Mehr Zustimmung als Skepsis zum Gemeinsamen Unterricht?

Faire Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen sind für die Teilhabe an der Gesellschaft und ihren Zusammenhalt von grundlegender Bedeutung. Darüber gibt es keinen Streit im Land. Spätestens aber an der Frage, WIE denn mehr Chancengerechtigkeit erreicht werden kann, scheiden sich die Geister. Bestes Beispiel dafür ist die gegenwärtige Debatte um das Thema Inklusion. Diese wird von einer Vielzahl gesellschaftlicher Akteure (Politiker aller Parteien, Gewerkschaften, Verbände…) häufig ideologisch aufgeladen und sehr kontrovers geführt. Und was ist mit denen, die es betrifft? Unlängst bin ich auf eine Studie von Marianne Horstkemper und Klaus-Jürgen Tillmann gestoßen, die endlich einmal die Perspektive der Eltern beleuchtet und die ich darum für erwähnenswert halte.
Wie Eltern zur integrativen Beschulung stehen
Im Rahmen der 2. JAKO-O Bildungsstudie wurden im vergangenen Jahr 3.000 Eltern (ca. zwei Drittel Mütter, ein Drittel Väter) eines schulpflichtigen Kindes durch TNS Emnid telefonisch zu Bildungsthemen, darunter auch Inklusion, befragt.
Elternbefragung 2012
Elternbefragung 2012

Das Ergebnis ist vielschichtig: Eltern stehen Konzepten, die das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern fördern, generell aufgeschlossen gegenüber. Neun von zehn Eltern (89%) befürworten bspw. ein gemeinsames Lernen mit körperlich beeinträchtigten Kindern. Und immerhin 72% sind dafür, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten im Klassenverband einer Regelschule unterrichtet werden. Im Falle von geistig behinderten bzw. verhaltensauffälligen Kindern ist das Stimmungsbild unter den Eltern jedoch geteilter: Nur noch knapp die Hälfte (46 %) der Befragten befürworten das Modell des gemeinsamen Lernens.
Insgesamt erwartet die Mehrheit der Eltern von einer inklusiven Beschulung positive Effekte. Als Vorteil des gemeinsamen Lernens sehen die Eltern bspw. positive Wirkungen für das Sozialverhalten (90%). Über 40 Prozent der Eltern äußern allerdings auch die Sorge, dass die Klasse in der Folge fachlich weniger schnell vorankommen könnte. Und 70 Prozent der Eltern vertreten gar die Meinung, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in separaten Förderschulen „besser gefördert“ werden als in der allgemeinen Regelschule.
Horstkemper und Tillmann finden es dennoch bemerkenswert, dass sich „die große Mehrheit der Eltern bei den ersten beiden Schülergruppen […] für eine integrative Beschulung ausspricht…“ und auch bei den beiden anderen Schülergruppen noch fast die Hälfte für den gemeinsamen Unterricht votiert. Bemerkenswert darum, weil diese Eltern selbst ihre Schulzeit in einem System verbracht haben, in dem „Sonderschulen“ für „Behinderte“ eine Selbstverständlichkeit waren. Und so gesehen kann man Autoren der Studie nur beipflichten, wenn sie zu dem Ergebnis kommen, dass sich das Meinungsbild der Eltern „erstaunlich deutlich vom Status Quo der gesonderten Beschulung absetzt.“ Denn dieser ist nach wie vor zementiert: Im Schuljahr 2011/2012 befanden sich in den Jahrgangsstufen 1 bis 10 insgesamt 487.718 Schüler mit besonderem Förderbedarf in Regel- und Förderschulen. Dies entspricht einem Anteil von 6,4 Prozent an allen Schülern im allgemeinbildenden Schulsystem. Angemerkt sei, dass die Zuschreibung von Förderbedarf nicht per se problematisch ist. Da allerdings immer noch Dreiviertel der Förderschüler in Deutschland nicht inklusiv beschult werden, erhöht sich dadurch für den betroffenen Schüler das Risiko, vom Regelschulbesuch ausgeschlossen zu werden und die Schule ohne Hauptschulabschluss zu verlassen. Faire Bildungschancen sehen anders aus…
Quellen:
Horstkemper, Marianne; Tillmann, Klaus-Jürgen: Wie stehen Eltern zur integrativen Beschulung? Ein empirischer Beitrag zur Inklusions-Debatte. In: DDS – Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis. Ausgabe Eltern und Schule. 104. Jahrgang, 4/2012, S. 347 ff.
KMK-Statistiken: Sonderpädagogische Förderung in allgemeinen Schulen 2011/12; Sonderpädagogische Förderung in Förderschulen 2011/12; Schüler, Klassen, Lehrer und Absolventen der Schulen 2002 bis 2011