Nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine erwartete die Kultusministerkonferenz bis zu 400.000 geflüchtete ukrainische Schüler:innen in Deutschland. Tatsächlich ist bis Ende November dieses Jahres nur die Hälfte der erwarteten Schüler:innen in deutschen Schulen aufgenommen worden (KMK 2022). Dass auch diese Zahl das deutsche Bildungssystem vor enorme Herausforderungen stellt, verdeutlicht die Situation in Berlin:

Amtlichen Zahlen zufolge sind derzeit 85.000 geflüchtete Ukrainer:innen in Berlin registriert. Bei den meisten handelt es sich um Familien, Müttern mit Kindern und Großeltern. Konservativ geschätzt ist dabei von 15 Prozent schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen auszugehen, was auf eine Zahl von mehr als 11.000 Schüler:innen hinauslaufen würde.

Tatsächlich werden in Berlin inzwischen knapp 7.000 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter in einer Willkommensklasse bzw. im Regelunterricht beschult (KMK 2022). Die Stadt hat in den vergangenen Monaten hierfür eine große Kraftanstrengung geleistet und im ohnehin an Lehrkräfte- und Schulplatzmangel leidenden Bildungssystem diesen Kindern und Jugendlichen einen Platz verschafft.

Mit Blick auf die oben genannten Zahlen ergibt sich aber ein offenkundiges Problem: Die Anstrengungen reichen nicht aus, um jedem aus der Ukraine geflohenen Kind und Jugendlichen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Es ergibt sich eine numerische Lücke, und es ist davon auszugehen, dass sich derzeit mehrere Tausend junge Menschen in der Stadt aufhalten, die an keinem Schulangebot teilnehmen bzw. dieses auch nicht nachfragen.

Nach Auskunft von Schulämtern aus verschiedenen Berliner Bezirken sind die staatlichen Möglichkeiten, weitere Schulplätze zu schaffen, inzwischen erschöpft. Zugleich gehen Beobachter:innen davon aus, dass sich mit Einbruch der Kälte und angesichts der zerstörten Wärme-, Wasser- und Energieversorgung in großen Teilen ihrer Heimat erneut Menschen aus der Ukraine, vor allem mit Kindern, auf den Weg ins Ausland machen werden. Dadurch dürften auch in Berlin wieder mehr Geflüchtete ankommen.

 

Was bedeutet das für die kommenden acht Monate?

Für die geflüchteten Kinder und Jugendlichen gilt de jure die Schulpflicht, de facto kann der Staat dieser nicht nachkommen und kein entsprechendes Angebot für alle betroffenen jungen Menschen bereithalten. Damit wird auch dem vom Bundesverfassungsgericht festgestellten „Recht auf schulische Bildung“, das den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung von unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten sowie ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten gewährleistet, nicht entsprochen (BVG 2021).

Eine zeitnahe Einschulung aller eigentlich schulpflichtigen Geflüchteten ist unter den geschilderten Bedingungen für die kommenden acht Monate bis zum Ende des Schuljahres im Sommer 2023 unmöglich.

Die ersten Monate nach dem Ankommen sind aber entscheidend für ein gelungenes Einleben. Die individuelle psychologische und pädagogische Betreuung ist gerade in der Zeit des Ankommens wesentlicher Baustein für die (psychische) Gesundheit und die weitere Entwicklung der Kinder und Jugendlichen – nicht nur in Berlin. Die durch Corona nach wie vor geschwächten Strukturen und das auch schon zuvor unzureichende Personalangebot auf diesem Gebiet können das in der derzeitigen Situation nicht alleine leisten.

 

Was könnte die Antwort in dieser Lage sein?

Die bildungspolitische Prämisse lautet – zu Recht – , geflüchteten Schüler:innen möglichst rasch Integrationsperspektiven zu bieten – in Willkommens- oder Regelklassen. Jedoch: Solange diese Prämisse auch in Notsituationen wie der aktuellen gilt, verbleiben kaum sinnvolle Handlungsoptionen für die ukrainischen Kinder und Jugendlichen, die derzeit keine Bildungsperspektive haben.

Deswegen könnte die Organisation von Nothilfeangeboten eine zumindest vorübergehende Antwort auf die aktuelle Lage sein und in diesem Fall dem Land Berlin wieder eine aktive Rolle geben. Konkret könnte das bedeuten, einen strukturierten Rahmen zu schaffen, in dem sich ukrainische Pädagog:innen (Erzieher:innen und Lehrkräfte) in begleiteten Selbsthilfeprozessen selbst um die Betreuung und Bildung der unversorgten Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine kümmern – zumindest so lange, wie der Staat seiner Pflicht zu gleichwertigen Bildungs- und Betreuungsangeboten nicht nachkommen kann.

