Wilfried Steinert, ehemaliger Schulleiter der Waldhofschule Templin, setzt sich seit langem für gemeinsames Lernen ein. Im Interview erklärt er, warum

 
Wilfried Steinert im Interview
Was waren die Beweggründe, die Waldhofschule von einer Förderschule zu einer inklusiven Ganztagsschule umzugestalten?
Ausgangspunkt war das Anliegen der Stephanus-Stiftung, der Trägerin der Schule, die Sonderpädagogik aus ihrem Nischendasein herauszuholen. Dafür suchte sie 2002 eine neue Schulleitung, die mit vielen Freiheiten ausgestattet werden und die Waldhofschule entwickeln sollte.
Dass wir auf eine integrative Grundschule hingearbeitet haben – den Begriff der Inklusion gab es noch nicht, hing auch mit unseren eigenen negativen Integrationserfahrungen zusammen. Vor der Schule für alle gab es die Einzelintegration. Im Rahmen dieser Maßnahme sind einzelne geistig behinderte Kinder in Regelschulklassen gegangen. Von denen haben wir aber viele zwischen der dritten und fünften Klasse wieder zurückbekommen, weil die normale Grundschule ihnen nicht mehr gerecht werden konnte. Es fehlte nicht nur eine ausreichende fachliche Betreuung, sondern die Kinder machten auch eher die Erfahrung von Segregation statt Integration. Das hat dazu geführt, dass sie nach ihrer Rückkehr an die Waldhofschule zusätzliche Verhaltensauffälligkeiten zeigten, vor allem aggressives Verhalten.
War es der „bessere“ Weg, eine Förderschule zu einer Integrationsschule umzugestalten oder hätte es auch genauso mit einer Regelschule klappen können?
Der Vorteil an der Förderschule ist natürlich der, dass hier schon die pädagogische Kompetenz dafür vorhanden ist, Schüler mit ihren Besonderheiten individuell zu betrachten. Wer sich mit einem geistig oder schwerst mehrfach behinderten Kind auseinandersetzen muss, der hat einen ganz anderen Blick auf den Einzelnen, seine Beeinträchtigungen, seine Ansprüche und seine Stärken. Das ist der eine Vorteil. Der andere ist, dass ein Förderschullehrer mit diesem besonderen Blick natürlich auch die Regelschüler betrachtet. Er erkennt auch hier viel leichter und schneller die individuellen Besonderheiten des Kindes. Also war es für uns naheliegend, die Regelschulkinder zu uns an die Waldhofschule zu holen.
Gab es nicht starke Vorbehalte vonseiten der Eltern, ihre „normalen“ Kinder auf eine Integrationsschule zu schicken?
Ja, aber es sind eben auch nur Vorurteile, die da in erster Linie heißen: Die Behinderten behindern das Lernen. Wir waren uns dessen natürlich bewusst und haben deshalb auch erst mal ein Jahr lang intensive Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Dazu gehörten monatliche Bildungsveranstaltungen in der Stadt und dazu gehörte auch das Glück, dass unsere örtliche Presse mitgegangen ist und kontinuierlich über die Bildungsdiskussion berichtet hat.
Das Besondere war aber, dass wir unsere einzelnen Bildungsveranstaltungen gar nicht zum Thema integrative Grundschule oder gemeinsames Lernen gemacht haben. Stattdessen haben wir darüber diskutiert, ob Hausaufgaben notwendig sind, wie eine sinnvolle Leistungsbewertung in der Schule aussehen kann oder wie eine gute Ganztagsschule aufgebaut sein muss. Als wir nach einem Jahr der intensiven Bildungsdiskussion das integrative Schulkonzept der Waldhofschule vorgestellt haben, da haben Eltern ihre Kinder gar nicht so sehr wegen der Behinderten bei uns angemeldet, sondern wegen des überzeugenden und zukunftsweisenden Gesamtkonzeptes. Dazu gehörten neben dem gemeinsamen, handlungsorientierten Lernen die rhythmisierte Ganztagsschule, relativ kleine Klassen mit maximal 18 Schülern, Teamteaching mit immer zwei Lehrern in einer Klasse, keine Hausaufgaben usw.
Wie ist die Waldhofschule mit Blick auf Schüler und Personal aufgebaut?
