Eine sehr euphorische Rückschau auf das #echb11
Normalerweise haben Bildungsveranstaltungen eine ausgeklügelte Tagesordnung; es gibt Vorträge von „hochkarätigen Experten“, Workshops und Podiumsdiskussionen. Die Teilnehmer bekommen in der Regel ein mehr oder minder interessantes Menü an Themen vorgesetzt, ohne selbst ihre Expertise oder ihre Sichtweise einbringen zu können. Lisa Rosa bringt das wie folgt auf den Punkt:

„Das klassische Konferenzformat mit seinen Inputtern vs. Konsumenten entspricht der  Schule-Lehrer-Schüler-Formatierung bzw. dem Uni-Prof-Student-Format. Dabei wird oft genug ignoriert, dass die ‚Konsumenten‘ häufig selbst Fachleute sind. Verpasst wird dadurch fast immer die Gelegenheit, die vorhandene kollektive Intelligenz einzusammeln, wo doch so viele Praxis-Erfahrene und Theorie-Experten versammelt sind.“

Sessionplan und Mixxt-Matrix
Sessionplan und Mixxt-Matrix

Darum ist bei einem EduCamp alles anders: Es handelt sich um eine „Unkonferenz“, bei der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in vielerlei Hinsicht selbst aktiv werden können, z.B. indem sie gemeinsam die Tagesordnung (den „Sessionplan“) festlegen und über die Themen entscheiden, an denen sie weiter arbeiten möchten. Der große inhaltliche Rahmen: Formen und Methoden des (mediengestützten) Lehrens und Lernens. Oder, um noch einmal Lisa zu zitieren: Es geht bei einem EduCamp um den „organisierten Erfahrungsaustausch mit Menschen, die mit der Gestaltung von Lernprozessen beschäftigt sind.“
Das 7. EduCamp, das am vergangenen Wochenende in der Uni Bremen stattfand, war so eine typische Unkonferenz und in vieler Hinsicht bemerkenswert:
1. Der ideale Ort, um Lernräume zu gestalten
Round Table im Erdgeschoss GW2
Round Table im Erdgeschoss GW2

Die knapp 150 Teilnehmer aus unterschiedlichen Bundesländern hätten sich keine besseren Räumlichkeiten für ihren Erfahrungsaustausch wünschen können. Das EduCamp fand an der Uni Bremen in der Cafeteria des Gebäudes der Gesellschaftwissenschaften (GW2) statt. Genutzt wurden alle drei Ebenen des Gebäudes – die sich als sehr offen und einladend, dabei gleichzeitig extrem funktional erwiesen: Der verfügbare Raum auf der unteren und auf der oberen Ebene war in „Denkflächen“ für die Sessions aufgeteilt, die dann auch so verheißungsvolle Namen wie „Geistesblitz“, „Geniestreich“, „Gedankensprung“, „Wissensdurst“, „Eselsbrücke“ und „Hirnrinde“ trugen. Das bewegliche Mobiliar (Tische, Bänke, Stühle, Sofas) wurde so eingesetzt, dass es eine hierarchiefreie Kommunikation unterstützt (z. B. Round Table statt parlamentarischer Bestuhlung). Dadurch, dass die Sessions nicht in voneinander abgegrenzten Seminarräumen stattfanden, bekam man auch etwas von den anderen Gesprächsrunden mit; ein Wechsel zwischen den Sessions war jederzeit möglich.
2. Die perfekte Organisation, bis hin zum Rahmenprogramm
EduCamp-Unterlagen (Photo: Ralf Appelt)
EduCamp-Unterlagen (Photo: Ralf Appelt)

