Für die einen sind sie die Rettung der Hochschulbildung, für die anderen eine Gefahr: Online-Kurse ohne Zugangsbeschränkungen, englisch abgekürzt MOOCs. Auch in Deutschland experimentieren immer mehr Hochschulen mit neuen Formaten. Dabei zeigt sich: Digitales Lernen kann eine große Chance zur Demokratisierung von Bildung.

Eine Reportage aus dem aktuellen Change-Magazin “Bildung und Vielfalt”

text: Jens Poggenpohl ][ fotos: Enno Kapitza + Achim Multhaupt

change Magazin der Bertelsmann Stiftung: Digitales Lernen

 

Dass er in wenigen Jahren mit Menschen aus aller Welt Apollo 13 retten würde, konnte Jörn Loviscach nicht ahnen, als er im Frühjahr 2009 an der FH Bielefeld seine erste Vorlesung als Professor für Ingenieurmathematik und technische Informatik hielt. Einige Studenten beklagten Terminkonflikte mit anderen Vorlesungen, der Stundenplan ließ eigentlich keine Lücke. Gab es trotzdem einen Weg, ihnen den Stoff nahezubringen? Loviscach recherchierte einen Tag lang, dann kaufte er sich für 200 Euro einen gebrauchten Tablet-PC, richtete sich auf der Online-Plattform „YouTube“ einen Video-Kanal ein und begann seine Vorlesung aufzunehmen. „Begeisterungsstürme unter den Studenten habe ich dafür nicht geerntet“, erinnert sich Loviscach mit einem Schmunzeln. Umso euphorischer reagierte die Netzgemeinde. Und er antwortete mit immer mehr Videos. Um die 2.600 sind es bis heute, knapp 38.000 Menschen haben seinen Kanal abonniert, über 14 Millionen Mal wurden die Videos angeklickt.

Kein Wunder, dass 2012 die US-amerikanische Online-Akademie Udacity auf die „German Math Teaching Sensation“ aufmerksam wurde und Loviscach ein professionelleres Umfeld bot. Und hier war es auch, wo Loviscach in seinem Kurs „Differential equations in action: Making math matter“ komplizierte Formeln auf praxisnahe Weise erläuterte. Etwa, wie man mit ihrer Hilfe die Überfischung der Meere stoppen oder die Malaria bekämpfen könne. Oder eben ein Raumschiff retten.

Insbesondere in den USA glauben viele, dass man mit solchen Methoden auch die Hochschulbildung retten kann. Das Zauberwort lautet MOOC. Die Abkürzung steht für „Massive Open Online Course“, und was der Begriff verspricht, ist nicht weniger als eine Demokratisierung der Bildung: Jeder, von überall auf der Welt, soll, einfach indem er sich auf einer der einschlägigen Plattformen registriert, Zugriff auf einige der besten Hochschulangebote der Welt haben. Und das kostenlos – mindestens im ersten Schritt.

Eine Utopie aus dem technikoptimistischen Geist Kaliforniens, mag man denken, und tatsächlich waren zwei Institutionen aus und rund um das Silicon Valley am publikumswirksamen Durchbruch der MOOCs beteiligt. 2011 nämlich bot Sebastian Thrun, Professor an der Universität Stanford und Leiter der Forschungsabteilung von Google, einen Kurs über Künstliche Intelligenz als MOOC an. 160.000 Teilnehmer meldeten sich an – bald darauf gründete Thrun Udacity. Weitere Ivy-League-Universitäten zogen nach, die New York Times erkor 2012 zum „Year of the Mooc“, und ein Jahr später brachte „Die Zeit“ das Bildungsversprechen so auf den Punkt: „Harvard für alle Welt“.

