Frühjahr/ Sommer 2021. Seit über einem Jahr ist der Schulbetrieb von Corona geprägt. Der Wechselunterricht wird mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens bis zum kommenden Schuljahr anhalten. Da Schule so, wie sie mal war, also ohnehin nicht mehr funktioniert, könnte das Chaos auch als Gelegenheit zum Ausprobieren genutzt werden – ganz ohne Erwartungsdruck, denn in einer Pandemie ist Perfektion noch unrealistischer als sonst. Neue Konzepte, die es sich auszuprobieren lohnt, sind aus der pädagogischen Literatur teilweise seit Jahrzehnten bekannt: Projektlernen, handlungsorientiertes Lernen, fächerübergreifendes Lernen, Universal Design for Learning um nur einige Beispiele zu nennen. Bloß sind sie in vielen Schulen noch immer nicht in der Praxis angekommen. Gleichzeitig haben alte Unterrichtsformate, in Videokonferenzen gepresst, für die meisten Schüler:innen wenig Begeisterungspotenzial. Unterdessen richtet die kürzliche Verleihung des Deutschen Schulpreises den Blick auf hervorragende Lehr-Lern-Konzepte. Was viele der großartigen Schulen, die sich beworben haben, eint, ist die Sicht auf Schule als Lebensraum für alle ihre Mitglieder – oder um es mit dem Motto einer der diesjährigen Preisträgerschulen IGS Lengede zu sagen: „Gemeinsam leben kann man nur gemeinsam lernen“.

Eine Möglichkeit, die Schulentwicklung hin zum gemeinsamen Leben und Lernen durch Fragen voranzubringen, wird im Index für Inklusion (Booth & Ainscow, 2019), beschrieben. So können Schulen beginnen, ihr Schulleben und -Lernen bewusst zu gestalten, indem sie sich fragen: „Wie wollen wir zusammenleben?“ und „was müssen wir wissen und können, um gut zusammenleben zu können?“. Wir wollen hier exemplarisch die Konsequenzen aus diesen Fragen für den Schulalltag greifbar machen und betrachten im Folgenden zwei imaginäre Lernsituationen am Lerngegenstand Kartoffel. Dieselben Voraussetzungen gelten: Anna (10) hat wegen eines akuten Asthmaanfalls schlecht geschlafen und ist daher heute nicht fit. Wegen des Asthmas fehlt sie auch öfter mehrere Tage. Cem (9) begreift Zusammenhänge schneller als die meisten Mitschüler:innen und langweilt sich daher oft im Unterricht. Momo (10) ist erst seit Kurzem in Deutschland und spricht daher besser Arabisch als Deutsch.

Die Kartoffel – eine traditionelle Lernsituation

In einer herkömmlichen Lernsituation würde das Thema Kartoffel im Sachkunde- oder Biologieunterricht durchgenommen. Als ein Zeitblock von 45 oder 60 Minuten in einem Tag, umgeben vielleicht von einem Mathezeitblock vorher, in dem das Bruchrechnen geübt wird und einem Englischzeitblock hinterher, in dem es um die konsequente Anwendung von „he, she, it – das „s“ muss mit“ geht. Bezug zwischen den Lerninhalten des Tages besteht keiner, denn jede Lehrkraft ist nur für ihren eigenen Unterricht zuständig. Die Anschaulichkeit des Unterrichts soll gewährleistet werden, daher lässt die Lehrkraft zu Beginn der Stunde eine Kartoffel von Hand zu Hand gehen. Wenn gerade Distanzunterricht ist, müssen sich die Kinder mit einer in die Kamera gehaltenen Kartoffel zufriedengeben. Das Vorwissen der Schüler:innen wird in einem Einstieg aktiviert – wir besprechen „Was wissen wir über Kartoffeln?“, live oder per Videokonferenz. Nach diesem Aufhänger geht es ans Arbeiten. Die Teile der Kartoffelpflanze werden vorgestellt, vielleicht in einem Text oder im Lernvideo. Dann geht es an die Arbeitsblätter, vielleicht gibt es sie sogar nach Niveaus differenziert. Arbeitsaufträge: Lies den Text. Ordne die Begriffe zu. Zum Schluss werden zur Ergebnissicherung die Antworten gemeinsam verglichen.

Wie haben die Beteiligten den Unterricht erlebt? Bei allem guten Willen zur Mitarbeit hat Anna von der Stunde nur den Anfang mitbekommen, als sie den anderen Kindern von den leckeren Kartoffeln erzählen darf, die zu Hause gekocht werden. Den Rest der Stunde döst sie vor sich hin; richtig viel weiß sie hinterher nicht über die Kartoffel. Cem versteht nicht, warum er die Teile der Kartoffelpflanze auswendig lernen soll. Er findet sein Steckenpferd Erfindungen viel spannender und liest in der Zwischenzeit lieber unterm Tisch seinen Graphic Novel über Thomas Eddison. Die Pflanzenteile wird er dann halt am Abend vor der Klassenarbeit schnell pauken. Momo arbeitet mit, soweit sein Verständnis der deutschen Sprache es zulässt. Es fällt ihm aber schwer, sich die vielen neuen Wörter zu merken, die als Vokabeln in den Schulfächern auf ihn einprasseln. So richtig klar ist niemandem, warum dieses Thema gerade behandelt wird. Man kann sich vorstellen, dass die Schüler:innen in der folgenden Woche oder im Monat darauf von dieser durchaus durchschnittlichen Stunde nicht mehr viel erinnern werden.