Zurzeit lernen bei uns etwa 130 Schülerinnen und Schüler in sechs Jahrgängen und etwa zwei Klassen pro Jahrgang. Für jede Klasse ist ein Pädagogenteam zuständig, das aus einer sonderpädagogischen Lehrkraft, einer Grundschullehrerin und einer pädagogischen Fachkraft besteht. Etwa die Hälfte der Kinder einer Klasse hat einen diagnostizierten Förderbedarf. Das Schülerspektrum reicht dabei von schwerst mehrfach Behinderten bis hin zum hochbegabten Kind.
Wie gehen Sie mit dieser Vielfalt im Unterricht konkret um?
Zunächst mal besteht eine wesentliche Grundlage des Unterrichtes darin, voneinander zu lernen. In den ersten zwei Schuljahren legen wir bei den Schülern die Basis dafür. In Klasse eins und zwei lernen sie, wie man gemeinsam lernt. Diese Fähigkeit können die Lehrer dann unmittelbar im Unterricht aufnehmen und schauen, wer sich für welches Thema als Tutor eignet. Dafür müssen sie aber zunächst die Stärken und Schwächen der Einzelnen erkennen.
Es ist dabei übrigens nicht so, dass Kinder mit individuellem Förderbedarf ständig von Kindern ohne Beeinträchtigung angeleitet werden. Das ist auch so ein Mythos. Gerade bei praktischen Aufgaben zeigen sich Kinder mit Behinderungen zum Teil viel pfiffiger und einfallsreicher als Regelschüler, die vielleicht schon lesen können.
Wir haben eine wissenschaftliche Begleitstudie laufen, die uns seit unseren Anfängen begleitet. Die hat unter anderem festgestellt, dass an der Waldhofschule kein Kind glaubt, dass es grundsätzlich für Schule oder das Erlernen bestimmter Dinge zu doof sei. Das ist ein scheinbar banaler Aspekt, der aber in einer Lernumgebung mit 50 Prozent beeinträchtigten Kindern ungeheuer wichtig ist. Die Kinder aus der Einzelintegration zu Zeiten der reinen Förderschule waren teilweise hoch frustriert und demotiviert. Das gibt es bei uns nicht.
Wie haben die Regelschullehrer an Ihrer Schule gelernt, mit der Unterschiedlichkeit der Kinder umzugehen?
Die Fachlehrer von der Grundschule hatten natürlich zunächst einen schwierigeren Weg zu beschreiten als die Sonderpädagogen. Als Erstes muss ein grundlegendes Verständnis dahingehend hergestellt werden, dass in jeder Hinsicht kooperativ gearbeitet wird. Inklusive Schule heißt nicht, dass die Regelschullehrer sich um die Kinder ohne Förderbedarf kümmern und die Sonderpädagogen um die Behinderten. Inklusive Schule gelingt nur gemeinsam. Dafür haben wir uns dann auch am Anfang zusammen hingesetzt und daran gearbeitet, wie ein gemeinsamer Unterricht aussehen muss. Das war ein durchaus schweres Stück Arbeit. Aber daraus hat sich unter anderem entwickelt, dass es an der Waldhofschule nur noch 20 bis 30 Prozent Frontalunterricht gibt. Die übrige Zeit wird als Lernlandschaft gestaltet, die gemeinsam vom Pädagogenteam entwickelt und umgesetzt wird.
Schließlich muss auch klar sein, dass die entscheidenden Ressourcen einer inklusiven Schule nicht genutzt werden, wenn man die Sonderpädagogen mit den förderbedürftigen Kindern in den Nebenraum schickt. Dann geschieht kein gemeinsames Lernen und dann profitiert weder die Klasse noch der Regelschullehrer von der fachlichen Kompetenz der Sonderpädagogen. Alle Lehrer sind für alle Schüler gemeinsam zuständig.
Wie wichtig ist die Haltung eines Lehrers in Bezug auf Inklusion?
Das Schlimmste, was einem förderbedürftigen Kind im inkludierten Unterricht passieren kann, ist, dass es zwar gemeinsam mit den anderen Schülern lernt, es von diesen aber als dummes oder unfähiges Kind angesehen und ausgegrenzt wird. Ob so etwas geschieht oder nicht, hat ursächlich mit der Haltung zu tun, die der jeweilige Klassenlehrer an den Tag legt. Wenn ein behindertes Kind von einem Fachlehrer als Belastung empfunden wird, dann überträgt sich diese Einstellung – ob er will oder nicht – auch auf die Schüler. Auf diese Weise entsteht Separation.
