Schule21 im Gespräch mit Frank Wagner

Stell dir vor du wirst Schulleiter an einer Schule in einem benachteiligten Stadtteil und du merkst, dass Kinder ganz wenig Wertschätzung erleben, sowohl zu Hause als auch in deiner Schule. Die Lehrkräfte sind gewohnt, die Klassen mit lauter Stimme streng zu managen, Lernen scheint fast mit einer Art Drill verbunden. Den Kindern geht es offensichtlich nicht gut und du weißt, dass sie etwas anderes brauchen als sie erfahren, dass sie Zuwendung und eine stärkenorientierte Wahrnehmung brauchen. Wie kannst du ihnen die Freude am Lernen wieder vermitteln? Wie kannst du ihnen Wertschätzung zukommen lassen? 

Diese Fragen hat sich Frank Wagner gestellt. Seit 16 Jahren ist er nun Schulleiter an der Gebrüder-Grimm Grundschule in Hamm. Wie konsequent er den Anspruch der Wertschätzung von Schülerinnen und Schülern dort in den vergangenen Jahren umgesetzt hat, zeigt unter anderem, dass seine Schule 2019 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde. Schule21 hat mit ihm über die Entwicklung der Gebrüder-Grimm-Schule, die Bedeutung von bedingungsloser Wertschätzung für Kinder und über ein konkretes Instrument dafür, die sogenannten „Lobbriefe“, gesprochen.

Herr Wagner, die Gebrüder-Grimm-Schule stand kurz vor dem Aus und Sie haben dies zum Anlass genommen, das pädagogische Konzept und die Elternarbeit zu verändern. In den letzten Jahren hat sich die Schule stark gewandelt, 2019 hat sie den Deutschen Schulpreis gewonnen. In diesem Jahr mussten Sie sogar einige Erstklässlerinnen ablehnen. Was macht Ihre Schule jetzt so beliebt bei Kindern und Eltern und wie haben Sie das erreicht?

Die Schule ist heute beliebt, weil sie als familiär, also nahbar und ansprechbar für die Eltern, wahrgenommen wird und weil die Kinder bei uns viel individuelle Wertschätzung auf verschiedenen Wegen erfahren. Das hat sich herumgesprochen im Stadtteil und darüber hinaus.

Die Offenheit und das veränderte Klima an der Schule sind entstanden durch unser beharrliches Festhalten an einer Vision, die auf der Überzeugung fußt, dass Eltern und Lehrkräfte sich gegenseitig vertrauen können müssen, damit Kinder gute Voraussetzungen beim Lernen haben. Dazu gehört vor allem, viel miteinander zu sprechen. Wir gehen aktiv auf die Eltern zu, laden sie ein, rufen sie regelmäßig an oder schreiben Ihnen, um über positive Entwicklungen der Kinder zu berichten. Wir zeigen den Eltern auf diese Weise, dass wir ihre Kinder in ihrer ganzen Entwicklung sehen, fördern und begleiten, dass sie bei uns gut aufgehoben sind. So gelingt es uns meistens, mit den Familien genau das Vertrauensverhältnis aufzubauen, dass wir für unsere Arbeit brauchen.

Sie verwenden als eine Maßnahme für individuelle Wertschätzung von Schülerinnen und Schülern Lobbriefe. Was können wir uns darunter vorstellen und welche Bedeutung haben die Lobbriefe im Schulalltag?

Zunächst vorweg: Wir sind davon überzeugt, dass Kinder bedingungslose Wertschätzung brauchen, um gut lernen zu können. Um diese Überzeugung an unserer Schule zu leben, verwenden wir viele verschiedene Instrumente und Methoden. Eine davon sind unsere Lobbriefe. Das sind von Lehrkräften geschriebene, individuelle Briefe an einzelne Schülerinnen und Schüler, die ihre besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten wertschätzen. Die Lobbriefe beziehen sich häufig auf sozial-emotionale Fähigkeiten – aber nicht nur! Es geht genauso um fachliche Leistungen. Aber es geht eben um besondere Leistungen des jeweiligen Kindes. Das bedeutet, dass man bei uns nicht die beste Arbeit einer Klasse geschrieben haben muss, um im Rahmen des Lobbriefes wertgeschätzt zu werden. Vielmehr können die Lehrkräfte in einem solchen Brief die bis dahin individuell beste Leistung, die das Kind erbracht hat, hervorheben. Das kann z. B. seine erste Zwei oder Drei in Mathe sein.

