Auch wenn Zugang und Kosten, die stärksten Treiber der Digitalisierung, in Deutschland glücklicherweise kein akutes Problem sind: Für die Digitalisierung gibt es keinen Stopp-Knopf. Aber es gibt Chancen und Risiken. Deshalb müssen Politik und Hochschulen den richtigen Rahmen setzen: einerseits die „digitale Evolution“ fördern, damit nicht in anderen Teilen der Welt entwickelte digitale Bildungsprodukte und Anbieter dauerhaft den deutschen und europäischen Markt dominieren; und andererseits den Einzelnen vor der Kehrseite des gläsernen Lerners schützen.

Was also muss passieren, um die digitale Revolution an Europas Hochschulen aufzuwecken? Wie lassen sich die Chancen der Digitalisierung wirksam nutzen? Die gute Nachricht lautet: Den nötigen Marktplatz für einen digitalen europäischen Hochschulraum gibt es bereits. Er hört auf den Namen „Bologna“ und seine Währung heißt „ECTS“. Einst geschaffen, um die Mobilität der Studierenden innerhalb Europas zu befördern, ermöglicht dieser Rahmen nun die Mobilität der Bildung selbst. Das sogenannte European Credit Transfer and Accumulation System erlaubt den Vergleich und die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen in ganz Europa. Damit ist (anders als in den USA) die größte Hürde für die Anrechnung von MOOCs und anderen Online-Kursen auf reguläre Studiengänge bereits genommen. Diesen strukturellen Vorteil muss Europa nutzen. Voraussetzung dafür sind gute Inhalte. Nur wenn gemeinsam in digitale Plattformen und attraktive Angebote investiert wird, hat Europa eine Chance, sich dauerhaft gegen die starken US-amerikanischen Hochschulmarken zu behaupten. Für nationalstaatliche Einzellösungen ist Europa zu klein. „Bologna Digital“ ist eine große Herausforderung, aber eine noch größere Chance, aus dieser oft kritisierten Reform endlich eine Erfolgsgeschichte zu machen.

Doch noch bestehen hierzulande eine Vielzahl institutioneller Barrieren, die verhindern, dass die Digitalisierung Dynamik entfaltet: Online-Lehre ist häufig nicht auf das Lehrdeputat anrechenbar; so fehlen Anreize für Lehrende, Zeit in die Entwicklung guter digitaler Lehrangebote zu investieren. Die Kapazitätsverordnung muss dahingehend verändert werden, dass Hochschulen keine Gerichtsverfahren befürchten müssen, wenn sie ihre Lehreffizienz durch Online-Angebote steigern. Das Akkreditierungswesen sollte offener für digitale Module werden. Auch das Urheberrecht muss an das digitale Zeitalter angepasst werden, um Hochschulen und Lehrenden größere Spielräume, vor allem aber Rechtssicherheit zu bieten. Und nicht zuletzt brauchen wir mehr Unternehmergeist und Venture Capital im deutschen Bildungsmarkt.

Wir müssen aber auch den Einzelnen in dieser neuen Welt schützen. Denn wer die Chancen individuell zugeschnittener und kostengünstiger Bildung nutzen will, muss sich gläsern machen. Nur wer seine Lerndaten preisgibt, kann von Algorithmen erfolgreich durch den Lernprozess geführt werden. Aus den Daten lässt sich aber alles ableiten: die computerisierte Analyse des E-Mail-Austausches von Studenten über eine Vorlesung erlaubt eine erstaunlich sichere Prognose über ihre Abschlussnote; aus einem halbstündigen Lernspiel schließen globale Konzerne wie Shell auf die Karrierechancen neuer Mitarbeiter. Wer sich noch den persönlichen Tutor leisten kann, bleibt verborgen; für den Rest lagern die Daten in der Cloud. Es ist wie in anderen Branchen auch: Persönliche Vorzüge im Tausch gegen persönliche Daten. So wie eine Autoversicherung Rabatt für den Zugriff auf die GPS-Bewegungsdaten des Autos gewährt, dann aber jeden Geschwindigkeitsverstoß bemerkt. Alles ist irgendwo im Netz gespeichert, von der nicht verstandenen Matheaufgabe bis zum individuellen Tastenanschlag, nichts ist mehr verborgen. Es braucht deshalb flexiblere datenschutzrechtliche Standards, die die Nutzung von Learning Analytics nicht kategorisch ausschließen, aber gleichermaßen das legitime Interesse des Einzelnen an der Souveränität über die persönlichen Daten berücksichtigen.

Ein Impuls in neun Thesen (9)- von Jörg Dräger, Julius-David Friedrich und Ralph Müller-Eiselt