Welche Schritte sind entscheidend, wenn eine Schule sich nun zu einer inklusiven Schule entwickeln will? Womit fängt man an?
Der erste Schritt auf dem Weg zur inklusiven Schule heißt Information. Sie müssen wissen, was inklusive Schule wirklich bedeutet und wie inklusive Schule in der Praxis aussieht. Deshalb stehen am Anfang im besten Fall Hospitationen: allen voran durch die Schulleitung, die dieses Thema schließlich für die eigene Schule umsetzen will, und dann natürlich durch die anderen Lehrer. Hospitationen geben nicht nur eine Vorstellung vom inklusiven Schulalltag, sie ermöglichen auch den direkten Kontakt und Austausch zu Kollegen mit Inklusionserfahrung. Im zweiten Schritt muss schulintern diskutiert werden, welche Voraussetzungen für Inklusion es bereits an der eigenen Schule gibt. Was bedeutet Inklusion für die eigene Schule? Welche Haltung braucht Inklusion? In welcher Form und mit welchen Schritten kann Inklusion an der eigenen Schule umgesetzt und entwickelt werden?
Die Waldhofschule hatte ihre Experten mit Inklusionsblick ja von Anfang an schon an Bord. Wer aber begleitet eine Regelschule auf dem Weg zur inklusiven Schule? Wer schaut im Schulalltag auf die Umsetzung und erkennt, wenn es irgendwo hakt?
Im Moment eigentlich keiner. Für die Zukunft brauchen wir im Prinzip Inklusions-Coaches, die von speziellen Schulentwicklungsagenturen kommen und die die Schulen auf ihrem Weg zur „Schule für alle“ begleiten. Es ist eh noch ein weiter Weg, unsere Schulen so zu entwickeln, dass sie gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention allen Kindern offenstehen. Da können wir es uns nicht leisten, dass jede Schule auch die Fehler der anderen macht und in die gleichen Sackgassen läuft. Wir brauchen also qualifiziertes Personal, das hier relativ zeitnah beratend und begleitend zum Einsatz kommt.
Welchen besonderen Herausforderungen sind Sie auf dem Weg zur inklusiven Schule begegnet?
Es gab manchmal sehr unerwartete, aus der Praxis entspringende Hürden, die wir zu bewältigen hatten. So wollten am Anfang die Fachkollegen in den Bereichen Mathematik und Deutsch plötzlich, dass wir in der dritten Klasse doch wieder zum differenzierten Unterricht zurückkehren. Es wurde diskutiert, ob man die beiden Parallelklassen des Jahrgangs nicht in drei Niveaustufen unterteilen könne: stark, mittel und schwach.
Wir haben dieses Modell dann auch versucht, aber nach einem halben Jahr schnell wieder abgebrochen. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass die Leistungen in allen drei Gruppen gesunken waren. Besonders bei den guten Schülern ist die Situation entstanden, dass es im direkten Konkurrenzkampf nur noch darum ging, wer besser war. Den Schwächeren fehlten mit den leistungsstärkeren Schülern schließlich die Motivatoren und Tutoren.
Die größte Herausforderung auf dem Weg zur inklusiven Schule besteht meines Erachtens darin, den inklusiven Ansatz auch konsequent umzusetzen. Er darf nicht in Teilen zurückgenommen und damit im Ganzen verwässert werden. Wer über Jahre oder Jahrzehnte differenzierten Unterricht gemacht hat, neigt natürlich schneller dazu, Erprobtes wieder einzusetzen. Ich erkläre aber im Gespräch mit Kollegen immer wieder, dass ein förderbedürftiges Kind vielleicht eine bestimmte Multiplikationsaufgabe nicht lösen kann. Aber es kann das Prinzip der Multiplikation und das Prinzip von Teilmengen verstehen. Ich muss mich als Lehrer dann halt nur mit dem Kind hinsetzen und mit ein paar farbigen Magneten dieses Prinzip darstellen.