Gleich von Anfang an fühlte man sich als Besucher des EduCamps gut aufgehoben und einbezogen: Ein Empfangskomitee versorgte Neuankömmlinge mit den obligatorischen Accessoires, z. B. dem Namensschild, dem Programm-, Session- und Raumplan sowie dem EduCamp-Button. Thomas Bernhardt von der Uni Bremen machte als routinierter Gastgeber und Moderator eine sehr gute Figur, begrüßte viele persönlich und trug dazu bei, dass sich rasch eine wertschätzende Atmosphäre und ein Wir-Gefühl entwickeln konnte. Als Urgestein und Mitbegründer der EduCamp-Bewegung läutete er am Samstagmorgen auch die Eröffnungsrunde ein, bei der sich jeder Teilnehmer in aller Kürze mit drei Schlagworten selbst vorstellt und erläuterte für Erstbesucher noch einmal die wichtigsten Spielregeln eines EduCamps. Die Sessions waren danach Selbstläufer.
Auch für das Rahmenprogramm hatten sich Thomas und das Orga-Team richtig was
Thomas Bernhardt bei der Sessionplanung
Thomas Bernhardt bei der Sessionplanung

einfallen lassen. Erwähnenswert ist sicherlich der vorgeschaltete Medientag für Schulen und schulnahe Einrichtungen: Am Freitag wurden hier ab 14:00 Uhr interessante Medienprojekte von und für (Bremer) Schulen vorgestellt. Anschließend konnte man sich in der EduLounge schon ein bisschen auf das EduCamp einstimmen – und beim Google-Quiz mitmachen. Am Samstagabend gab es gar eine EduCamp-Party mit Twitterlesung und einem anschließenden Liveact, der Bremer Band „Avery Mile“. Ergänzend lässt sich noch festhalten, dass es im roten Salon sowie in der Foodcorner es ein wirklich üppiges Angebot an Speisen und Getränken gab, so dass für die gesamte Dauer der Veranstaltung für das leibliche Wohl gesorgt war.
3. Alles steht und fällt mit den Teilnehmern

„Was machte eine gute Tagung aus? Ist es ein gutes Programm mit tollen Keynotes? Oder sind es die Leute, die an einer Tagung teilnehmen? – Es sind die Teilnehmer, so sie ernst genommen werden und ihre Fähigkeiten einbringen können und nicht in die Konsumentenhaltung der Keynote-Zuhörer gezwungen werden.“ [Torsten Larbig]

Theoretisch kann jeder, der sich für das Thema Bildung bzw. Lernen interessiert, am EduCamp teilnehmen: Er – oder

Eröffnungsrunde (Photo: Ralf Appelt)
Eröffnungsrunde (Photo: Ralf Appelt)

sie – begibt sich dazu einfach auf die Internetseite der EduCamp-Community, meldet sich als Mitglied an und kann sich dort für ein oder mehrere anstehende Events anmelden. Inzwischen gibt es mehr als 1.100 registrierte Mitglieder in der Communtiy.
Faktisch trifft sich bei den EduCamps eine kleine Teilmenge dieser Community, je nach Veranstaltungsort und Einzugsgebiet meist zwischen 100 und 150 Teilnehmern, darunter ein harter Kern von Überzeugungstätern. Bei Jörans Session am Sonntag wurde genau diese Diskrepanz in den Blick genommen und die Frage gestellt, ob es sinnvoll ist, das „EduCamp in die Breite zu bringen“. Die Diskussion dazu verlief äußerst kontrovers – so gab es durchaus Befürworter der Öffnung („Wir brauchen neue Impulse, dürfen nicht selbstreferentiell werden“), aber auch Skeptiker, die lieber beim etablierten Personenkreis bleiben würden. Mein Eindruck: Jedes EduCamp unterliegt sowieso einer gewissen Fluktuation – es kommen neue Leute hinzu und bereichern die Diskussionen mit neuen Themen. Die Gefahr, dass zu viele Teilnehmer zu einem EduCamp kommen könnten und das Format dadurch gefährdet ist, sehe ich nicht.
Für das kommende EduCamp in Bielefeld (voraussichtlich Ende Oktober / Anfang November 2011) werden wir – noch stärker als in Bremen – versuchen, Lehrkräfte, Referendare, Studierende aus der Region auf das EduCamp aufmerksam zu machen. Insbesondere für Schulen soll es am Freitag vor dem EduCamp wieder ein besonderes Angebot geben, das weniger auf den Medieneinsatz in Schule und dafür stärker auf andere dringliche Fragestellungen ausgerichtet ist (z. B. Ganztag, innere Differenzierung, Umgang mit Heterogenität, Inklusion…). Das wurde für das #echb11 übrigens auch schon von einigen Teilnehmern gefordert, u.a. von @lutz.
4. Und was ist mit den Inhalten?
Direkt an die letzte Bemerkung anknüpfend: Ich fand es sehr beruhigend, dass es bei aller Technikeuphorie doch die pädagogischen Fragestellungen waren, die doch vielerorts deutlich im Vordergrund standen und zu lebendigen Diskussionen führten. Das zeigte sich z. B. deutlich bei der Session zum iPad im Klassenzimmer:

