Vorn steht ein Lehrer – und die ganze Klasse paukt dasselbe. Seit Jahrhunderten wurde dieses Schulmodell selten in Frage gestellt, obwohl es seine Mängel hat. Die US-Organisation „New Classrooms“ revolutioniert jetzt erfolgreich den Matheunterricht in New York: Die Wände der Klassenzimmer wurden eingerissen, Schulbücher auf den Müll geworfen. Jedes Kind bekommt eine individuelle Unterrichtsstunde geliefert, die genau auf seine Bedürfnisse zugeschnitten ist. Jeden Tag aufs Neue.

Eine Reportage aus dem aktuellen Change-Magazin „Bildung und Vielfalt“

text: Katja Guttmann ][ foto: Dirk Eusterbrock

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Lange kapierte Elizabeth gar nichts. Binomische Formeln waren für die Elfjährige oft der Grund, dass sich ihre braunen Augen mit Tränen der Verzweiflung füllten: „Ich war total verwirrt, was ich mit dem x machen sollte“, sagt das zierliche Mädchen und spielt mit den Glitzersternchen ihrer ärmellosen Jeansjacke. Sie will Tänzerin werden. Wozu muss sie denn bitte schön den Umfang eines Kreises ausrechnen oder Distributivgesetze verstehen können? Mathe pauken fand sie so überflüssig, dass ihre Leistungen gegenüber denen ihrer Klassenkameraden zurückfielen. Dann aber wechselte Elizabeth in der sechsten Klasse zur David A. Boody“-Schule in Brooklyn, einer „Intermediate School“ (nach dem US-Schulsystem eine eigenständige Schule der Mittelstufe, die Schüler nach der Grundschule und vor der Highschool besuchen). In der Schule des New Yorker Stadtteils revolutioniert die gemeinnützige Organisation „New Classrooms“ seit drei Jahren zusammen mit den Lehrern und dem Schulleiter Dominick D’Angelo den Mathematikunterricht: Sie rissen die Wände der Klassenzimmer raus, warfen Schulbücher weg und entstaubten das jahrhundertealte Lehrer-Schüler-Modell.

Mit dem neuen Konzept „School of One/Teach to One: Math“ kam Elizabeth Karbach schnell zurecht. Schwer war das nicht: Sie durfte den neuen Stoff so schnell oder so langsam lernen, wie er eben in ihren Kopf passte. Um ihr zu erklären, wie man a plus b in Klammern zum Quadrat richtig einsetzte, war „School of One“ sozusagen jedes Mittel recht: Live-Unterricht mit verschiedenen Lehrern, kleine Lerngruppen, Videoinstruktionen per Kopfhörer oder individualisierte Online-Übungen in der Schule und zu Hause. Irgendwann fiel bei Elizabeth der Groschen: Das x auszurechnen war ja plötzlich so einfach, wie Pirouetten vor dem Spiegel zu drehen! „Ich habe im Leben gelernt: Wenn man sehr gut bei was ist, dann mag man das. Und seit ich anfing, gut in Mathe zu werden, mag ich es auch“, sagt sie zufrieden und auf sehr süße Weise altklug. Den Traum von der Tanzkarriere träumt sie weiter. Aber ab jetzt ist die Lösung von binomischen Formeln ein Kinderspiel für sie. Und ihre Chance, die Highschool zu schaffen, ist gestiegen.

Elizabeth und ihre Schule in Brooklyn zählen zu den Erfolgsgeschichten der „New Classrooms“: Seit drei Schuljahren wird dort der Mathematikunterricht individuell auf jeden einzelnen Schüler zugeschnitten – und erzielt phänomenale Erfolge. Bevor „School of One“ im Schuljahr 2010/11 Einzug hielt, lag die Leistung der Sechstklässler ein Prozent unter dem Durchschnitt vergleichbarer Schulen in New York City. Als dieselben Kinder die achte Jahrgangsstufe absolvierten, lagen ihre Prüfungsergebnisse bereits elf Prozent über dem stadtweiten Durchschnitt. Und das, obwohl der US-Staat New York zusammen mit fast allen anderen US-Staaten härtere Tests eingeführt hatte, die sogenannten Common Core State Standards, die Schüler in ganz USA fürs College fit machen sollen. Noch eindrucksvollere Erfolgszahlen lieferte die standardisierte Online-Prüfung MAP (Measures of Academic Progress), mit der die Lernfortschritte gemessen werden: Im Mathe-Unterricht hatten sich die Schüler der „David A. Boody“-Schule im vergangenen Schuljahr um sagenhafte 20 Prozent stärker verbessert, als der landesweite Durchschnitt.

