In Deutschland wachsen viele Kinder unter Bedingungen auf, die ihnen von Anfang an das Leben erschweren. Beengte Wohnverhältnisse, überforderte Eltern, eine fremde Sprache – all das gehört für sie zum Alltag. Erhebungen zeigen regelmäßig, welche Auswirkungen soziale Benachteiligung auf den Lebensweg junger Menschen hat. Armut und Bildungsarmut lassen Chancen schrumpfen.

In der Innenstadt von Neuwied am Rhein, einer Stadt mit 66.000 Einwohner:innen, ist diese Realität sichtbar. Die Quote sozial benachteiligter Kinder liegt deutlich über dem Landesdurchschnitt von Rheinland-Pfalz, weil arme Familien hier Sozialwohnungen beziehen können. Darüber hinaus bietet die Innenstadt Infrastruktur, die ohne Auto zu erreichen ist. Das ist für die Alltagsbewältigung entscheidend.

Der Neuwieder Weg

Die Kommunalpolitik ist gefordert, sich dieses Themas anzunehmen – und die Verantwortlichen schauen nicht weg. Doch Kinderarmut ist ein heißes Eisen, denn mit deren Bekämpfung gewinnt man keine Wahlen, sagt der Dezernent für Jugend, Soziales und Bildung, Peter Jung.

Dennoch hat die Stadt sich für das Siegel „Kinderfreundliche Kommunen“ zertifizieren lassen. Hierbei handelt es sich um ein von UNICEF und dem Deutschen Kinderhilfswerk ins Leben gerufenes Programm. Kommunale Angebote, Planungen und Strukturen sollen im Sinne der Kinderrechte verbessert werden.[1] Um diese Ziele zu erreichen, arbeitet die Stadt am Aufbau einer Präventionskette, die Kinder und Familien von der Schwangerschaft bis zum Übergang von der Schule in den Beruf begleitet.

KiTa

Ein wichtiges Glied in der Präventionskette ist die KiTa. Trotz des Rechtsanspruchs nach dem vollendeten ersten Lebensjahr fehlen stadtweit aktuell 350 KiTaplätze. Deshalb kommen einige Kinder in die Grundschule, ohne eine Kita besucht zu haben. Um das zu ändern, optimierte Neuwied das Baumanagement. Eine bessere Koordination der Verantwortlichkeiten führt nun zu effizienteren Abläufen. Dass die freien Träger von Kindertagesstätten signalisieren, die Bauträgerschaft perspektivisch an das Stadtjugendamt als Anspruchsgegner des Rechtsanspruchs zu übertragen, stellt Neuwied finanziell und organisatorisch vor weitere Herausforderungen, auf die sich die Stadtverwaltung schon jetzt vorbereitet.

Parallel zur Optimierung der Prozesse wurde für die jetzige Versorgung mit Plätzen eine städtische Kindertagespflege eingerichtet. Drei bei der Stadt unbefristet eingestellte Mitarbeiterinnen bieten bis zu zehn Kindern zwischen zwei und fünf Jahren ganztägige Förderung in großzügigen Räumlichkeiten in der Neuwieder Innenstadt. Besonders Kinder unter drei Jahren profitieren von diesem familiennahen Konzept. Im Sommer 2025 erscheint der aktualisierte Kindertagesstätten-Bedarfsplan, der die Wirkung der bisherigen Anstrengungen zeigen wird.

Sprachförderung in der Innenstadt

Seit dem letzten Jahr arbeitet in der KiTa Kinderschiff ein Team von zweisprachigen Mitarbeiter:innen mit arabischer, türkischer oder ukrainischer Herkunft. Diese verstehen sprachlich und kulturell die Anliegen der Eltern und Kinder und unterstützen auch einen gelingenden Übergang in die Grundschule.

Das Programm „Sprich mit, Mach mit“ hilft beim Spracherwerb. Damit alle Kinder mit Förderbedarf von diesem Programm profitieren, haben die Grundschulen die Namen der Kinder genannt, die 2025 eingeschult werden. Die Stadt stellt wiederum sicher, dass die Kinder einen KiTaplatz bekommen und von dem Sprachförderprogramm erreicht werden. Für eine sichere Umsetzung von „Sprich mit, Mach mit“ hat das Jugendamt mit den Trägern der freien Jugendhilfe entsprechende Vereinbarungen getroffen.

KiTa-Sozialarbeit

Auch der Ausbau der KiTa-Sozialarbeit entfaltet positive Wirkungen. Dieses kostenlose und freiwillige Hilfs- und Beratungsangebot richtet sich an Familien mit Kindern von der Geburt bis zum Schuleintritt. Wenn Familien Rat brauchen, können sie sich vertraulich an die KiTa-Sozialarbeiter:innen wenden. Lösungen werden gemeinsam gesucht. Der Kontakt ermöglicht den Familien auch einen niedrigschwelligen Zugang zum Jugendamt, zu Netzwerken im Stadtteil und zu Beratungsstellen. Dabei kann die KiTa-Sozialarbeit ein wichtiger Mittler zwischen Familien, Einrichtungen und Behörden sein.

Schule

Neuwied am Rhein nutzt aktiv seine Rolle als Schulträger, um Chancengerechtigkeit für arme Kinder zu verwirklichen. Die Stadt verfügt über ein eigenes Jugendamt und kann damit die Schnittstelle Jugendhilfe– Schule gestalten. So wird auch der Übergang von der KiTa in die Grundschule geregelt und eng begleitet.

