In einer aktuellen Studie für die Bertelsmann Stiftung zeigen Klaus Klemm und Dirk Zorn, wie stark sich zeitliche und personelle Rahmenbedingungen an gebundenen Ganztagsschulen unterscheiden. Der verstörende Befund: Ob ein Kind vom Ganztag profitieren kann, hängt stark von Bundesland und Schulform ab. Das erklärt auch, warum bisherige Studien zur Wirkung von Ganztagsschule aufs Lernen so wenig Resultate gezeigt haben.
Ganztagsschulen bieten Potenzial für mehr Chancengerechtigkeit und eine bessere Leistungsfähigkeit des Schulsystems. Davon sind inzwischen Schulpolitiker über alle unterschiedlichen Lager hinweg überzeugt. Vor zwei Wochen machte sich allerdings unter Ganztagsschulanhängern wieder einmal Ernüchterung breit, als das Konsortium der StEG-Ganztagsschulforscher die jüngste Forschungsbilanz der letzten Jahre präsentierte. „Ganztagsschulen machen Schüler netter, aber nicht besser“. Auf diese Formel brachte der Bildungsjournalist Armin Himmelrath die Ergebnisse in einem Beitrag für Spiegel Online. Ganztagsschüler profitieren in ihren Sozialkompetenzen, zeigen aber keine besseren Kompetenzen als Schüler, die eine Halbtagsschule besuchen. In einem Kommentar lieferte Himmelrath auch gleich eine mögliche Begründung für das Ausbleiben von positiven Wirkungen auf Schülerleistungen. Man müsse das „föderale Kuddelmuddel in der Schulpolitik“ bedenken. Für die StEG-Studie gelte: „Offene und gebundene Ganztagsschulen, Einrichtungen mit umfassendem Konzept und solche, die Ganztagsschule wider Willen sind, weil sie sonst ihren Stundenplan nicht unterbringen können, werden hier gleichermaßen untersucht.“

Nicht überall, wo „Ganztag“ draufsteht, ist auch „Ganztag“ drin

Tatsächlich hat sich in den letzten 15 Jahren eine komplexe und schwer durchschaubare Ganztagsschullandschaft entwickelt, die je nach Bundesland, Schulform und Schulstufe in Terminologie, Angebotsumfang und pädagogischer Praxis stark divergiert. Grund dafür war vor allem, dass Qualitätskriterien beim Ausbau keine große Rolle spielten. Dabei ist es für die Frage, ob Ganztagsschulen ihr Potenzial ausschöpfen können, von entscheidender Bedeutung, wie viel zusätzliche Lernzeit über den Unterricht hinaus zur Verfügung steht und wie es um die Ausstattung mit pädagogischem Personal bestellt ist, das diese zusätzlichen Lerngelegenheiten mit Leben füllen soll. Dies unterstrich auch der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft VBE, Udo Beckmann, in seiner Stellungnahme zu den StEG-Ergebnissen. So sei es laut Beckmann „notwendig, evaluierbare Mindeststandards für die personelle, sächliche und räumliche Ausstattung, die inhaltliche und zeitliche Ausgestaltung sowie die Anforderung an die Qualifikation von Lehr- und Fachkräften festzusetzen.“
Die gerade veröffentlichte Studie von Klaus Klemm und mir ist die erste systematische Analyse der zeitlichen und personellen Rahmenbedingungen, unter denen Ganztagsschulen ihre Arbeit in den einzelnen Bundesländern verrichten. Unser Interesse gilt dabei der Ganztagsschule in gebundener Form—hier lernen Schülerinnen und Schüler über den gesamten Tag verbindlich und gemeinsam, was erweiterte Chancen z. B. für eine Strukturierung des Tages in Phasen der An- und Entspannung birgt.
Das zentrale Ergebnis unserer Untersuchung: Trotz einheitlicher Kategorisierung durch die Kultusministerkonferenz als „gebundene Ganztagsschulen“ weisen die Schulen im Ländervergleich ein erstaunliches Spektrum an unterschiedlichen Voraussetzungen auf, wenn es um Ausmaß erstens an zusätzlicher Lernzeit, zweitens an zusätzlichem pädagogischem Personal und drittens um die Kongruenz von Lernzeit und Personalausstattung geht. Von gleichwertigen Lernchancen im Ganztag kann angesichts dieser drei empirischen Befunde nicht die Rede sein.

