Am Rande der Jakob Muth-Preisverleihung für inklusive Schule in Berlin traf ich Wilfried Steinert, den ehemaligen Schulleiter der Waldhofschule Templin. Dort lernen mehr als 250 Kinder gemeinsam, ca. die Hälfte von ihnen ist körperlich oder geistig behindert. Das klappt so gut, dass die Schule in diesem Jahr mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden ist. Und mein Gespräch mit Herrn Steinert hat mich davon überzeugt, dass seine Ideen und seine Leidenschaft für Schule viel dazu beitragen können, eine neue Lernkultur in Deutschland zu etablieren.
Zunächst zur Waldhofschule Templin, die nicht den üblichen Weg von der Regelschule zur inklusiven Schule beschritten hat. Auf dem Waldhof der Stephanus-Stiftung gelegen, einer Einrichtung mit Wohn- und Bildungsstätten für behinderte Menschen, war sie fast 150 Jahre lang ausschließlich eine Förderschule für geistig und körperlich Behinderte. Dann, im Jahr 2003, beschloss sie, sich auch für Regelschüler zu öffnen.
Die besorgniserregenden Ergebnisse der PISA-Studie wollten Schulleiter Steinert und sein Kollegium ernst nehmen. Sie entwickelten ein Reformkonzept und orientierten sich dabei unter anderem an PISA-Sieger Finnland. Denn die dortigen Schulen hatten Wilfried Steinert inspiriert, wie er einmal in einem Interview beschrieb: „Da wird nicht ausgesondert, sondern die Schule wird für die Kinder gestaltet.“
Besonders beeindruckt war er damals von der finnischen Schulphilosophie, die einen inklusiven Anspruch formuliert: „Wir brauchen alle, keiner bleibt zurück, keiner wird beschämt“. Dieses Motto wird nun auch in Templin konsequent umgesetzt. Die Folge: Heute steht die Schule allen Kindern offen, unabhängig von besonderen Förderbedarfen, Neigungen, Schwierigkeiten oder Begabungen. Jedes Kind wird durch das Lehrerteam individuell gefördert. Bis zur fünften Klasse gibt es keine Noten und niemand bleibt sitzen.
Hier ein Video, das die Entwicklung der Schule dokumentiert:

Aber kann individuelle Förderung bei so vielen Unterschieden gelingen? Wirkt sich die Heterogenität nicht zu Lasten der leistungsstarken Schüler aus, und gehen schwächere Schüler nicht vielleicht unter?
Ich bin mir sicher, dass Wilfried Steinert mit seinen lebendigen Beispielen jeden vom Gegenteil überzeugen könnte. So schilderte er mir zum Beispiel die Mathestunde, in der seine Klasse anhand einer Tafel Schokolade das Bruchrechnen lernte – und einer der geistig behinderten Schüler das Prinzip als Erster durchschaute. Oder das Projekt in Erdkunde, bei dem der hochbegabte Schüler ein Modell zur Simulation von Erdbeben entwickelte, die praktische Umsetzung aber ohne das technische Know-How der Förderschüler aus seinem Team nicht möglich gewesen wäre. Und was letztlich passiert, wenn zwei Erdplatten unter Druck aneinander reiben, wird dank der eindrücklichen Präsentation des Modells so schnell kein Mitglied ihrer Klasse vergessen.
Natürlich war auch in Templin der Weg hin zur individuell fördernden, inklusiven Schule aufwendig. Die Schule hat davon profitiert, dass sie als ehemals reine Förderschule einen guten Betreuungsschlüssel und ausreichend sonderpädagogisch geschultes Personal bieten konnte. An der Waldhofschule sind die Klassen klein und es unterrichten immer zwei Lehrkräfte im Team. Die Räume wurden zum Teil neu zugeschnitten, um beispielsweise die Kooperation der Lehrer untereinander zu erleichtern – auch eine finanzielle Herausforderung. Doch Wilfried Steinert ist sich sicher, dass alle Schulen in Deutschland diesen Weg erfolgreich beschreiten können, ganz gleich, ob privat oder staatlich.
Es wird gern und oft gesagt, dass von der Vielfalt  im Klassenzimmer alle profitieren. Herr Steinert füllt diesen Satz mit Leben und mit konkreten, anschaulichen Beispielen. Das inspiriert. Und wenn er sagt, dass die Veränderungen an seiner Schule auch an jeder anderen Schule in Deutschland gelingen können, wirkt seine Überzeugung ansteckend.
Von Lea Weitekamp.