Insbesondere für benachteiligte Kinder muss das Recht auf Ganztag in der Grundschule ab 2026 verwirklicht werden. Der Anspruch richtet sich gegen die Jugendhilfe, doch Neuwied und das Land Rheinland-Pfalz teilen das Interesse, den Anspruch über Plätze an Grundschulen zu erfüllen. Das rheinland-pfälzische Schulgesetz ermöglicht verschiedene Formen des Ganztags an Grundschulen. Von besonderer Bedeutung für benachteiligte Kinder ist das Modell der Ganztagsschule in Angebotsform. Dieses umfasst Bildung und Betreuung an vier Nachmittagen der Woche bis 16.00 Uhr und wird vom Land finanziert. Die Angebote werden jedoch in der Regel von Mitarbeitenden der freien Träger der Jugendhilfe oder anderen kommunalen Akteuren gestaltet.

In Rheinland-Pfalz stellen gewöhnlich die Schulleitungen bei der Schulbehörde den Antrag auf Einrichtung einer Ganztagsschule in Angebotsform. In Neuwied ist es ohne Druck des Ministeriums gelungen, alle Schulleitungen der Grundschulen in den von Armut betroffenen Stadtteilen von der Notwendigkeit eines Ganztags zu überzeugen. Dennoch decken die aktuell an den Schulen vorhandenen Plätze nicht einmal die Hälfte des Bedarfs. Für eine Stadt mit knappem Haushalt eine Herausforderung. Der Rechtsanspruch sorgt jedoch dafür, dass der Ausbau nicht gebremst werden kann.

Auswirkungen von Zuwanderung im Bildungssystem

Viele Eltern mit Zuwanderungsgeschichte fühlen sich vom deutschen Bildungssystem überfordert. Sie bringen Schulerfahrungen aus ihren Herkunftsländern mit, die deutlich von dem abweichen können, was hier von Eltern erwartet wird. So ist der Wunsch nach Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus in vielen Ländern unbekannt. Auch können zugewanderte Eltern ihren Kindern die Angst vor der Schule nicht nehmen, weil sie die deutsche Schule selbst nicht kennen.

Was könnte getan werden, um den Zugang zu den Eltern zu verbessern?

Spracherwerb zugewanderter Mütter sicherstellen

Sprache ist der Schlüssel für gelingende Integration. Daher ist der Spracherwerb der Mütter von besonderer Bedeutung, unabhängig davon, ob sie kurzfristig dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Aktuell haben einige Frauen Schwierigkeiten, die Pflicht zur Teilnahme an den Sprachkursen mit der Kinderbetreuung unter einen Hut zu bringen. Manche Frauen entscheiden sich in dieser Situation für eine weitere Schwangerschaft, um dem Druck zu entgehen. Damit wird der Spracherwerb für Mutter und Kinder nachhaltig beeinträchtigt – mit Auswirkungen auf die Teilhabe in der Gesellschaft und am Bildungssystem. Neuwied steht vor der Herausforderung, die Zeiten der Sprachkurse mit den Betreuungszeiten der KiTas zu harmonisieren. Da die Mittel der vom Bundesamt für Migration finanzierten Sprachkurse nicht an die Kommune, sondern an Sprachkursträger fließen, kann die Kommune nur über die KiTas steuern.

Elternarbeit an Schulen

Fachkräfte aus Neuwied berichten,[2] dass Eltern eng begleitet werden müssen. Das ist zeitlich jedoch weder von den Lehrkräften noch von der Schulsozialarbeit zu leisten. Am besten werden Eltern von Angeboten erreicht, die direkt an den Schulen ihrer Kinder verortet sind. So wurden Elternsprachkurse in Kooperation mit der VHS Neuwied an einigen Schulen etabliert. Auch beraten die Ämter für Jugend und Soziales zeitweilig an den Schulen Eltern mit Migrationshintergrund. Das erhöht beispielsweise die Antragstellung für Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Leider bedeutet das nicht zwingend, dass die Kinder auch tatsächlich den Weg in die Angebote finden. Zusätzlich wird auch die Schulsozialarbeit an den innerstädtischen Grundschulen aufgestockt. Damit erweitern sich die Möglichkeiten, Kindern und Eltern zu helfen, damit diese sich in der deutschen Bildungslandschaft zurechtfinden.

Fazit

Neuwied am Rhein zeigt, wie benachteiligte Kinder und ihre Familien unterstützt werden können, wenn zwischen den pädagogischen Fachkräften und auf administrativer Ebene strategisch zusammengearbeitet wird und eine starke Führungsperson Zugriff auf die relevanten Ressorts hat. Darüber hinaus trägt eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Kommune und Schule zu einer kindorientierten Unterstützung bei. Anhand der kursorisch dargestellten Anstrengungen wird aber auch deutlich, wie vielfältig und komplex die fachlichen, finanziellen, organisatorischen, verwaltungsrechtlichen und politischen Herausforderungen sind.[3][4]

 


[1] Kinderfreundliche_Kommune_Aktionsplan_2023-2026.pdf

[2] Neuwied weiterhin auf dem Weg zur kinderfreundlichen Kommune | NR-Kurier.de

[3] Einführung des Rechtsanspruchs auf ganztägige Förderung von Kindern im Grundschulalter

[4] Grundschul-Ganztag: Zugang zu einem gesunden Mittagessen ermöglichen