Plötzlich ist eine „Potsdamer Erklärung“ in all derer Munde, die sich mit der Zukunft des Abiturs auseinandersetzen. Auch wenn die Kultusministerkonferenz jetzt ihre ursprünglich geplante Veränderung der Oberstufenvereinbarung verabschiedet hat, ohne diese Impulse aufzugreifen, so stand diese Erklärung doch immer auch wie ein Elefant im Raum. 

Aber wie kam es zu dieser “Potsdamer Erklärung”? Wie kam es zu einem Bündnis so unterschiedlicher Gruppen wie GEW, Daltonvereinigung, Schule im Aufbruch, Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband, Schulverbund Blick über den Zaun, GGG, Initiative Flexible Oberstufe, viele Landeselternbeiräte, Bundesschülerkonferenz und ganz viele Landesschüler*innenvertretungen? 

Die Geschichte begann vor mehr als 10 Jahren, als – gefördert durch die Robert Bosch Stiftung – ein Schullabor verschiedener Schulen aus Baden-Württemberg entstand. Sie entwickelten, orientiert am finnischen Modell, ein Konzept „Abitur im eigenen Takt“ (Stöffler & Förtsch, 2014), für das sie gerne einen Schulversuch beantragt hätten. Leider konnte dieses Konzept nirgends erprobt werden, weil es trotz Antrag mehrerer Schulen vom Kultusministerium nicht in die KMK eingebracht wurde. Wahrscheinlich wäre es dort auch nicht mehrheitsfähig gewesen. Ein großes Forum der Schulakademie der Bosch Stiftung griff das Thema im Jahr 2017 erneut auf. Damals schon gab es einen von der KMK genehmigten Schulversuch zum additiven Abitur an der Eliteschule des Sports in Potsdam, der strukturell vieles von dem umsetzt, was „Abitur im eigenen Takt“ fordert. Viele Schulen interessierten sich für eine Flexibilisierung und Weiterentwicklung der Oberstufe und des Abiturs. Und so entstanden daraus zwei „Innovationslabore“, getragen von der Schulakademie der Robert Bosch Stiftung, eines unter dem Thema: „G-Flex: die Flexible Oberstufe“ und eines unter dem Thema „Neue Oberstufe“. Beide Innovationslabore arbeiteten eng zusammen. Insgesamt fast 20 Schulen aus ganz Deutschland waren vertreten und entwickelten spannende Konzepte zur Flexibilisierung der Oberstufe in Deutschland. Ein Ergebnis davon war das Buch: „Die Flexible Oberstufe – wie Schulen Freiräume schaffen und nutzen können“ (Stöffler et al., 2021). Die Steuerungsgruppe dieses Innovationslabors gründete die „Initiative Flexible Oberstufe“. 

Unsere Ziele wiesen immer in zwei Richtungen: 

a) Wir wollen Schulen vernetzen und motivieren, die Spielräume, die es in der Oberstufe gibt, zu nutzen, um einen Beitrag zu mehr Flexibilität in der Oberstufe zu leisten: Neue Prüfungsformate mit der Ermöglichung individueller Bildungsbiografien, mehr Raum für Selbstwirksamkeit von Schülerinnen und Schülern, die Eröffnung von Gestaltungsraum für freie Lernzeiten auch in der Oberstufe sowie Raum für projektartiges und fächerverbindendes Lernen.

b) Ein zweiter wichtiger Strang war uns von Anfang an wichtig:
Wir wollen politisch aktiv werden, um die Rahmenbedingungen in Deutschland so zu verändern, dass alle Schulen, die in der gymnasialen Oberstufe flexibler arbeiten wollen, dies nicht gegen das System der Oberstufe und des Abiturs tun müssen. Wir wollen, dass das System diese Innovationen, diese Gestaltungsräume nicht nur toleriert, sondern ermöglicht, ja unterstützt.

Nur so wird es nachhaltig zu einer Veränderung in Deutschland kommen. 