Wie ein Revoluzzer sieht Joel Rose keineswegs aus. Der Mitbegründer und Direktor der Organisation „New Classrooms“ trägt ein dunkelblaues Jackett ohne Schlips, hat sympathische Lachfalten um die Augen und spricht gerne in Bildern. „Wenn dein Jobauftrag lautet: Flieg mal los, umkreise ein paar Wolkenkratzer und lande wieder genau hier, dann kannst du das nicht“, sagt er und zeigt aus den riesigen Fenstern seines Büroraums am Broadway, das vom 30. Stock aus einen grandiosen Blick auf Manhattan bietet. Genauso habe er sich aber gefühlt, als er selbst noch Fünftklässler in Houston, Texas, unterrichtete. „Wenn ich einen neuen Stoff durchgenommen habe, verstand es zwar die Hälfte der Klasse, aber die andere Hälfte nicht. Was sollte ich am nächsten Tag machen? Langweile ich die Hälfte meiner Schüler, weil ich alles wiederhole, oder lasse ich die anderen links liegen und mache weiter? Auf Stärken und Schwächen einzelner Schüler einzugehen, ist im traditionellen Klassenzimmer unmöglich“, so Rose. Der Lehrer-Job sei so frustrierend, dass junge Kollegen durchschnittlich nach spätestens fünf Jahren das Handtuch schmissen. Statistisch gesehen, schaffen nur ein Drittel aller Highschool-Schüler in den USA ihren Abschluss.

Selbst Integriertes Lernen – Präsenzveranstaltung plus E-Learning – konzentriere sich vor allem auf den Einsatz moderner Technologien im Klassenzimmer, wie iPads, Smart-Boards, On-Demand-Videos oder Websites. Alles leistungsstarke Instrumente, gibt Rose zu. Aber sie würden meist nicht mit dem traditionellen „Ein-Lehrer-plus-30-Schüler-in-einer-Schachtel-Modell“ brechen. Lernen im 21. Jahrhundert sollte anders aussehen, fand er. „Wir haben uns überlegt, wie man Schule sozusagen um die Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers herum bauen und neu organisieren kann: Wie sieht die Rolle des Lehrers aus, wie kann man moderne Technologie möglichst gut einsetzen, wie verwenden wir den Raum, wie benutzen wir die Zeit?“ Das Konzept „School of One/Teach to One: Math“ wurde entwickelt.

Dabei fing die Organisation nicht bei null an. Wer das Büro in Manhattan besucht, kann dort einen fensterlosen Raum bewundern, dessen Regale bis zur Decke vollgestopft sind mit dicken Schinken. Die Mathe-Cracks von „New Classrooms“ haben 80.000 bestehende Lektionen durchgeackert und daraus 10.000 herausgefiltert, die bestimmte Kriterien erfüllen müssen. Jeder neue Stoff, wie zum Beispiel den Flächeninhalt eines Parallelogramms zu berechnen, kann mit insgesamt acht verschiedenen „Modalitäten“ oder Methoden gelehrt werden: Live-Unterricht, Gruppenarbeit mit Gleichaltrigen, Online-Tutor oder vielleicht lieber ein Video? Mit einem sogenannten „exit slip“, einer kurzen Online-Prüfung, die jeder Schüler täglich am Ende des Unterrichts ausfüllt, checkt das System, wer den Stoff verstanden hat, wer noch üben muss oder wer bereit ist für eine neue Lektion. Algorithmen errechnen für jeden Schüler individuell, welches die beste Methode ist, damit er es kapiert. Dann schlägt der Computer die passende Modalität für den nächsten Tag vor.