Wir versuchen, in den Lobbriefen ein möglichst breites Spektrum an Fähigkeiten der jeweiligen Kinder abzubilden. Das verhindert auch, dass die Lobbriefe vorhersehbar für die Kinder und zur Routine für uns werden. Trotzdem haben die Briefe natürlich eine gewisse Systematik. Jeder Brief wird von den Lehrkräften selbst verfasst, ganz oft könnten sie dabei auf Vorschläge von Kindern und Eltern zurückgreifen. Und das Schreiben eines Lobbriefs lenkt unsere Aufmerksamkeit immer wieder darauf, was die einzelnen Kinder in ihrer Klasse schon gut können und wo sie sich individuell besonders verbessert haben. Das bringt uns Lehrkräfte oft ins Grübeln über den Sinn und Unsinn von Leistungsbewertungen in ihrer tradierten Form – und wir merken beim Schreiben immer wieder, wie schwer es uns in Deutschland fällt, bei unseren Mitmenschen, und besonders bei Schülerinnen und Schülern, die Stärken in den Blick zu nehmen. Dabei ist genau das aus meiner Sicht der Schlüssel dafür, wie wir Kinder besser beim Lernen unterstützen können – und wir sind mittendrin in einer Haltungsänderung hin zu mehr Wertschätzung der Stärken bei den Schülerinnen und Schülern.

Und wie werden die Lobbriefe dann an die Kinder übergeben?

Die Vergabe der Lobbriefe geschieht vor der gesamten Schulöffentlichkeit, wir geben diesem Ereignis einen ganz besonderen, sehr offiziellen Charakter. Wir überreichen sie nämlich immer am Ende unseres “Treffpunkt Grimm”, das ist unsere monatliche Schulversammlung. Auch Eltern sind manchmal dabei. Sie werden extra von uns eingeladen, wenn ihr Kind an diesem Tag einen Lobbrief erhält. Die Kinder sind oft sehr aufgeregt und emotional, wenn nach der Besprechung anderer wichtiger Themen für die Schulversammlung das Vorlesen und die Vergabe der Lobbriefe beginnt. Pro „Treffpunkt Grimm“ lese ich zwischen fünf und zehn Lobbriefe vor, während im Hintergrund eine feierliche Musik läuft. Jeden Lobbrief lese ich vor, ohne direkt den Namen des betreffenden Kindes zu nennen, gebe aber kleine Hinweise auf die Klasse oder die Person, die den Lobbrief verfasst hat. Die Kinder versuchen dann zu raten, wer den Lobbrief erhält und finden das auch ganz oft selbst heraus. Es gibt einen tosenden Applaus von den Kindern und anwesenden Eltern, während das Kind, das den Lobbrief erhält, nach vorne auf unsere kleine Bühne kommt. Auf ihrem Weg klatschen sich die Kinder bei den anderen Kindern ab. Sie strahlen, umarmen mich und manche weinen sogar vor Freude und Stolz. Dann überreiche ich dem jeweiligen Kind den Lobbrief und sage ihm abseits des Mikros noch ein paar individuelle Worte dazu.

Gleichzeit zur Vergabe an die Kinder schicken wir die Lobbriefe auch per Post an die Eltern – das stärkt einmal mehr die vertrauensvolle Beziehung in die Elternhäuser. Die Familien erfahren, dass Schule als eine „offizielle“ Institution ihr Kind positiv wahrnimmt und nehmen deshalb auch Schule als eher positiv wahr. Das hilft uns im Gespräch mit ihnen zu bleiben.

Das hört sich an, als wenn die Lobbriefe das Potenzial haben, einen bleibenden Eindruck bei den Kindern zu hinterlassen. Bekommen Sie ein Feedback dazu, wenn Sie einem Kind nach dem Übergang auf eine weiterführende Schule noch einmal begegnen?  

Bei diesen spontanen Begegnungen sind die Lobbriefe selbst meist kein Thema mehr. Aber es gibt schon Momente, da merke ich, was diese Wertschätzung auch langfristig bei Schülerinnen und Schülern bewirken kann. Ein Beispiel: Bei meinem Besuch eines Schülers zu Hause, als er schon in der siebten Klasse war, habe ich gesehen, dass er einen unserer Lobbriefe an der Wand aufgehängt hatte.  Ich habe das ihm gegenüber nicht thematisiert, es aber sehr wohl wahrgenommen. Ein anderes Beispiel: Ein Schüler hatte Komplimentekärtchen und Worte zum Schulabgang von seiner Klassenlehrkraft erhalten. Das sind weitere Instrumente zur individuellen Wertschätzung unserer Schülerinnen und Schüler. Diese Kärtchen hatte er in seiner Federmappe und seine Eltern haben mir erzählt, dass der Schüler jedes Mal, wenn er in der weiterführenden Schule eine Arbeit geschrieben hat, diese Kärtchen gelesen hat. Und genau darin liegt der Zauber insbesondere dieser schriftlichen Wertschätzung: Sie wirkt weiter über die Schulzeit bei uns hinaus. Und wenn wir unsere Schülerinnen und Schüler in die weiterführende Schule entlassen, dann nehmen sie alle hoffentlich viel Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit ihrer Kompetenzen und ein positives Grundgefühl zu ihren Leistungen mit.

Herzlichen Dank für diesen sehr besonderen Einblick in die Arbeitsweise der Gebrüder-Grimm-Schule, Herr Wagner.