Dieser Beitrag wurde verfasst von: Christian Ebel und Stefanie Rother.

Der Begriff „individuelle Förderung“ ist in der einschlägigen Literatur allgegenwärtig – ob nun in der pädagogischen Fachliteratur, im Feuilleton großer Tageszeitungen oder in schulischen Ratgeber-Heften. Wissenschaftler und Bildungspolitiker sind sich einig: Individuelle Förderung muss zur tragenden Säule eines zeitgemäßen Schulwesens werden, in dem es zunehmend darum geht, faire Bildungschancen zu garantieren und gute Leistungen hervorzubringen. Doch wie sieht es in den Schulen aus? Wie aufgeschlossen stehen hier die handelnden Personen dem Thema individuelle Förderung gegenüber? Dieser und weiteren Fragen bin ich im Rahmen meiner Diplomarbeit nachgegangen.

Stuhlkreis an der GS Winterhude. © Veit Mette
Stuhlkreis an der GS Winterhude. © Veit Mette

„Bei 30 Schülern in der Klasse – da geht das nicht“, entgegnete mir vor gar nicht langer Zeit ein Schulleiter auf die Frage, an welchen Stellen er Unterstützungsbedarf bei der Umsetzung individueller Förderung im Schulalltag sieht. Wenn er die Forderung nach individueller Förderung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen schulischen Rahmenbedingungen betrachte, nenne er das gerne „pädagogisches Gewölk“.
Überfüllte Klassen, stark belastete Lehrkräfte – dieses Argument höre ich nicht zum ersten Mal. Die Klassengröße stellt in vielen Studien zur Lehrerarbeit und Lehrergesundheit einen starken, wenn nicht sogar den stärksten ermittelten Belastungsfaktor dar (so z. B. in der Freiburger Schulstudie von Prof. Joachim Bauer, 2004). Doch entgegen der Überzeugung vieler pädagogischer Akteure, dass große Klassen sich negativ auf den Lernerfolg auswirken und die Lehrtätigkeit erschweren, vertreten Bildungsforscher wie Jürgen Baumert und Wilfried Bos die Ansicht, dass Kinder keine besseren Schulleistungen erbringen, wenn sie in kleinen Klassen lernen. In der IGLU-Studie 2006 wird demgemäß  bekräftigt, dass ein Einfluss der Klassengröße auf die Schülerleistung nicht nachweisbar ist. Die Wissenschaftler West und Wößmann kommen vor dem Hintergrund der TIMSS-Datensätze zu einem ähnlichen Ergebnis. Erst ab einer Klassengröße von 60 sei ein negativer Effekt auf die Lernleistung zu beobachten.
Nach Meinung der GEW liegt bei den vorliegenden nationalen Studien jedoch ein eklatanter Rechenfehler vor – der Effekt der Klassengröße müsse vielmehr im Zusammenhang mit Unterrichtsprozessen untersucht werden und auch soziale sowie kulturelle Bedingungen berücksichtigen. Dies geschieht z. B. bei einer internationalen Studie, dem Tennessee Student Teacher Achievement Ration-Project STAR, mit dem nachgewiesen werden kann, dass sich zumindest in Grundschulen kleine Klassen langfristig positiv auswirken. Bei Schulen mit sozial benachteiligter Schülerschaft sind diese Auswirkungen laut Studie besonders stark ausgeprägt. Die GEW kommt zu der Schlussfolgerung, dass vor allem die Lerngruppen mit besonderen pädagogischen Herausforderungen weniger als 20 Teilnehmer haben sollten und personell sowie sächlich stärker unterstützt werden müssen.
Im Rahmen der Überlegungen zu einer inklusiven Schulentwicklung, bei der sich eine Schule im Sinne der Inklusion zu einer Schule für alle Schüler weiterentwickelt und jedem Schüler eine individuelle Entwicklungsbegleitung ermöglicht, erscheinen mir die Forderungen der GEW, der Lehrkräfte und der Schulleitungen nach kleineren Klassen mehr als angebracht. Neben der gemeinsamen inklusiven Haltung aller Beteiligten müssen neue Rahmenbedingungen geschaffen werden, um allen Schülerbedürfnissen gleichermaßen gerecht werden zu können. Hierzu gehören meines Erachtens auch kleinere Klassen von max. 18 Schülern (vgl. das Interview mit Wilfried Steinert hier im Blog). Kleine Klassen können die Schülerorientierung des Unterrichts begünstigen, die Beteiligung von Schülern stärken und nicht zuletzt auch das Wohlbefinden von Lehrkräften und Schülern positiv beeinflussen.