Auf unterschiedlichen Ebenen trafen wir in Videokonferenzen u. a. mit dem Schulverbund ‘Blick über den Zaun’, der GGG, der GEW und ebenso mit dem Institut für zeitgemäße Prüfungskultur und der Daltonvereinigung zusammen. Wir spürten eine große Einigkeit in der Zielrichtung und wussten: Nur wenn wir gemeinsam aktiv werden, werden wir von Politik, Schulverwaltung und Medien wahrgenommen und gehört. Gleichzeitig plante die “Initiative Flexible Oberstufe” gerade eine Tagung in Potsdam, um dort das Konzept des additiven Abiturs der Sportschule Potsdam näher kennenzulernen. Im Herbst 2022 ging es dann Schlag auf Schlag. Wir erfuhren, dass die neue Oberstufenvereinbarung der KMK schon im März 2023 verabschiedet werden sollte, und dass es um formale Angleichung ging, aber kein Raum für Innovation und Flexibilität in der Oberstufe vorgesehen war. Und so schlossen sich wesentliche Akteure aus all diesen Gruppen zusammen, formulierten ein Papier unter dem Titel: “Potsdamer Erklärung” und luden alle ein, diese Erklärung mitzuunterzeichnen. Die wichtigsten überregional aktiven Akteure in und mit Schulen sind in Abbildung 1 zu finden. Viele weitere Unterzeichner*innen schlossen sich an (zu finden unter www.potsdamer-erklaerung.de). 

Abb. 1: Erstunterzeichnende der Potsdamer Erklärung.

Das Überraschende für mich war, dass in der Ansicht hinsichtlich dessen, was in Deutschland möglich sein sollte, gar keine großen Unterschiede bestehen:
Alle wollen ein deutsches Abitur auf hohem und vergleichbarem Niveau in den verschiedenen Bundesländern. Alle wollen, dass das deutsche Abitur auch die Hochschulzugangsberechtigung in der Regel ermöglicht. Alle sind aber auch der Meinung, dass es den Schulen in Deutschland schwer gemacht wird, flexibel auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu reagieren. 

  • Welches Signal setzen wir gegenüber unseren Abiturienten, wenn im Prüfungsblock ein so großer Schwerpunkt auf (handschriftliche) Klausuren gesetzt wird? 
  • Welche Kompetenz wird eigentlich überprüft, wenn z. B., anders als bei den Hochschulabschlussprüfungen, alle Prüfungen nur gleichzeitig abgelegt werden dürfen? 
  • Werden wir den Anforderungen des 21. Jahrhunderts wirklich gerecht, wenn Teamarbeit in der Regel eher ausgeschlossen als gefördert wird? 
  • Wie werden die Veränderungen in einer von Digitalität geprägten Welt wahrgenommen, wenn sich die Prüfungsformate seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts praktisch nicht geändert haben? 
  • Wie werden wir mit unserem Abitur einer sich verändernden Gesellschaft gerecht, in der es auch viele gibt, die mit Migrationsgeschichte das Abitur machen wollen? 
  • Ist es wirklich zielführend, wenn ein Abiturient, der in wenigen Fächern zu wenige Punkte erreicht hat, ein ganzes Schuljahr wiederholen muss? 
  • Ist es wirklich eine wichtige zu erbringende Leistung, wenn für das Abitur nur Leistungen aus zwei Schuljahren angerechnet werden dürfen? 
  • Ist unser Abitur nicht immer noch mehr von Auslese als von Ermöglichung geprägt? 

Wir leben in einer heterogenen Gesellschaft, und das Abitur setzt fast nur auf formale Gleichheit. Dies wird weder den jungen Leuten noch den Anforderungen der Gesellschaft gerecht. 

