Vielfalt im Klassenzimmer ist eigentlich nichts Neues. Denn jedes Kind ist anders. Doch noch nie war diese Heterogenität so offensichtlich wie heute: Vor allem in den Großstädten steigt die Zahl der Kinder aus Zuwandererfamilien, in ländlichen Gebieten müssen Schulen unterschiedlicher Art aus Schülermangel zusammengelegt werden, in bürgerlichen Gegenden schicken ohnehin fast alle Eltern ihre Kinder auf das Gymnasium, und immer mehr Kinder mit besonderem Förderbedarf gehen auf Regelschulen. Wie können Lehrkräfte mit den unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen, Interessen und Potentialen der Schülerinnen und Schüler, mit vielfältigen kulturellen und sprachlichen Hintergründen  konstruktiv umgehen? Ist die neue Vielfalt im Klassenzimmer gar die größte Herausforderung für die Schule der Zukunft?
Heterogenität ist in unserer Gesellschaft längst Realität: in Frankfurt, wo drei Viertel der Jüngsten Migrationshintergrund haben; in den Brennpunkten Berlins, wo 80 Prozent der Eltern Sozialleistungen beziehen, im teuren Westen Hamburgs, wo 70 Prozent und mehr der Schüler auf das Gymnasium gehen, das auf diese Weise zur Gesamtschule der Mittelschicht wird. Ob nun durch unterschiedliche Herkunft oder durch unterschiedliches Leistungsvermögen – die Unterschiede zwischen den Kindern in den Schulklassen werden immer größer. Das müssen wir akzeptieren, und darauf muss sich auch unser Bildungssystem einstellen. Keine vermeintlich homogene Klasse kann mehr im Gleichschritt einem frontal dozierenden Lehrer folgen, stattdessen muss Schule unterschiedliche Begabungen, Leistungsständen, Lernformen und Lerngeschwindigkeiten Rechnung tragen und starke wie schwache Schüler gleichermaßen fördern.

Abbildung aus der Publikation "Warum Lernen glücklich macht"
Abbildung aus der Publikation „Warum Lernen glücklich macht“

Der Schlüssel zu einem konstruktiven Umgang mit der wachsenden Heterogenität der Schüler liegt in einer „neuen Lernkultur“, die das einzelne Kind und seine persönlichen Lernvoraussetzungen und -prozesse in den Mittelpunkt rückt und stärker auf individualisiertes, eigenmotiviertes  Lernen ausgerichtet ist: Nur wenn Kinder sich selbst etwas erarbeiten und eigenverantwortlich lernen können, kann Schule auf ihre unterschiedlichen Wissensstände und Lerngeschwindigkeiten eingehen. Nur dann lässt sich Unterricht so individuell gestalten, dass die Besten sich nicht langweilen und die Schwächsten nicht überfordert sind. Nur so können die Schüler zusammen mit ihren Lehrern individuell zugeschnittene Wochenpläne erstellen und entsprechende Lernziele festlegen.Die Kinder lernen, die von ihnen gewählten Themen selbst zu recherchieren und zu erforschen und Experimente zu machen. Sie reflektieren ihren Leistungsstand und stellen sich selbst der Überprüfung. Entsprechend verändert sich auch die Rolle des Lehrers: Er ist nicht mehr nur Wissensvermittler, sondern vor allem Lernbegleiter.
Natürlich gibt es für eine solche Form des Unterrichts kein Patentrezept, wohl aber einige Erfolgsfaktoren und gut erprobte Instrumente: Schüler lernen zum Beispiel nur wirklich dann selbstständiger, wenn der Anteil an aktiver Lernzeit deutlich höher ist als heute allgemein üblich. Um die Lernprozesse individuell zu gestalten, helfen Ansätze wie kooperatives Lernen und Wochenplanarbeit oder Instrumente wie Kompetenzraster und Lernlogbücher. Aufgaben, die auf unterschiedlichen Niveaus bearbeitet werden können oder unterschiedliche Zugänge zu einem Thema erlauben, ermöglichen den Schülern, ihren jeweiligen Lernzielen von unterschiedlichen Lernständen und Interessen aus näher zu kommen.
Diese Beispiele zeigen, wie voraussetzungsreich ein Unterricht ist, der sich auf die Heterogenität der Lerngruppe einstellt. Der Anspruch, Kinder und Jugendliche individuell zu fördern, bedeutet eine grundlegende Veränderung der Schul- und Unterrichtskultur. Eine solche Umgestaltung kann weder von heute auf morgen noch gegen den Willen derjenigen erfolgen, die Schule und Unterricht maßgeblich ausmachen: die Lehrerinnen und Lehrer. Individuelle Förderung hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sich die ganze Schule und das ganze Kollegium auf diesen Weg begibt, wenn sie als eine Teamaufgabe begriffen wird und nicht von lauter „Einzelkämpfern“ bewältigt werden soll. Gleichzeitig muss der mit ihr verbundene Mehrwert herausgestellt werden: Lohnt es sich für mich als Lehrerin oder Lehrer, bestehende Routinen zu verändern? Ist der Umgang mit der Vielfalt im Klassenzimmer heute und in Zukunft die wichtigste Aufgabe als Pädagoge? Oder gibt es doch noch größere Herausforderungen im Lehrerjob, als  sich auf die Unterschiedlichkeit meiner Schülerinnen und Schüler einzustellen? Wir freuen uns auf kritisch-konstruktive Kommentare!

Zum Weiterlesen: Jörg Dräger: Dichter, Denker, Schulversager: Gute Schulen sind machbar – Wege aus der Bildungskrise – Mit einer politischen Gebrauchsanweisung von Klaus von Dohnanyi. Deutsche Verlagsanstalt, München 2011, S. 35, 84f.