicht werden. Die multiprofessionelle Kooperation (bspw. mit der Jugendhilfe) bietet hier großes Potential.

  1. Lernbedürfnisse und Interessen der Jugendlichen aufgreifen!

Die Studie macht deutlich, dass sich viele Jugendliche in ihrer Ganztagsschule nicht in ihren Lernbedürfnissen und Interessen angesprochen fühlen und auch der Lerngehalt weder für den schulischen noch für den persönlichen Hintergrund als besonders hoch eingeschätzt wird. Bei der direkten Nachfrage äußern die befragten Jugendlichen konkrete Wünsche wie z.B. nach dem Erlernen von alltagspraktischen Kompetenzen, die ein selbstständiges Leben ermöglichen (u.a. Haushaltsführung, Umgang mit Geld). Jugendliche fordern somit alltagsnahe und lebenspraktische Unterstützung, um z.B. ökonomisch Verantwortung übernehmen und richtige Entscheidungen für ihre Biografie treffen zu können. Die Ganztagsschule verfügt über entsprechende Möglichkeiten, den Jugendlichen die gewünschten Bildungsangebote zu unterbreiten. Dabei ist es sinnvoll, außerschulische Kooperationspartner als Expert:innen einzubinden.

Fazit – Die Ganztagsschule ist jugendorientiert, wenn sie die Bedarfe der Jugendlichen berücksichtigt

Im Rahmen der Studie „Jugend-Bildung-Ganztag in NRW“ wurden die subjektiven Bedarfe der Jugendlichen mit Blick auf ihre Ganztagsschule identifiziert. Aus ihrer Sicht ermöglicht eine jugendorientierte Ganztagsschule…

  • ein respektvolles Miteinander sowie ein angst- und gewaltfreies Schulklima.
  • Unterstützung durch aufgeschlossene, zugewandte und reflektierte Erwachsene.
  • transparente und weitreichende Beteiligungsprozesse für Jugendliche.
  • alltagsnahe & lebenspraktische Bildungsangebote, die sich nach den Interessen der Jugendlichen richten.

Durch die Berücksichtigung ihrer Interessen und Bedarfe werden Jugendliche in großem Umfang in der Bewältigung der Kernherausforderungen des Jugendalters unterstützt: Sie lernen in einem geschützten Rahmen, sich mit ihren eigenen und den allgemeinen Wertvorstellungen auseinanderzusetzen. Sie werden als eigenständiges Individuum gehört, respektiert und mit Blick auf ihre individuelle Situation unterstützt. Auch lernen sie, ihre Interessen selbstbestimmt zu vertreten und mit denen anderer auszubalancieren. Sie übernehmen Verantwortung für sich und andere und werden dadurch bedarfsgerecht auf die Zeit nach der Schule vorbereitet.

Die Erwachsenen nehmen bei der Realisierung dieser Forderungen eine zentrale Schlüsselposition ein, denn sie müssen die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten schaffen, um im Kontext der Ganztagsschule eine kooperative und jugendorientierte Ganztagsbildung zu ermöglichen.

 


Die Studie wurde von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Nordrhein-Westfalen (SAG NRW) in Trägerschaft des Instituts für soziale Arbeit e.V. (ISA e.V.) durchgeführt und herausgegeben. Die SAG NRW wird vom Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie vom Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.

Alle aufgeführten Forschungsergebnisse und Literaturangaben sowie weiterführende Hinweise für die praktische Umsetzung finden Sie in unserem Forschungsbericht „Jugend-Bildung-Ganztag in NRW“.

Spannruft, S.; Steinhauer, R.; Winkler, N. (2021): Ergebnisbericht zur Studie „Jugend-Bildung-Ganztag in NRW“. Der GanzTag in NRW. Beiträge zur Qualitätsentwicklung 2021, Heft 32. https://www.ganztag-nrw.de/fileadmin/Dateien/Materialien/Forschung/2022-06-23-Studie_Jugend-Bildung-Ganztag_in_NRW.pdf

Eine kompakte Zusammenfassung der Ergebnisse inklusive konkreter Handlungsanregungen bietet zudem das Ergebnisvideo der Studie: https://vimeo.com/705656948