Besonders wichtig sind ausreichend Lernzeit und pädagogisch qualifiziertes Personal
Besonders wichtig sind ausreichend Lernzeit und pädagogisch qualifiziertes Personal

In vielen Ländern bleibt kaum Zeit für zusätzliche individuelle Förderung

Das „Mehr an Zeit“ an der Ganztagsschule ist eine zentrale notwendige Bedingung für gelingende individuelle Förderung über den Unterricht hinaus. Unser erster Befund: Diese zusätzliche Lernzeit ist abhängig von Schulstufe und Bundesland. Die Lernzeit sinkt zunächst mit dem Wechsel zur weiterführenden Schule: Während die zusätzliche Lernzeit an Grundschulen mit verpflichtendem Ganztagsbetrieb durchschnittlich knapp 14 Stunden pro Woche beträgt, umfasst sie an weiterführenden Schulen nur acht Stunden. Auch zwischen den Bundesländern sind die Unterschiede groß. In den Grundschulen reicht die zusätzliche Lernzeit von acht (Thüringen, Sachsen und Nordrhein-Westfalen) bis 22 Stunden (Hessen) pro Woche. In der Sekundarstufe I bieten Ganztagsschulen in Hessen mit 16 Stunden die meiste zusätzliche Lernzeit. Mit lediglich rund vier Stunden bieten Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen am wenigsten zusätzliche Lernzeit. Verteilt auf drei Wochentage und das Mittagessen einschließend bleibt so kaum Zeit für individuelle Förderung.

Die Personalausstattung durchs Land ist oft unzureichend

Zweiter Befund: Was die Ausstattung mit qualifiziertem Personal (neben Lehrkräften auch Erzieher und Sozialpädagogen) angeht, um die zusätzliche Lernzeit im Ganztag pädagogisch sinnvoll nutzen zu können, gibt es beträchtliche Variationen zwischen Schulformen und Bundesländern. Grundschulklassen erhalten im Schnitt von den Ländern zusätzliches Personal für elf Wochenstunden, an weiterführenden Schulen sind es nur fünf Wochenstunden. Auch hier ist die Spannweite zwischen den Bundesländern groß: Sie reicht bei Ganztagsgrundschulen von drei (Bremen) bis zu knapp 26 zusätzlichen Wochenstunden in Berlin. In der Sekundarstufe I reicht die Spanne von knapp einer bis anderthalb Wochenstunden (Bremen, Sachsen, Thüringen) bis zu zehn zusätzlichen Wochenstunden (Berlin, Rheinland-Pfalz, Saarland). Die Länder sind also in unterschiedlichem Maße bereit, Landesmittel in eine gute Ausstattung ihrer Ganztagsschulen zu investieren. In Euro ausgedrückt sieht das wie folgt aus: Eine Grundschulklasse erhält pro Jahr von Landesseite im Mittel zusätzliches Personal für den Ganztag im Wert von 22.000 Euro. Bundesweit liegt die Bandbreite zwischen lediglich 9.000 Euro in Bremen und 36.000 Euro im Saarland. In gebundene Ganztagsklassen der Sekundarstufe I investieren die Länder durchschnittlich 15.000 Euro. Hier reicht die Spannweite von 1.300 Euro in Sachsen bis knapp 37.000 Euro in Rheinland-Pfalz bei Gymnasien und von 2.000 Euro (wiederum Sachsen) bis 31.000 Euro (Saarland) bei den nicht gymnasialen Schulformen.
Der dritte Befund der Studie: Zusätzliche Lernzeit und Personalausstattung sind in vielen Bundesländern nicht systematisch aufeinander abgestimmt; viel Lernzeit bedeutet nicht automatisch auch, dass das jeweilige Land auch ausreichend Personal bereitstellt. Zwar deckt das vom Land gestellte zusätzliche Personal bei gebundenen Grundschulen im Schnitt 84 Prozent der zusätzlichen Lernzeit ab, aber zwischen den Ländern gibt es große Unterschiede: Die geringste Abdeckung im Ländervergleich liegt bei 22 Prozent (Bremen und Hessen), die höchste in Thüringen. In der Sekundarstufe I liegt die durchschnittliche Abdeckung bei 69 Prozent (Gymnasien) bzw. 67 Prozent (nicht gymnasiale Schulformen). Auch hier gibt es große Länderunterschiede: Die geringste Abdeckung von 20 Prozent findet sich an Thüringer Gymnasien und mit 22 Prozent bei den nicht gymnasialen Schulen der Sekundarstufe I in Bremen. Sachsen-Anhalt verfügt über die höchste Abdeckung bei den weiterführenden Schulen, allerdings bei sehr wenig zusätzlicher Lernzeit.