Die „Intermediate School I. S. 228 David A. Boody“, benannt nach dem Brooklyner Bürgermeister David Augustus Boody aus dem 19. Jahrhundert, macht einen freundlichen Eindruck. Das Gebäude mit Klinkerfassade stammt aus den Dreißigerjahren, die knallrot gestrichene Eingangstür steht weit offen, es gibt keine Metalldetektoren, und jemand hat die Erkennungsnummer der Schule liebevoll in die Buchsbaumhecke auf dem kleinen Rasenstück geschnitten. Innen sieht die öffentliche Schule im Brooklyner Stadtteil Sheepshead Bay aus wie viele New Yorker Lehranstalten. Über den grün gestrichenen Fluren leuchten Neonröhren und die Teppichböden sind fleckig. Wenn mit ohrenbetäubendem Lärm das traditionelle Pausenzeichen losschrillt, klappen die Türen auf, und die Gänge füllen sich mit Teenagern, die das aufgestaute Adrenalin aus den Lungen brüllen. Die Namen der rund 1.000 Schüler im Alter zwischen elf und 14 Jahren sind so multi-kulti wie ihre Gesichter. Sie heißen Nelson Chah, Smaa Hussein oder Nanci Vazquez. 14 Prozent Schwarze, 24 Prozent Lateinamerikaner, 34 Prozent Asiaten und 28 Prozent Weiße gehen hier zur Schule. Der Anteil der frisch zugezogenen Immigranten ist groß, aus wohlhabenden Familien stammt kaum einer: 80 Prozent der Schüler haben sogar Anspruch auf einen „free lunch“, ein warmes Mittagessen auf Schulkosten. Viele Eltern leben von Sozialhilfe, für eine Schuluniform ist kein Geld da, geschweige denn für Nachhilfelehrer, falls es mit dem Englisch noch hapern sollte.

Eine ganz neue Welt betritt man aber im ersten Stock der Schule, wo gerade Mathe beginnt: „School of One“ ist ein riesiger Raum ohne Wände, der ein ganzes Stockwerk einnimmt. Auf den Vorschlag von „New Classrooms“ hatte Schulleiter Dominick D’Angelo die früheren Wände der Klassenzimmer komplett entfernen lassen und so einen hellen, offenen Raum kreiert. So können nur wenige Lehrer die zahlreichen Stationen für die gleichzeitig stattfindenden Methoden überblicken, und die große Fläche erleichtert den Schülern den schnellen Wechsel zwischen den Stationen. Offene Trennwände und andersfarbige Stühle grenzen die einzelnen Arbeitsbereiche voneinander ab. Über den Tischen hängen zur Orientierung Schilder wie Gravesend, Botanical Garden oder Williamsburg – alles Namen von Stadtvierteln oder Sehenswürdigkeiten in Brooklyn.

Wenn es losgeht, ertönt Rock-Musik wie bei einer Party. Trotzdem geht es gesittet zu. Langsam trudeln die Schüler ein und suchen ihren Namen auf einem der großen Monitore, die an Flughafenterminals erinnern. Dort steht das Programm, das den Einzelnen heute erwartet. „Ich bin nicht so schnell, deshalb mag ich am liebsten Virtual Instructions“, sagt die elfjährige Loredana Nicolazzi. „Wir sitzen vor dem Computer, haben unsere Kopfhörer auf, und wir schauen uns die Videos an, ohne die anderen damit zu stören. Ich schreibe mir Sachen auf, aber in meinem eigenen Tempo. Ich kann die Pausetaste drücken, wenn ich will“, erklärt sie. Alle drei Jahrgangsstufen der „David A. Boody“-Schule sind zusammengewürfelt. Manche Achtklässler haben noch Lücken im Bruchrechnen, dagegen sind einige Sechstklässler echte Asse in Geometrie und können schon den Stoff der nächsthöheren Jahrgangsstufe bewältigen.

Der zwölfjährigen Samantha Sidransky gefällt die Gruppenarbeit mit ihren Klassenkameraden am besten. „Wenn ich etwas nicht verstanden habe, kann ich die Frage nochmal stellen. Ich habe meine Noten mit School of One sehr verbessert. Letztes Jahr konnte ich nur ein paar ganz einfache Mathematikaufgaben lösen, heute krieg ich 25 Fragen in einer halben Stunde hin“, sagt sie. Daniel Contreras geht in die 7. Klasse: „Am Anfang war ich ein bisschen verblüfft, weil sie hier alles mit dem Computer machen. Aber man muss nicht auf seinen Papierkram aufpassen oder schwere Bücher mit sich herumschleppen. Meine Noten haben sich verbessert, weil ich in meinem eigenen Tempo lerne. Ich bin ein sehr unabhängiger Mensch“, sagt er mit dem unverbrüchlichen Selbstbewusstsein eines Zwölfjährigen.

