Die kollektive Sorge um die Lernerfolge von Schüler:innen während der Corona-Pandemie seit 2020 in Deutschland ist groß, besonders wenn es um Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Umfeldern geht. Auch Jörg Dräger fordert in seinem Blogbeitrag „Abstellgleis Corona – Lernen-Schule-Bildung im 21. Jahrhundert“ pragmatische Angebote und kreative Lösungen zur individuellen Unterstützung von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern. Nachdem die üblichen Lernstandserhebungen (VERA) in den Ländern pandemiebedingt abgesagt wurden, werden nun vorgezogene bundesweite Lernstandserhebungen diskutiert, die zur Entwicklung passgenauer Unterstützungsangebote dienen können, u. a. auf dem Deutschen Schulportal. Dabei ist vorab wichtig zu klären, welche Größen für die Messung des Lernstandes geeignet sind.

Von der Wahl der Messgröße fürs Lernen hängt ab, ob der Blick auf die spezifischen Bedürfnisse des Kindes gelenkt wird oder auf eine auf Vergleich und Selektion ausgelegte Norm. So basiert die neu erschienene ifo-Studie „Auch im zweiten Lockdown lernen Kinder weniger“ auf der Annahme, dass Anwesenheit in der Schule gleichzusetzen sei mit aktiver Lernzeit. Wie Ramseger bereits in seiner Kritik zur ifo-Vorläuferstudie aus der Ersten Pandemiewelle ausgeführt hat, wird dabei vergessen, „dass Lernerfolg nicht nur zeit-, sondern vor allem auch motivationsabhängig ist. Wenn aber 74 % der Kinder und Jugendlichen daheim 4 Stunden konzentriert „gelernt“ hätten, hätten sie vermutlich oft mehr gelernt als in sechs Stunden schulischem Präsenzunterricht mit all seinen Ablenkungsmöglichkeiten“. Analog ist auch ein Erwachsener, der 10 Stunden im Büro sitzt, nicht automatisch ein produktiver Arbeiter, tweetet Patricia Drewes vom Institut für zeitgemäße Prüfungskultur.

Paralleluniversum ohne Corona

Wenn wir herausfinden wollen, was ein Kind während des Distanzlernens tatsächlich gelernt hat und Lernzeit nicht mit Präsenzzeit gleichsetzen, dann sollten wir es an seiner eigenen erwarteten Entwicklungskurve messen. Wir können uns ein Paralleluniversum ohne Corona vorstellen und fragen: Ausgehend von dem, was ich über dieses Kind weiß, welche Lernfortschritte hätte es durch den Schulbesuch wahrscheinlich gemacht?

Vor diesem Hintergrund stellen sich zwei Fragen:

Zum Ersten: Im Vergleich zu dem Paralleluniversum ohne Corona – wo steht das Kind jetzt in seinen schulischen Kompetenzen? Da, wo wir es erwartet hätten? Weiter zurück, als im Paralleluniversum erwartbar gewesen wäre? Oder auch weiter vorne?

Und zum Zweiten: Hat das Kind möglicherweise Kompetenzen erworben, die es im Rahmen eines regulären Schulbesuches nicht erworben hätte? Das können jenseits des oben schon erwähnten unerwarteten Fortschritts durchaus auch überfachliche oder gänzliche andere Kompetenzen sein – von Organisationsfähigkeit über Resilienz bis hin zum Erlernen anderer Fähigkeiten – etwa Musikinstrumente, Rollenspiele, Kochen oder Backen, Haushaltsführung, kreatives Schreiben, Malen, Bauen, in diversen analogen und digitalen Formaten und Settings.

Daraus ergibt sich: wenn wir sicherstellen wollen, dass Kinder und Jugendliche gut weiter lernen können, was kann und muss nun getan werden, um das zu ermöglichen?

Entsprechend muss der Lern- und Entwicklungsstand jedes Kindes im Vordergrund stehen – sowohl, um verpasste Lerngelegenheiten aufzuholen, als auch um erworbene Kompetenzen auszubauen. Das umfasst sowohl die genannten Kompetenzen als auch den physischen und psychischen Gesundheitszustand des Kindes. Diesen Entwicklungsstand gilt es zu kennen und für die Planung von Lerngelegenheiten zu nutzen – wie auch in Teilen schon 2010 von der KMK in ihrer Konzeption zur Nutzung der Bildungsstandards beschrieben, jedoch noch mit geringer Umsetzung in der Schulpraxis. Anstatt weiter kostbare Lernzeit darauf zu verwenden, Schule im Gleichschritt zu betreiben, sollten wir individuelles Lernen ernst nehmen. Das bedeutet, die Planung von Lerngelegenheiten an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen auszurichten. Wie kann das praktisch umgesetzt werden?

