An der New Yorker David A. Boody Schule revolutioniert das Projekt New Classrooms seit drei Jahren zusammen mit den Lehrern und dem Schulleiter den Mathematikunterricht: Sie haben Schulbücher weggeworfen und das jahrhundertealte Lehrer-Schüler-Modell entstaubt. Experten haben aus 80 000 Lerneinheiten 10 000 herausgefiltert, neu aufbereitet und digitalisiert. Jeder neue Stoff, wie zum Beispiel den Flächeninhalt eines Parallelogramms zu berechnen, kann jetzt auf verschiedene Arten gelehrt werden: Live-Unterricht, Gruppenarbeit mit anderen Kindern, Online-Tutor oder vielleicht lieber ein Video? Mit einem sogenannten „exit slip“, einer kurzen Onlineprüfung, die alle Schuler täglich am Ende des Unterrichts ablegt, checkt das System, wer noch üben muss oder wer den Stoff schon verstanden hat und bereit ist für eine neue Lektion. So ermittelt ein Zentralcomputer in Manhattan jeden Nachmittag den passenden Lernplan für den nächsten Tag. Jeder Schüler erfährt individuell, an welchen Themen er noch weiter arbeiten muss und welches die beste Lernmethode für ihn ist.

Bevor der Mathematikunterricht an der David A. Boody Schule auf jeden Schüler persönlich zugeschnitten wurde, lag die Leistung der Sechstklässler knapp unter dem Durchschnitt vergleichbarer Schulen in New York City. Als dieselben Kinder die achte Jahrgangsstufe absolvierten, waren ihre Prüfungsergebnisse bereits elf Prozent besser als der Durchschnitt. Inzwischen lernen die Schüler von New Classrooms sogar beinahe eineinhalbmal so viel pro Jahr wie das nationale Mittel.

So beeindruckend die Geschichte von New Classrooms und der David A. Boody Schule ist: Eigentlich geschieht dort nur das, was jeder gute Lehrer, Professor oder Trainer macht, wenn die Lerngruppe klein genug ist. Sie personalisieren das Lernen. Der wesentliche Unterschied: Das gelingt hier nicht nur für eine Handvoll Schüler, sondern für hunderte gleichzeitig – dank der Lernvideos, Lernprogramme und Computeralgorithmen. Digitalisierung – und das ist der entscheidende Punkt – versöhnt das bisher Unversöhnliche: den Bildungszugang für alle mit dem auf jeden individuell abgestimmten Curriculum. Damit kann sie den Gegensatz von Masse und Klasse aufheben. Anders als bislang gibt es Bildung nicht mehr nur für wenige persönlich zugeschnitten oder für viele als standardisierte Einheitslösung.

Noch sitzen die Bildungsmaßschneider von heute fast ausschließlich in Oxford und Stanford oder in exklusiven Privatschulen. Deren kleine Lerngruppen und individuelle Betreuung sind aber nur wenigen zugänglich, man braucht überragendes Talent oder reiche Eltern.

In Zukunft wird man auch jenseits von Elite-Institutionen besser auf individuelle Ansprüche eingehen können. Intelligente Software richtet sich nach Tempo, Lernstil und Fähigkeiten des Einzelnen, führt ihn zu individuell passenden Aufgaben. Die Lektionen werden in kleine Module aufgebrochen, die Algorithmen für jeden Schüler zu einem persönlichen Lernweg kombinieren. Sie entwerfen für jeden ein eigenes Lernprogramm entsprechend Kompetenzen, Interessen und Lernstil, lösen sich vom Standardlehrbuch, empfehlen passende Materialien. Sie haben immer ein Auge auf den Fortschritt des Einzelnen, helfen früh, wenn etwas nicht verstanden wird, erkennen Langeweile ebenso wie Überforderung und reagieren darauf. Alle kommen ans Ziel, die Wege und die Geschwindigkeit sind zwar unterschiedlich, aber niemand wird mehr überfordert oder gelangweilt.

Solche Ansätze waren lange Zeit auf die Mathematik beschränkt, da es die Software in diesem Fach besonders leicht hat, Richtig und Falsch zu unterscheiden. Aber auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, der Informatik oder in Fremdsprachen und Rechtschreibung wächst das Angebot. Es stehen immer mehr Lernmaterialien digital zur Verfügung, und Computer sind zunehmend in der Lage, auch komplexere Aufgaben zu bewerten; sie korrigieren Texte, erkennen logische Zusammenhänge und geben kontinuierliches Feedback zum Lernfortschritt. Die Lehre passt sich dem Lernenden an, nicht mehr der Lernende der Lehre. Die Bedürfnisse des Einzelnen rücken so viel stärker in den Mittelpunkt als beim klassischen Unterricht.

Sehr guten Schulen und sehr guten Lehrern gelingt individuelle Förderung auch in der analogen Welt. Leider sind sehr gute Schulen und sehr gute Lehrer selten. Und selbst für sie ist es extrem aufwendig, sich mit derselben Aufmerksamkeit um jeden einzelnen Schüler zu kümmern. Die Digitalisierung gibt allen Beteiligten mehr Zeit für das Wesentliche – ein Allheilmittel aber ist sie nicht. Natürlich können siebenminütige Lernvideos keine Persönlichkeitsbildung ersetzen und Computertechnik nicht die Bindung zwischen Lehrer und Schüler. Was sie jedoch können, ist, Freiräume genau dafür zu schaffen.