Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf. Finanzielle Armut bedeutet oft auch Bildungsarmut, denn in kaum einem anderen Land hängt der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab wie bei uns. Studien belegen dieses alte Problem immer wieder aufs Neue: Laut dem jüngsten IQB-Bildungstrend erreichen je nach Kompetenzbereich bis zu 30 Prozent der Viertklässler:innen nicht die Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen. Besonders betroffen: Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern.

Bei der Suche nach möglichen Lösungsansätzen haben wir im Partnernetzwerk unseres Projektes ACT2GETHER, das Ende 2022 an das KinderRechteForum (KRF) transferiert wurde, den Blick auf die Pädagog:innen in Schule und Ganztag gerichtet. Denn: Lehr- und Fachkräfte sind zentrale Bezugspersonen für Kinder und Jugendliche und spielen eine Schlüsselrolle beim Erwerb fachlicher und überfachlicher Kompetenzen. Sie begleiten junge Menschen oft über viele Jahre beim Aufwachsen. Es liegt auf der Hand, dass die Beziehungen zwischen Schüler:innen und ihren Lehrkräften wichtig und prägend sind. In Kooperation mit Tanja Betz, Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, haben wir uns daher gefragt: Was brauchen sozial benachteiligte Jugendliche in ihren Beziehungen zu erwachsenen Vertrauenspersonen – und davon abgeleitet auch von ihren Pädagog:innen? Was müssen Lehr- und Fachkräfte wissen und können im Umgang mit sozialer Benachteiligung? Und welche Antworten können Aus- und Fortbildung bzw. Professionalisierung hier geben?

Zu den Projektergebnisse sind gerade zwei Publikationen zum Thema erschienen, in deren Zentrum die „Habitussensibilität“ steht.

 

Ein Plädoyer für eine habitussensible Beziehungsarbeit

Sehr deutlich hat sich im Projekt gezeigt: Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, kommen mit spezifischen Bedarfen in die Schule und verfügen gleichzeitig auch über besondere Potenziale und Talente. Beides, Bedarfe und Potenziale, sind jedoch oft durch den Mantel der Armut verdeckt und müssen erst entdeckt werden. Dies kann Lehr- und Fachkräfte vor enorme Herausforderungen stellen. Pädagog:innen kommen zumeist aus anderen, tendenziell bildungsnahen, Lebenswelten und können sich nur schwer in die Lebenswelten von sozial benachteiligten Kindern hineinversetzen. Sie kennen die sozialen Rahmenbedingungen des Aufwachsens und deren Folgen häufig nicht, erleben aber die Folgen in der Schule, z. B. im Sozialverhalten. Dies führt im Schulalltag zu einem Gefühl von Distanz – einer habituellen Distanz. Der Begriff „Habitus“ bezeichnet das gesamte Auftreten einer Person, sowohl die äußerlich sichtbaren Merkmale (Kleidung, materielle Besitztümer etc.) als auch die weniger sichtbaren Merkmale (Lebensstil, Geschmack, Ausdrucksweise etc.).

Der Habitus, als Begriff vor allem von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu geprägt, lässt oft auf die soziale Schicht schließen und bestimmt, wie Menschen ihre Umwelt und sich selbst wahrnehmen, nach welchen Mustern sie denken und handeln. Entsprechend bedeutet Habitussensibilität, diese oft unsichtbaren Muster sichtbar zu machen. In Bezug auf den Umgang mit sozial benachteiligen Kindern und Jugendlichen bedeutet Habitussensibilität für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte, sich bewusst und professionell mit benachteiligten Lebenslagen, Denkmustern und Alltagskulturen auseinanderzusetzen – und zwar mit den eigenen und den fremden. Dazu gehört nicht nur die Frage, welchen Hintergrund und welche Bedürfnisse das Kind hat, sondern auch, aus welcher Lebenslage und Alltagskultur man selbst als Lehr- oder Fachkraft kommt und wie diese Distanz auf der gemeinsamen Reise überwunden werden kann. Für diese pädagogische Selbstreflexion bietet der Ganztag und die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams neue Möglichkeiten.

 

Was brauchen Jugendlichen in der Beziehung zu ihren Lehrkräften?