Individuelle Lernpläne für alle

Viele der Gewinner des Jakob-Muth-Preises machen es schon seit Jahren vor: Sie erstellen individuelle Lernpläne für alle ihre Schüler:innen. Auch traditioneller ausgerichtete Schulen können nun nach den langen Phasen des Distanzlernens die folgenden drei Schritte gehen, um die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen dort abzuholen, wo sie gerade stehen.

Instrumente für eine Lern- und Entwicklungsstandserhebung wählen:

Mit Hilfe geeigneter, nicht zu komplexer Instrumente, wird bei ALLEN Kindern eine umfassende Lernstandserhebung durchgeführt. Als Orientierung oder Basis können existente Instrumente dienen, zum Beispiel die Kompetenzstufenmodelle der Länder, Einschulungstests/ -instrumente (z.B. Hexe Mirola), Hamburger Schreibprobe, VERA-Testinstrumente (Jahrgang 3 und 8), PISA-Testinstrumente, ausgewählte Aufgabenbereiche bei Anton oder andere digitale Tools. Neben der fachlichen Einschätzung sollten sich Schulen auch ein Bild von der psychosozialen Gesundheit verschaffen, zum Beispiel durch Gespräche und Interaktionen zwischen Kind und schulischen Bezugspersonen.

Erhebung durchführen und Ergebnisse festhalten:

Jedes Schulkind, gegebenenfalls auch Vorschulkinder, wird von vertrauten Personen (Klassenleitung, Erzieher:innen) im vertrauten Umfeld mit den entsprechenden Instrumenten getestet, um einen ungefähren Lern- und Entwicklungsstand zu erheben. Die Ergebnisse werden festgehalten und dem ganzen Kollegium für die weitere Planung zugänglich gemacht. Statt einer deklarierten Testsituation ist auch Testen/ Erheben durch Beobachtungen und über einen längeren Zeitraum denkbar.

Ziele setzen und Lernplanung erstellen:

Die Testergebnisse dienen als Grundlage für die weitere Lernplanung. So können die Lehrkräfte mit Unterstützung schulinterner Sonderpädagog:innen oder regionaler Beratungszentren eine passgenaue Förder- und Forderplanung für jedes Kind erstellen, die es in der Weiterarbeit dort unterstützt, wo es das braucht. Statt eines Gießkannenprinzips oder einer allgemeinen Zuschreibung könnten entsprechend Ressourcen zielgerichtet eingesetzt werden. Stellt sich etwa heraus, dass ein Kind während des Distanzlernens das Lesen verlernt hat, während ein anderes aus derselben Lerngruppe aber gerade darin große Fortschritte gemacht hat, so wäre im „Normalfall“ die Wahrscheinlichkeit groß, dass das eine Kind einem auf Gleichschritt oder Stoffvermittlung ausgerichteten Unterricht nicht mehr mitkommt, während sich das andere Kind langweilt. Anstatt in der Gruppe gesamthaft „im Stoff“ voranzugehen, könnten beide Kinder mit entsprechendem Material und Aufgaben individualisiert begleitet werden.

Profitieren vom individualisierten Lernen würden alle Kinder, die nicht dem imaginären „Durchschnittsschüler“ entsprechen – an beiden Enden des Leistungsspektrums. Zum einen führen individualisierte Lernpläne zur Entstigmatisierung von besonderem Förderbedarf, da nun endlich alle Kinder besondere Förderung erfahren. Zum anderen leistet ein Angebot, das auf die Bedürfnisse der Lernenden abgestimmt ist, auch der Unterforderung besonders leistungsstarker Schüler:innen Vorschub. In der Summe könnte in solchen individuellen Lernplänen eine Basis gelegt werden, sich von (vermeintlich) homogenen Lerngruppen und dem „Durchnehmen“ von Stoff zu Gunsten echter Lernfortschritte zu lösen.

Foto: Gelungenes individuelles Lernen an der Schule an der Burgweide in Hamburg, Jakob Muth-Preisträger 2019. Ulfert Engelkes