Überall auf der Welt steigt die Bildungsbeteiligung. Gebremst wird die zunehmende Akademisierung allerdings durch teilweise erhebliche Studienkosten und – insbesondere in den Schwellenländern – den eklatanten Mangel an Studienplätzen. Für beides kann Digitalisierung Linderung verschaffen. Es ist also kein Wunder, dass gerade in Ländern wie den USA einerseits und Brasilien oder Indien andererseits die Digitalisierung der Bildung am schnellsten voranschreitet. In Deutschland sind Hochschulen vergleichsweise günstig undleicht zugänglich: deswegen schläft die digitale Revolution hier noch, ihr Motor wird mittelfristig die immer größere Vielfalt der Studierenden sein.

2 Masse, Kosten und Vielfalt sind die größten Herausforderungen der Hochschulsysteme – und gleichzeitig die Treiber der Digitalisierung

Der aktuell sichtbarste Trend an den Hochschulen ist weltweit die Massifizierung und Demokratisierung der Bildung – immer mehr Menschen streben nach einem akademischen Abschluss. In den meisten Ländern außerhalb Europas ist ein Studium jedoch teuer: Schon heute zahlt man dafür in den USA bis zu 60.000 Dollar pro Jahr; amerikanische Absolventen sind derzeit mit über 1.200 Milliarden Dollar verschuldet. Günstige Online-Kurse werden für viele zur einzigen Option, in den Genuss akademischer Bildung zu kommen. In Schwellenländern wie Indien fehlt es hingegen in erheblichem Ausmaß an Studienplätzen. Wer in diesen Ländern nicht an die Uni gehen kann, nutzt Online-Angebote, um überhaupt Zugang zu höherer Bildung zu bekommen.

In Deutschland stehen wir an einem anderen Wendepunkt: Hochschulbildung ist zum Normalfall geworden, mehr als die Hälfte eines Jahrgangs studiert. Alleine in den letzten acht Jahren ist die Zahl der Studienanfänger um über 40% gewachsen. Wenn Studieren zum Normalfall wird, wird auch die Vielfalt an den Hochschulen zur Normalität. Egal ob minderjähriger „Frisch-Abiturient“, Handwerksmeister im Quereinstieg, berufstätige Erzieherin in der Weiterbildung, Teilzeit-Student mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Eltern – sie alle haben unterschiedliche Bedürfnisse und brauchen auf ihre individuelle Lebens- und Lernsituation zugeschnittene Studienbedingungen. Wir scheitern, wenn wir ihnen den gleichen Stoff, mit der gleichen Methode, zur gleichen Zeit, im gleichen Raum, vom gleichen Dozenten, im gleichen Tempo vermitteln. Unsere Herausforderung ist also weniger die Massifizierung als vielmehr die Personalisierung der Hochschullehre. Gerade zu Zeiten des Studentenbergs (der eigentlich ein noch weitere 30 Jahre anhaltendes Hochplateau ist) überfordert aber die Personalisierung die deutschen Hochschulen: Das Ideal einer individuell zugeschnitten Lehre bleibt auf der Strecke, die Hochschulen schaffen es nicht, mit der wachsenden Heterogenität umzugehen.

Mehr und vielfältigere Studierende bedeuten auch größere Kosten. Diesem wachsenden Finanzbedarf der Hochschulen steht die Überschuldung (und zukünftig die Schuldenbremse) vieler öffentlicher Haushalte entgegen. Dabei leiden – und diese ökonomische Besonderheit des Bildungssektors ist zentral zum Verständnis – die Hochschulen bis heute unter „Baumol‘s cost disease“: Während in anderen Branchen Automatisierung und Massenproduktion zu höherer Produktivität und höheren Löhnen geführt haben, ist das in der Bildung nicht der Fall. Seit Jahrhunderten sitzt ein Lehrer mit 30 Schülern im Klassenzimmer und ein Professor mit 30 Studenten im Seminarraum. Die Produktivität steigt nicht (in den Schulen ist sie bei immer kleineren Klassen sogar massiv gesunken), aber die Löhne und Kosten sind analog zu anderen Branchen gestiegen.

Die Herausforderung für Hochschulen besteht also darin, gleichzeitig sowohl ihre Produktivität als auch die Individualisierung ihrer Angebote zu verbessern. Ein Campus-Studium in Oxford mit einem Tutor für zwei Studenten wird auch künftig nur sehr wenigen Auserwählten vorbehalten bleiben. Die Frage ist, wie die Digitalisierung dazu beitragen kann, zu vertretbaren Kosten auch allen anderen personalisiertes Lernen zu ermöglichen. Das schaffen allerdings die digitalen Bildungsangebote von heute noch nicht.

Ein Impuls in neun Thesen (2)- von Jörg Dräger, Julius-David Friedrich und Ralph Müller-Eiselt