Guter Ganztag braucht ausreichend Lernzeit und pädagogisch qualifiziertes Personal

Um das Potenzial für eine gelingende individuelle Förderung aller Schüler in der Ganztagsschule zu realisieren, ist aber ein gutes Verhältnis zwischen ausreichend zusätzlicher Lernzeit und einer dazu passenden Personalausstattung erforderlich. Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass solche Bedingungen in allen Stufen gebundener Ganztagsschulen lediglich in Berlin und dem Saarland gegeben sind. In der Sekundarstufe I bietet außerdem Rheinland-Pfalz ähnlich gute Rahmenbedingungen.
Wie genau ausreichende zusätzliche Lernzeiten zu bemessen sind und welches zusätzliche Personal in der Ganztagsschule für eine gelingende individuelle Förderung aller Schüler erforderlich ist, sollte länderübergreifend festgelegt werden, am besten als Ergebnis einer breiten pädagogischen Qualitätsdebatte, die auf einer systematischen Auswertung der bisherigen Erfahrungen zahlreicher Beispiele guter Ganztagsschulen fußt. Dazu werden wir gemeinsam mit anderen Stiftungen im nächsten Jahr einen Beitrag leisten. Gleichzeitig brauchen wir im Ganztagsschulbereich eine Schulwirkungsforschung, die auch systematische Unterschiede in Rahmenbedingungen und Ressourcen in den Blick nimmt und ausweisen darf. Ohne eine bundesweite Verständigung über Qualitätsstandards für Ganztagsschulen mit den entsprechenden zeitlichen und personellen Rahmenbedingungen bleiben gleichwertige Lernchancen für alle Kinder weiter auf der Strecke.
Hintergrundinfos zur Studie
In der Studie „Die landesseitige Ausstattung gebundener Ganztagsschulen mit personellen Ressourcen – Ein Bundesländervergleich“ haben Klaus Klemm und Dirk Zorn für die Bertelsmann Stiftung die unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben der Länder zum zeitlichen Umfang und zur personellen Ausstattung am Beispiel gebundener Ganztagsschulen analysiert und erstmals miteinander vergleichbar gemacht. Sie beruht in Teilen auf einer Dokumentation einschlägiger Erlasse und Verordnungen, die Nils Berkemeyer im Auftrag der Bertelsmann Stiftung Ende 2015 mit Unterstützung der zuständigen Referate in den Kultusministerien der Länder erstellt hat. Da die Zuweisungsmodalitäten für zusätzliches Personal zwischen den Bundesländern stark divergieren, handelt es sich bei der vergleichenden Analyse eine Abschätzung. Diese beruht teilweise auf Annahmen und Modellrechnungen, die im Anhang zur Studie ausführlich dokumentiert sind.
Hier finden Sie die Studie zum Download und weitere Infos …