Die Kartoffel  – ein Lernprojekt

In der Schule als Lebensraum kann das Thema Kartoffel als Praxisprojekt gemeinsam in Teams entwickelt werden – sowohl Lehrkräfte als auch Schüler:innen sind beteiligt und entscheiden gemeinsam, was und wie sie lernen wollen. Da eine Kartoffel ihre circa 90 Tage braucht, ehe sie erntereif ist, wird das Projekt langfristig und fächerübergreifend ausgelegt. Ziel ist, gemeinsam Kartoffeln anzubauen, die dann zu verschiedenen Zwecken verwendet werden. Je nach (Corona-)gegebenheiten geschieht das Anbauen im Schulbeet oder zuhause in einem Kartoffelsack. Das Material dafür kriegen die Kinder von der Schule. Ideen für Projektaktivitäten gibt es viele: klimaschonendes Upcycling von T-Shirts und Taschen durch Kartoffelstempeldruck (Sachkunde, Kunst), herausfinden, ob die eigenen Großeltern als Kinder wohl auch so viele Kartoffeln gegessen haben wie wir (Geschichte und Geografie), Kartoffelgratin oder jüdische Latkes backen und dabei natürlich die Mengenangaben korrekt anpassen (Französisch, Religion, Mathe), Kartoffelbatterien bauen (Physik), statt Eierlauf eine Kartoffellauf-Challenge online durchführen (Sport, Medienbildung), … Aus einem großen Portfolio entscheiden die Lerngruppen und die Kinder selbst, was für sie interessant und was praktikabel ist, auch jahrgangsübergreifend. Da im Projekt viele Aufgaben für unterschiedliche Lernniveaus zur Auswahl stehen, im Team als auch einzeln, kann jedes Kind sein Lernen selbst mitgestalten und in der Zone seiner nächsten Entwicklung lernen.

In einer Schule, die sich als Lebensraum versteht, fühlt Anna sich frei, ihrer Lehrperson mitzuteilen, dass es ihr nicht gut geht. Sie darf erstmal ein Nickerchen halten. Dadurch hat sie zwar am Ende ähnlich wenig von dieser Stunde mitbekommen, kann aber mit neu gewonnenen Kräften in den Rest des Tages starten. Auch, dass sie in den Wochen immer mal wieder wegen ihrer Krankheit nicht in die Schule kommen konnte, macht nichts. Weil das Projekt über viele Wochen geht, konnte sie immer wieder an das Thema anknüpfen. Vieles konnte sie auch von zuhause aus machen und durch den langen Zeitraum gab es reichlich Gelegenheit, das Thema von allen Seiten zu beleuchten. Durch die eigene Beteiligung an der Projektplanung fällt es Cem leichter, den Lerninhalten Bedeutung zuzuschreiben. Wenn er mit den Aufgaben, die er sich vorgenommen hat, schneller fertig ist als gedacht, kann er weitere eigene Fragestellungen einbringen oder in einem anderen Team mitmachen. Er macht sich außerdem selbstständig zu Erfindungen zur Kartoffel schlau – zum Beispiel wie man Kartoffelstärke herstellt und was man damit alles machen kann. Momo kann sich durch die Verknüpfung von Sprache mit Handlungen die neuen Wörter besser einprägen. Er fühlt sich am Ende des Schultages weniger erschlagen von der neuen Sprachumgebung – die Worte, die er lernt, stehen im Zusammenhang mit dem, was er tut und erfährt.

Das Kartoffelprojekt wird von den Schüler:innen auf vielfältige Weise dokumentiert, etwa in Portfolios, Videos, Rezeptbüchern, Modekollektionen, Tiktok-Challenges und Blogs. Diese fortlaufende Dokumentation ermöglicht den Lehrkräften, schon während des Lernprozesses Feedback zu geben, das wiederum in die Projektgestaltung einfließt, anstatt erst am Ende des Themas Leistungen in einer Klassenarbeit zu messen. Dabei werden die Projektideen werden festgehalten und in der schulischen Materialsammlung abgelegt, so dass nicht nächstes Jahr andere Kolleg:innen das Rad neu erfinden müssen.

Anna, Cem, Momo und andere Kinder lernen nachhaltiger in einer Schulumgebung, die sich bewusst als Lebensraum für alle Kinder gestaltet. Das darf kein Privileg weniger Kinder sein, die das Glück haben, eine Preisträgerschule zu besuchen. Vielmehr kann jede Schule sich auf den Weg machen, indem sie beginnt, ihren Status Quo zu hinterfragen und gemeinsam eine Vision zu entwickeln. Die Fragen des Index für Inklusion können dabei ein nützliches Werkzeug im Schulentwicklungsprozess hin zum handlungsorientierten Lernen für alle Kinder sein. Langfristige Veränderungen in den Team- und Kommunikationsstrukturen und in der Organisation von Raum und Zeit geschehen nicht von heute auf morgen, und es gibt keine Patentrezepte. Aber es gibt viele Ideen, es gibt viele Freiräume, die noch genutzt werden können – und so ist das Durcheinanderwirbeln von Altbekanntem als Einladung zum Träumen zu verstehen, wie wir in Schulen besser zusammenleben können, kurz- und langfristig. Und als Einladung zum ersten Schritt auf dieser Reise, die Schule als Lebensraum für viele Kinder Wirklichkeit werden zu lassen.