Die Betonung liegt wohl gemerkt auf dem kleinen, aber bedeutenden Wort „können“. Unabhängig davon, auf welche Studie man sich nun berufen mag, muss festgehalten werden, dass sich Leistungsniveau und pädagogische Prozesse nicht anhand einfacher, monokausaler Deutungen erklären lassen. Genauso wenig wie die Einführung von Bildungsstandards und der quantitative Ausbau von Ganztagsschulen automatisch die deutsche Bildungsmisere aufheben, dürfen kleine Klasse als pädagogisches Allheilmittel verstanden werden. Allerdings können Lehrkräfte die Chancen, die sich aus kleineren Klassen ergeben, nutzen und den Blick stärker auf den einzelnen Schüler richten.
Für die Schulen, in denen Schüler nach wie vor in großen Klassen von bis zu 35 Schülern lernen (und dies ist leider vielfach die traurige Realität), heißt es, sich kreativ zu zeigen und Wege zu finden, auch hier individuelle Förderung zu verwirklichen. Die Schule meines Interviewpartners, dem kritischen, aber auch sehr engagierte Schulleiter, möchte ich an dieser Stelle beispielhaft aufführen. Das Gymnasium aus NRW hat das „pädagogische Gewölk“ schrittweise vertrieben und mit viel Fantasie und Engagement eine neue Schulkultur geschaffen. Das große Kollegium machte sich gemeinsam auf den Weg in Richtung individuell fördernde Ganztagsschule und suchte nach Lösungen, um vor dem Hintergrund erschwerter Rahmenbedingungen ihre ambitionierten Ziele zu erreichen. Als Ergebnis des Prozesses können u.a. die Teamstrukturen im Kollegium genannt werden, die es heute ermöglichen, dass fast alle Klassen von zwei Lehrkräften gleichzeitig begleitet werden. Gemäß dem Motto „vier Augen sehen mehr als zwei“ legt die Schule den Schwerpunkt ihrer Arbeit nun auf die ganzheitliche Wahrnehmung ihrer Schüler. Nicht nur fachliche Leistungen, sondern die gesamte Schülerpersönlichkeit wird gesehen und gefördert – für eine einzelne Lehrkraft in einer Klasse von 30 Schülern erwies sich diese Aufgabe als fast undenkbar, so der Schulleiter.
Zweifelsohne setzen entsprechende Umstrukturierungen auf Seiten der Lehrkräfte Bereitschaft und Engagement voraus, denn bisherige Arbeitsweisen und -zeiten müssen hinterfragt werden und stehen zur Bewährung aus. Langfristig werden die Bemühungen dann, so hat es zumindest der Schulleiter erfahren, durch Arbeitsentlastung, eine Entschleunigung des Tagesablaufs und vor allem zufriedenere Schüler belohnt, die von Lehrern entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse wahrgenommen und unterstützt werden.
Es ist also möglich – individuelle Förderung ist auch in großen Klassen keine Utopie. Mittlerweile sind viele Konzepte, Methoden und Instrumente bekannt, wie man auf die schulischen Gegebenheiten reagieren kann (hierzu gehören z. B. auch die Methoden des kooperativen Lernens). Eine zentrale Voraussetzung für deren erfolgreiche Umsetzung liegt dabei im Selbstverständnis und der Einstellung der Lehrkräfte, sich als Lehrperson zurückzunehmen, ein Stück der Verantwortung an die Schüler abzugeben und sich als Lerncoach einzubringen. Wird die Klassengröße verkleinert – eine strukturelle Maßnahme, an der in der zukünftigen inklusiven Schule meines Erachtens kein Weg vorbei geht – müssen auch auf anderen Ebenen Prozesse in Gang gesetzt werden. Nur durch das Zusammenwirken aller Faktoren lassen sich die Bedingungen schaffen, die es den Schülern ermöglichen, ihre Kompetenzen auszubauen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln.
Stefanie Rother