Gerade für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Lebenswelten sind vertrauensvolle Beziehungen von großer Bedeutung. Um ihre Perspektive und spezifischen Bedürfnisse in Beziehungen zu erfahren, haben wir sie in einer qualitativen digitalen Interviewstudie gemeinsam mit einer selbstgewählten erwachsenen Vertrauensperson befragt. In der Interviewstudie wurde deutlich, wie wichtig es aus der Sicht der Schüler:innen ist, dass Lehr- und Fachkräfte stärker auf die Bedarfe und Anliegen von Jugendlichen eingehen. Sie wünschen sich Ansprechpartner:innen, mit denen sie sich vertrauensvoll und offen über Probleme und mögliche Lösungen austauschen können. Vieles, was mit Armut zu tun hat, ist schambesetzt, und dafür braucht es ein vertrauensvolles Miteinander. Zudem es braucht Zeit und Raum, die es im Schulalltag, in dem Noten und schulisches Fortkommen im Mittelpunkt stehen, oft nicht gibt. In den Interviews wurde deutlich, das stärkende und ermutigende Beziehungen sowie das Verstehen der eigenen Lebenswelt und ihrer Herausforderungen oft außerhalb der Schule entstehen und wie wichtig genau diese stärkenden, habitussensiblen Beziehungen auch im Kontext von Schule wären.

 

Was ist wichtig für den Kompetenzerwerb in der Aus- und Fortbildung?

Gibt es spezifisches Wissen und Kompetenzen, die für die Gestaltung von Beziehungen und Lernprozessen im Kontext von sozialer Benachteiligung relevant sind? Und was bedeutet dies für die Aus- und Fortbildung? Auch hierzu lieferten Sondierungsgespräche mit Expert:innen im Rahmen des Kooperationsprojekt mit Prof. Dr. Tanja Betz Ansatzpunkte, die es weiter zu verfolgen gilt. Die erste Frage wurde in den Interviews einhellig mit „Ja“ beantwortet. Bei der Nennung des konkreten Wissens und der Kompetenzen kristallisierten sich verschiedene Typen heraus: Von ungleichheitssensiblen Professionswissen (z. B. Wissen über Bildungsungerechtigkeit und ihrer Reproduktion, Lebenswelten, Habitus, Diagnostik etc.) über Handlungswissen (z. B. Beziehungsaufbau und -pflege) bis hin zu reflexivem und biografischem Wissen (z. B. implizite eigene Orientierungen und Deutungsmuster). Im Kontext der Aus- und Fortbildung wurden Herausforderungen deutlich, die in den Lehr- und Fachkräften selbst sowie den strukturellen Rahmenbedingungen ihres Handelns liegen. Es zeigt sich, dass ungleichheits- bzw. habitussensible Ansätze in der Aus- und Fortbildung noch wenig verankert sind und Nachweise über die Wirkung vorhandener Angebote ausstehen. Daher ist hier an verschiedenen Stellen anzusetzen: sowohl bei der Bedeutung des pädagogischen Handelns für den Abbau von Benachteiligung als auch bei der weiteren Wirkungsforschung zum vielversprechenden Konzept der Habitussensibilität und der Integration solcher Ansätze in die Aus- und Fortbildung.

 


Zwei Publikationen zum Weiterlesen:

In der praxisorientierten Expertise „Die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit in der Schule: Ein Thema für die Lehrkräfteausbildung“ stellen Prof. Dr. Sabrina Rutter und Dr. Florian Weitkämper ein Lehr-Lern-Konzept für die Ausbildung von Lehrkräften vor, über das sich Lehrende und Studierende in sieben Modulen selbstreflexiv mit den eigenen Vorstellungen vom Lehren und Lernen sowie von Schüler:innen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten befassen können. Das Ziel ist, Habitussensibilität zu verstehen und in den Beziehungen zu Schüler:innen umzusetzen.

Der Sammelband „Soziale Ungleichheit und die Rolle sozialer Beziehungen in der (Ganztags-)Schule – kein Thema für die Fortbildung?“ von Prof. Dr. Tanja Betz, Dr. Alexa Meyer-Hamme und Arne-Christoph Halle fasst die zentralen Ergebnisse des Kooperationsprojekts mit der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zusammen: Neben den Bedarfen von Schüler:innen geht es um das Wissen und Können von Lehr- und Fachkräften im Kontext von Benachteiligung sowie um Lösungsansätze für die Professionalisierung.