„Wer hat, dem wird gegeben“

Quantitativ ist an dieser Behauptung durchaus etwas dran. Coursera, der weltweit größte MOOC-Anbieter, meldet mehr als neun Millionen eingetragene Studenten aus 190 Ländern, und jeder dritte Student in den USA soll schon einmal einen Online-Kurs belegt haben. Gleichzeitig aber ist der Hype einem differenzierteren Blick gerade auf die amerikanischen Verhältnisse gewichen. Denn die Kehrseite der Kostenlos-Kultur ist der horrende Schuldenberg in Höhe von mehr als einer Billion US-Dollar, zu dem sich die Studienkredite von US-Studenten auftürmen. Vor diesem Hintergrund erscheinen Online-Kurse weniger als Luxusgut denn als Notlösung. Zumindest eines können sie nicht ersetzen: den Zugang zu exklusiven Netzwerken – und gerade der ist es schließlich, der die horrenden Gebühren an den Eliteuniversitäten dennoch als lohnende Investition erscheinen lässt. Die wohl schwerwiegendste Kritik indes betrifft die behauptete Demokratisierung. Denn die Fälle indischer Computergenies, die nur mit Laptop und Internetanschluss Top-Abschlüsse erreichen, mögen publicitywirksam sein, die Mehrheit der Online-Absolventen jedoch stammt aus Kreisen, die materiell, finanziell und kulturell schon einen Zugang zu Bildung haben. Als Matthäus-Prinzip bezeichnet Jörn Loviscach das: „Wer hat, dem wird gegeben.“

Gleichwohl: Ein Zurück zum analogen Zeitalter wird es nicht geben. „Die Digitalisierung hat unser gesamtes Leben revolutioniert. Warum sollten ausgerechnet die Universitäten davon unberührt bleiben?“, hat Hannes Klöpper, Geschäftsführer des Berliner Start-ups Iversity, jüngst in der „FAS“ gefragt. Die daran anschließende Frage ist nur, wie sich technische Möglichkeiten am sinnvollsten einbinden lassen, wie Hans Pongratz, Geschäftsführender Vizepräsident IT-Systeme & Dienstleistungen der TU München, betont: „Digitale Lernangebote nehmen bereits heute einen wichtigen Stellenwert ein, vor allem das ‚Blended Learning‘, also die Kombination von Online- und Präsenzphasen. MOOCs sehen wir als spannende Ergänzung, digitale Visitenkarte und Lehrbuch der Zukunft – als neuer Kanal zu unseren Studierenden, aber auch, um neue Zielgruppen und neue Formate zu testen.“

Niedrige Abbrecherquoten

Goldene Zeiten für Experimentierfreude und Neugierige, sollte man meinen. Doch genau an den neuen Formaten hapert es derzeit noch. Stattdessen beschränken sich viele Online-Angebote auf abgefilmte Vorlesungen – ein Umstand, der Jörn Loviscach an die Frühzeit der Automobile erinnert, „die aussahen wie Postkutschen“. Doch auch in Deutschland gibt es andere, mutige Wege. Wie zeitgemäße MOOCs aussehen, zeigt zum Beispiel das Hasso-Plattner-Institut (HPI) aus Potsdam. Zu Wochenbeginn wird den Teilnehmern ein eigens produziertes Lehrvideo angeboten, das mit weiterführendem Lesestoff, interaktiven Selbsttests und Hausaufgaben ergänzt wird. Kombiniert sind die Angebote mit einer sozialen Diskussionsplattform, auf der sich die Teilnehmer mit den Kursbetreuern und anderen Teilnehmern austauschen, Fragen klären und weiterführende Themen diskutieren können. Im besten Fall schafft es jeder Vierte bis zum Zertifikat – für MOOCs ein enorm hoher Wert. Ab Herbst sollen auch Schüler kostenlos die Kulturtechnik des digitalen Zeitalters erlernen: das Programmieren.

Dass E-Learning-Tools keinesfalls eine Domäne von Nerds und IT-Freaks sein müssen, beweist die Leuphana Universität in Lüneburg. Ihre Digital School startete mit einem MOOC von Stararchitekt Daniel Libeskind. Im zweiten, jüngst beendeten Kurs hat Prof. Dr. Roman Trötschel die „Psychologie der Verhandlungsführung“ auf dem Feld von Gemeingütern zum Thema eines Online-Kurses gemacht. Die Teilnehmerzahl war auf 1.000 limitiert, Studenten aus über 80 Ländern schrieben sich ein. Ihnen wurde einiges geboten: „Online-Angebote müssen die Studenten fesseln, ihre Neugier fördern“, glaubt Trötschel, dementsprechend wurden zum Beispiel prominente Aktivisten als Gesprächspartner auf die Online-Plattform eingeladen oder Verhandlungen spielerisch simuliert.