Auch für die rund 15 Mathelehrer der Schule hat sich die tägliche Arbeit total verändert – zum Positiven. Die junge Lehrerin Kelly Basacchi testet die Reaktion ihrer Zöglinge, während sie auf dem Whiteboard den Flächeninhalt einer Ellipse ausrechnet: „Wer hat das gleiche Ergebnis wie ich: Daumen rauf oder Daumen runter“, ruft sie in den Raum. Etliche Daumen recken sich in die Höhe. Zu denen, die unglücklich dreinschauen, setzt sie sich an den Tisch und hilft, während die anderen weiterrechnen. „Wir bringen alle einen unterschiedlichen Lehr-Stil mit. Wenn ich zum Beispiel etwas erkläre und sie verstehen es nicht, kann es ihnen morgen ein Kollege ganz anders beibringen“, sagt die junge Frau mit den langen dunklen Locken. Sie mag ihre Schüler, das merkt man. Mit ihrem T-Shirt und Leggins sieht sie selbst nicht viel älter aus. Eine gute Lehrerin zu werden, war schon immer ihr großes Ziel, sagt sie, und „School of One“ sei für sie als Neuling im Beruf einfach perfekt. „In traditionellen Schulen ist man als Lehrer oft auf sich allein gestellt. Hier arbeiten wir alle zusammen, sprechen ständig miteinander, wie man mit einem bestimmten Schüler umgehen sollte, wie man eine Lektion am besten rüberbringt. Weil die Wände so offen sind, kann ich manchmal hören, wie es die anderen machen. Dann denke ich mir: Das ist eine gute Idee, und ich benutze es auch in meiner Unterrichtsstunde“, sagt sie. Zwar erfahre sie den Plan für den nächsten Tag immer erst gegen 17 Uhr, wenn die Kinder ihre „exit slips“ abgegeben haben. Aber sie wisse immer genau, wo es bei den Einzelnen noch hakt.

Niemand ist zufriedener mit dem Erfolg von „School of One“ als Schuldirektor D’Angelo. „Keiner meiner Lehrer möchte jemals wieder in sein altes Klassenzimmer zurück. Warum auch? ‚School of One‘ hat die Spielregeln vollkommen verändert. Man eliminiert die ganze Planung, die Analyse der Daten, die Schulaufgaben und Tests. Das Material wird bereitgestellt – das macht den Job so viel einfacher, und die Lehrer können sich darauf konzentrieren, worin sie am besten sind: lehren“, sagt er in seinem vollgestopften Büro im Erdgeschoss der Schule. D’Angelo ist hier seit sieben Jahren Direktor. Er trägt Anzug und Krawatte und sieht aus, als ob er in einem italo-amerikanischen Film mitspielen könnte. Aber hinter den Gläsern seiner Brille sitzt der Schalk. Wenn er auf etwas besonders stolz ist, wird er immer leiser. „Wir sind hier auf eine Goldmine gestoßen, wissen Sie, wie damals beim Goldrausch im Wilden Westen“, sagt er und flüstert fast. Er selbst hat Joel Rose damals gedrängt, „School of One“ als Erstes an seiner Schule auszuprobieren. „Meine Lehrer mögen ‚School of One‘ nicht nur, sie lieben es. Ich werde immer gefragt: Wo ist der Haken? Aber es gibt keinen!“

2009 startete das erste Pilot-Projekt in New York City. Im gleichen Jahr nannte das „Time“-Magazin „School of One“ eine der besten Erfindungen des Jahres. Es war die erste „Unterrichtserfindung“, die es jemals auf die legendäre Liste von „Time“ geschafft hat. Heute arbeiten 15 Schulen im ganzen Land mit dem Konzept „School of One/Teach to One: Math“, einige davon auch in sozialen Brennpunkten wie beispielsweise in Chicago, Illinois. USA-weit lehrt „New Classrooms“ rund 6.000 Schüler Mathematik und verbessert damit ihre Chancen auf eine weiterführende Bildung. „Unser Team hat herausgefunden, was vorher noch nie jemand geschafft hat: Wir liefern für Tausende von Kindern einen individuellen Lehrplan – jeden Tag aufs Neue. Und wir arbeiten weiter hart daran“, sagt Joel Rose und schaut auf die Wolkenkratzer von Manhattan hinunter. Auf gewisse Weise hat er doch ein bisschen fliegen gelernt.