In den letzten Wochen hat in Bielefeld ein Disput um einen behinderten Schüler für Aufsehen gesorgt. Der Jugendliche leidet am so genannten Asperger-Syndrom. Nach Problemen mit einigen Mitschülern möchten deren Eltern nun verhindern, dass er weiterhin das Gymnasium besucht. Der Fall zeigt, wie schwierig es sein kann, Inklusion, also gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung, im Schulalltag zu verwirklichen. Aber darf man angesichts solcher Herausforderungen die Flinte ins Korn werfen?
Das Asperger-Syndrom ist eine Form von Autismus, die sich auf das Sozial- und Kommunikationsverhalten auswirken kann (vgl. die Definition in der Wikipedia). Auch der Schulleiter bestätigt, dass es zu Auseinandersetzungen mit Mitschülern gekommen sei. Doch ob der Junge an einer separaten Förderschule wirklich besser aufgehoben wäre, ist fraglich. Die Leistungen von Förderschülerinnen und -schülern entwickeln sich laut aktueller Studien (Wocken; Klemm / Preuß-Lausitz et al.)  ungünstiger, je länger sie auf der Förderschule sind. In Deutschland schafft nur ein Bruchteil der Förderschüler den Sprung zurück auf eine allgemeine Schule. Im Ergebnis erreichen am Ende der Pflichtschulzeit 77,2 Prozent der Förderschüler keinen Schulabschluss. Ihre Chancen auf Teilhabe am Berufsleben sind damit gering. Schlechte Aussichten für den Schüler aus Bielefeld also.
Kinder mit besonderem Förderbedarf, die im Gegensatz dazu gemeinsam mit Kindern ohne Förderbedarf den Unterricht besuchen, machen im Vergleich deutlich bessere Lern- und Entwicklungsfortschritte. Zudem profitieren auch die Kinder ohne Förderbedarf vom Gemeinsamen Unterricht, indem sie höhere soziale Kompetenzen entwickeln, während sich ihre fachbezogenen Schulleistungen nicht von den Leistungen der Schülerinnen und Schüler in anderen Klassen unterscheiden. Dies sollte den Eltern der Mitschüler des Jungen zumindest zu denken geben.
Ohnehin hat sich Deutschland mit der im März 2009 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, Inklusion zu verwirklichen. Einige Bundesländer haben schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt. Andere hingegen stehen noch am Anfang des Veränderungsprozesses: Von den Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf besuchen in Bremen 44,9 % den Gemeinsamen Unterricht, in Niedersachsen aber lediglich 4,7 %.
Dass die bisherige Praxis der Separation von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf einer transparenten Grundlage entbehrt, zeigt schon die Zuschreibung dieser Förderbedarfe, die sich merkwürdigerweise von Land zu Land ganz erheblich unterscheidet. In Rheinland-Pfalz haben zum Beispiel nur 4,4 % aller vollzeitschulpflichtigen Kinder und Jugendlichen einen ausgewiesenen Förderbedarf, in Mecklenburg-Vorpommern dagegen mehr als doppelt so viele (10,9 %). Ein gemeinsamer Unterricht aller Kinder an einer inklusiven Schule würde das Problem dieser willkürlichen Kategorisierung beheben und die Verwirklichung der UN-Konvention erheblich vorantreiben.
Anders sieht dies der Vorsitzende des Philologenverbandes, Malte Blümke, der eine recht eigenwillige Auslegung der UN-Vorgaben vertritt:

„Deutschland hat mit seinem differenzierten Schulsystem und seinen Förderschulen, die gezielt auf die Bedürfnisse von zum Beispiel geistig mehrfach behinderten Kindern eingehen können, bereits einen wesentlichen Schritt zur Umsetzung der UN-Konvention geleistet.“

Diese Interpretation halte ich für Augenwischerei. Zugegebenermaßen hat es in der bisherigen Umsetzung von Inklusion Rückschläge gegeben. Vor allem kann der Übergang zu einem inklusiven Schulsystem nicht per Erlass und auch nicht von heute auf morgen erfolgen. Aber die grobe Richtung ist klar.
Daher freue ich mich, dass der Schulleiter des Bielefelder Gymnasiums sich auch weiter für den Verbleib des Schülers an der Schule einsetzen will. Wichtig wird es sein, Eltern und Mitschüler – künftig auch im Vorfeld – über die besondere Situation zu informieren und gemeinsam den Umgang – z.B. durch besondere Verhaltensregeln in der Klasse – zu gestalten. Der Wandel muss alle Beteiligten – Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen – mitnehmen und ihnen gerecht werden. Ohne die nötigen Kompetenzen der Lehrkräfte, ohne ein passgenaues Unterstützungssystem an Schulen (z. B. in Form multiprofessioneller Teams mit Sonderpädagogen und Integrationshelfern) und ohne eine gemeinsame positive Haltung zu Inklusion wird sich die Umsetzung der UN-Konvention nur schwer erreichen lassen.
Dass Inklusion sehr gut gelingen kann, trotz vieler Herausforderungen im Schulalltag, zeigen zum Beispiel diese drei Schulen:
Erika-Mann-Grundschule in Berlin-Wedding
Integrierte Gesamtschule Linden in Hannover
Sophie-Scholl-Schule in Gießen