Darüber hinaus setzen die Psychologen auf anfangs bewusst heterogen besetzte, interkulturelle Teams. „So entstehen die spannendsten Diskussionen, vor allem aber führen Kleingruppen zu einer stärkeren Bindung an den Online-Kurs, weil jeder Einzelne sich für das Team-Ergebnis verantwortlich fühlt“, weiß Trötschel, der dabei eher als Moderator gefragt ist. Angenehmer Nebeneffekt: „Anhand des Aufbaus des Online-Kurses mit Hilfe von Kleingruppen wird einem auch als Dozent bewusst, warum soziale Plattformen wie Facebook die Menschen so fesseln.“ Dass die Abbrecherquoten auch im Lüneburger Modell verhältnismäßig niedrig sind, ist nicht zuletzt auch der intensiven Betreuung zu verdanken. Hier übersetzt man das M in MOOC nicht mit „Massive“, sondern mit „Mentored“. Sieben Mentoren und sieben Tutoren haben die Teams begleitet. Trötschels Fazit: „Es war anstrengend, aber ich bin von den Kursergebnissen der Teilnehmer begeistert.“

Chance für Unternehmen

Nur logisch, dass die digitalen Möglichkeiten immer mehr für eine stärkere Individualisierung der Lehrangebote genutzt werden. Doch zeitgemäße Technik, individuelle Angebote und eine intensive Betreuung haben ihren Preis: Selbst ein einfacher Online-Kurs ist kaum unter 15.000 Euro zu realisieren, auch 50.000 Euro sind schnell ausgegeben. So eindrucksvoll die akademischen Leistungsschauen auch sind – welches Geschäftsmodell sich am Ende durchsetzen wird, ist völlig offen. Werden es anfangs offene Kurse sein, für die man nur zahlen muss, wenn man am Ende ein Zertifikat erlangen will? Dazu müsste gewährleistet sein, dass Online-Kurse als „echte“ Studienleistung zählen. Oder wird es das Prinzip iTunes sein – also Bildungshäppchen, die man als Ergänzung zum Studium dazubuchen kann? Und vor allem: Wer wird bereit sein, dafür zu zahlen?

Eine Antwort darauf lautet: Unternehmen. Jedenfalls in Deutschland ist zu beobachten, dass vor dem Hintergrund des demographischen Wandels vor allem die betriebliche Aus- und Weiterbildung durch die Digitalisierung einen zusätzlichen Schub erlebt. So verkauft die IMC AG in Saarbrücken, einer der großen kommerziellen E-Learning-Anbieter, auf Unternehmen zugeschnittene MOOCs und bietet in kostenlosen Kursen kostenpflichtige Zusatzangebote an: Wer etwa vom Referenten im Kurs Zeitmanagement überzeugt ist, kann ihn für ein individuelles Coaching buchen. Auch gesponserte Kurse finden sich im Angebot: „How to create a Windows 8 App“ ist für das Softwareunternehmen Microsoft Marketing mit Bildungsanstrich. „Zudem werden in Zukunft immer mehr Unternehmen selbst zu Bildungsanbietern“, prophezeit IMC-Vorstand Christian Wachter.

Und dann wäre da noch die Weiterbildung auf eigene Faust. Tatsächlich vergisst man beim auf die USA fixierten Blick leicht, dass in Deutschland schon vor 40 Jahren ein Konzept entwickelt wurde, das manche der Vorteile des heutigen digitalen Lernens analog schon vorwegnahm: die FernUniversität Hagen. Deren Studentenzahl hat sich im vergangenen Jahrzehnt auf fast 87.000 verdoppelt und die Einrichtung „an ihre Belastungsgrenze gebracht“, berichtet Pressesprecherin Susanne Bossemeyer. Entsprechend gelassen betrachtet man die neuen Anbieter. Aber auch das Studium an der FernUniversität hat sich „grundlegend verändert“. So gibt es zusätzlich zum Studienbrief die Lehrmaterialien auch auf den Lernplattformen der einzelnen Studiengänge. Zahlreiche Kommunikationskanäle – von Online-Services über Gruppenarbeitsräume bis hin zu virtuellen Cafés – sorgen ebenfalls dafür, dass „das eigentliche Studieren heute vielfach im Netz stattfindet“.

Schöne neue digitale Welt? Jörn Loviscach bleibt skeptisch. „Wir müssten nicht nur großartige Dinge bauen, sondern uns über den Sinn klar werden“, findet er. Und der Sinn, der stecke in der Antwort auf eine ganz einfache, ganz große Frage: „Was ist das: Bildung?“ Klingt wie der Titel eines MOOCs.