Wir hatten die große Hoffnung, dass wenigstens eine Innovationsklausel in die KMK-Vereinbarung kommt, gerade um die Adaption des Bildungssystems in Deutschland an eine sich verändernde Welt zu erreichen. Der Geist der ersten KMK-Vereinbarung von 1972 war ein anderer: Da heißt es in der Präambel: 

„Mit der vorliegenden Vereinbarung will die Kultusministerkonferenz die gymnasiale Oberstufe stärker als bisher sowohl an den Anforderungen einer sich verändernden Gesellschaft als auch an den Bedürfnissen der Heranwachsenden orientieren. Die größere Selbständigkeit, wie sie dem Oberstufenschüler entspricht, wird verbunden mit wissenschaftsnahem Arbeitsstil und überschaubarem Leistungsanspruch. Die Kultusminister danken besonders den Schulen für die vielen einzelnen Reformbemühungen, die dieser Vereinbarung den Boden bereitet haben. Die Diskussion des Entwurfs vom 2. Juli 1971 hat das breite öffentliche Interesse und die Zustimmung zu den Grundlagen erwiesen. In vielen Ländern arbeiten bereits zahlreiche Gymnasien nach dem Modell des Entwurfs. Die Kultusminister halten es daher für richtig, nunmehr allgemein mit dieser Reform zu beginnen.“ (Aus der Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II vom 7. Juli 1972) 

Folgende Aspekte waren damals handlungsleitend: 

  • Berücksichtigung „einer sich verändernden Gesellschaft“ 
  • Orientierung „an den Bedürfnissen der Heranwachsenden“ 
  • Wertschätzung für „die vielen einzelnen Reformbemühungen“ der Schulen 
  • „Diskussion des Entwurfs” mit „breitem öffentlichem Interesse“  

Warum all dies in den letzten Jahrzehnten verloren ging, lässt uns nur sehr verwundert zurück. Heute zieht sich die KMK darauf zurück, dass ja eigentlich fast alles die Länder und die Schulen selbst entscheiden können und sie nur für Chancengleichheit zwischen den Ländern zu sorgen hätte. „Die meisten der in der Potsdamer Erklärung aufgestellten Forderungen bewegen sich unterhalb der Regelungsebene der Oberstufenvereinbarung…. Wir sind uns alle einig, dass es in der Oberstufe Raum für Innovationen geben muss, dass Digitalisierung, forschendes und fächerübergreifendes Lernen, Projekte, Weiterentwicklung von Prüfungsformaten… für die Zukunft unserer Schülerinnen und Schüler wichtig sind.“ so die damalige KMK-Vorsitzende Astrid Sabine Busse in einem Schreiben vom 10.3.2023 an uns. 

Das große Interesse, die große Anzahl der Unterstützerinnen und Unterstützer unserer Initiative hat uns ermutigt, nun nicht aufzugeben, sondern das, was in unserer Macht steht, zu tun, damit die Länder die Vereinbarung mit Raum für Innovation umsetzen. Wir wollen gerne all jene Schulen unterstützen, die diesen Raum der Innovation gestalten wollen. Wir wollen gerne all die miteinander vernetzen, auch über Bundesländergrenzen hinweg, die in der Oberstufe flexibler arbeiten wollen. Wir nehmen auch in den Blick, hierfür Angebote wie Onlinewerkstätten anzubieten und planen einen größeren Kongress, um z. B. Anträge auf Schulversuche zu initiieren, zu begleiten und zu vernetzen. Aber da sind wir noch ganz am Anfang und freuen uns auf weitere Unterstützerinnen und Unterstützer (näheres unter www.potsdamer-erklaerung.de). Wir freuen uns über die Einladung zu einem Gespräch mit dem Schulausschuss über dieses Vorhaben, das auf Initiative der Kultusministerkonferenz Ende Mai in Potsdam stattfinden wird. Wir spüren: Die Zeit ist reif für Innovation im deutschen Bildungssystem, die Resignation vieler gilt es zu überwinden, als Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes und zur Erfahrung von Selbstwirksamkeit für Schülerinnen und Schülern. 

 


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