„[…] als es in der Session um die iPad-Klasse um die Frage des Verhältnisses von Technik zu Didaktik ging, wurde sehr schnell deutlich, wo es nach wie vor Diskussionsbedarf gibt, wo Lehrende selbst forschen, was geht und was nicht geht.“

Diese Aussage knüpft gewissermaßen an etwas an, was oberschlaue Medienpädagogen bereits vor gut 10 Jahren wussten:

„Erst wenn die Technologie keine Rolle mehr spielt, wenn wieder Inhalte und die soziale Form ihrer Aneignung die Diskussion bestimmen werden, erst dann können wir davon sprechen, dass Multimedia sich durchgesetzt hat.“ [Keil-Slawik / Selke, 1998].

Lehrer teilen Wissen im Web 2.0
Lehrer teilen Wissen im Web 2.0

Viele Sessions bewegten sich genau in diesem Spannungsfeld – z. B. auch die sehr lebhafte Diskussionsrunde mit Ruth Scheffler zum Thema „Alte Lehrer – neue Medien“. Und in gewisser Weise auch meine eigene Session zur Kooperation und Vernetzung von Lehrkräften im Web 2.0. Dort ging es um die Fragestellung, wie Lehrerinnen und Lehrer einer Schule oder auch schulübergreifend ihr Wissen teilen können, damit nicht überall das Rad neu erfunden werden muss.
Leider – und das ist die einzige kritische Anmerkung von mir – lag meine Session parallel zu zwei Sessions, die mich auch sehr interessiert hätten: eine von Torsten Larbig zu Aufgabenformaten in Zeiten von Internet, Wikipedia und Kompetenzorientierung, die andere von Lisa Rosa und Felix Schaumburg zum Leitmedienwechsel. Fraglich ist, ob man den Sessionplan diesbezüglich flexibler gestalten kann…
5. Der öffentliche Mensch – Medieneinsatz gehört dazu
Photo: Ralf Appelt
Photo: Ralf Appelt

Als EduCamper ist man eine öffentliche Person. Meine Einschätzung ist zumindest, dass es keinen Teilnehmer des Bremer EduCamps gibt, der nicht fotografiert, gefilmt oder sonstwie zitiert worden ist. Dieser verstärkte Medieneinsatz ist kein Selbstzweck. Er ist zum einen eine Art Parallelkommunikation zur tatsächlich stattfindenden Diskussion und dient damit der Orientierung. Zitat Torsten Larbig: „Dank starker Netzaktivitäten (Twitter) bekam man auch mit, was in anderen Sessions Thema war und konnte in Pausengesprächen mehr erfahren, wenn man es wollte.“ Zum anderen ist er auch (wertende) Meta-Kommunikation bzw. Kommentierung und Dokumentation des jeweiligen Events:

„Und was auf anderen Konferenzen nicht unbedingt gemocht wird, war hier selbstverständlich: Es wurde fotografiert, gefilmt, getwittert, die Veranstaltungen (Sessions) wurden parallel in Etherpads und auf anderen Wegen dokumentiert, wobei sich meist jemand in der Gruppe fand, der live mitschrieb – und meist blieb diese Person nicht allein.“ [Torsten Larbig]

Das Ergebnis ist, dass es von fast allen Sessions nur wenige Tage nach dem EduCamp bereits umfassende Dokumentationen gibt. Dank gebührt an dieser Stelle sicherlich auch Lutz Berger, der mit seiner Kamera diverse Diskussionen live ins Web gestreamt und viele Szenen fotografisch festgehalten hat.
Dieser Blogbeitrag ist jetzt bereits viel zu lang. Darum sei als Resümee und Fazit lediglich festgehalten, dass das EduCamp in Bremen in jeder Hinsicht ein voller Erfolg war und bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern noch lange nachhallen dürfte – als Unkonferenz der Begeisterten.