In Präsenzmodellen und unter Nutzung web-basierter Bildungsanwendungen könnten muttersprachliche Lern- und Betreuungsangebote bereitgestellt werden. Zusätzlich ließen sich durch Ehrenamtliche ergänzende deutsche Sprachangebote integrieren, um einen alltagsorientierten Einstieg in die deutsche Sprache zu schaffen.

Das vorrangige Ziel wäre, solange die Notsituation anhält, dann nicht das Erlernen der deutschen Sprache, sondern der Aufbau und das Angebot von strukturierten und betreuten Tagesabläufen in der Muttersprache, orientiert am ukrainischen Bildungssystem. Wenn sich die Platzsituation insgesamt entspannt, sollten selbstverständlich alle Kinder und Jugendlichen in das Regelsystem integriert werden.

Neben den Perspektiven für die ukrainischen Kinder und Jugendlichen könnte ein solches temporäres Nothilfeprogramm ukrainischen Pädagog:innen bezahlte Arbeit und Sinnstiftung verschaffen. Denn insbesondere im pädagogischen Bereich erschweren administrative und qualifikationsbezogene Voraussetzungen einen raschen Wiedereinstieg in der eigenen Profession. Parallel zu den Unterrichts- und Betreuungsangeboten am Vormittag könnten allen Pädagog:innen aus der Ukraine Möglichkeiten angeboten werden, berufsbezogene Sprachkurse und pädagogische Weiterbildungsmodule zu besuchen, um sich während ihres Aufenthalts weiter zu qualifizieren.

Für ein solches Konzept würden gebraucht:

  • Träger, die die Schnittstelle zwischen der deutschen Bildungsadministration und den Betroffenen herstellen und moderieren,
  • Abstimmungsgespräche mit der ukrainischen Botschaft bzw. Vertreter:innen des ukrainischen Bildungssystems,
  • externe Räumlichkeiten in der Nähe von Großunterkünften,
  • leistungsfähige WLAN-Netze an diesen Standorten, um das Onlineangebot des ukrainischen Bildungssystems effektiv einzusetzen,
  • Finanzen zur Absicherung der gesamten Logistik,
  • Klärung der arbeitsrechtlichen Möglichkeiten zur Beschäftigung von ukrainischen Pädagog:innen

Ein solches Bildungsangebot würde bedeuten, die theoretisch bestehende Schulpflicht mit der Nutzung dieses Angebots als vorerst erfüllt anzusehen. Es ist nicht vertretbar, den geflüchteten Kindern und Jugendlichen in den nächsten Monaten Bildung und damit Perspektiven vorzuenthalten. Die Sorge, ein solches Angebot könnte die Integration erschweren, sollte uns nicht daran hindern, den Weg einer sinnvollen Nothilfe als Übergangssituation einzuschlagen.

 

Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Konzept, das im Austausch zwischen Hans-Jürgen Kuhn (Schöneberg hilft e.V.) sowie Dr. Martin Pfafferott und Dr. Dirk Zorn (Bertelsmann Stiftung) entstanden ist. Hans-Jürgen Kuhn war Mitglied der von der Bertelsmann Stiftung und der Robert Bosch Stiftung eingesetzten Expert:innengruppe, welche die beiden Stiftungen bei ihrer Initiative zur Bildungsintegration ukrainischer Schüler:innen und Lehrkräfte unterstützt hat. Über die gemeinsame Arbeit in der Expert:innengruppe hinaus unterstützt die Bertelsmann Stiftung den Verein Schöneberg hilft e.V. in seiner gemeinnützigen Arbeit mit ukrainischen Kindern, Jugendlichen und Lehrkräften.

Der Tagesspiegel berichtete über das in diesem Beitrag vorgestellte Konzept: 1600 Geflüchtete ohne Schulplatz in Berlin: Forscher fordern „Nothilfeprogramm“ ohne Deutschunterricht (tagesspiegel.de).

 


Literaturhinweise:

Bundesverfassungsgericht (BVG) (2021): Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021: Bundesverfassungsgericht – Entscheidungen – Schulschließungen waren nach der im April 2021 bestehenden Erkenntnis- und Sachlage zulässig

Kultusministerkonferenz (KMK) (2022): Abfrage der geflüchteten Kinder/Jugendlichen aus der Ukraine: 47. Kalenderwoche (21.-27.11.2022): AW_Ukraine_KW_47.pdf (kmk.org)